Kapitel 5
Poppys größter Wunsch als Jugendliche war es gewesen, auch einen Busen zu haben. So wie Rosalyn, die bereits einen B-Cup-BH trug, seit sie zehn war, während Poppy weiterhin aussah wie ein Kind.
»Oeufs sur le plat «, erklärte Rosalyn. »So heißt das auf Französisch.«
Poppy strich sich mit den Fingern über die flache Brust. Eier auf dem Teller.
Sie kamen von der Schule und liefen über die Brücke zum Marktplatz, wo der Schlossberg mit seinen alten Ruinen schon lange Schatten warf. Dann scharf links hinunter zum Fluss, ihr gemeinsamer Heimweg. Hier neben der alten Brücke lag der reizvollste Teil des River Rhiw. In schäumenden Kaskaden stürzte das Wasser von oben herab in ein großes Sammelbecken, in dem Kinder problemlos schwimmen konnten.
Es herrschte reges Treiben. Die Sommersonne ließ das Wasser unter den Felsen gleißen. Überall plantschten und kreischten Kinder in Badeanzügen, Shorts oder Unterhosen.
Der große Dai Edwards vom Dorfladen winkte Poppy zu. »Komm spielen!«
Poppy winkte lachend zurück und wandte sich zu Rosalyn um. »Badest du mit?«
Rosie schüttelte den Kopf. »Ich hab keinen Badeanzug.«
Poppy wollte schon erwidern, dass sie doch in der Unterhose gehen könnte, als ihr klar wurde, dass das für Rosie nicht mehr angemessen war. Was kein Problem für Poppy mit dem flachbrüstigen Kinderkörper war, war für die hochgewachsene, kurvenreiche Rosalyn definitiv eins.
Poppy ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und warf die Kleider von sich. Zwei Mädchen in der Nähe musterten sie verstohlen. Poppy wollte nicht lauschen, aber ihr Walisisch drang klar herüber. ›Warum spielt sie nur mit dieser englischen Sau?‹ So lautete noch die höflichste Übersetzung, die Poppy einfiel.
»Kannst du denn allein nach Hause?«, fragte Poppy ihre Freundin laut, um die beiden zu übertönen. »Lässt dein Dad dich ganz allein gehen? «
Rosalyn sah ihr in die Augen und lächelte. »So viel Walisisch verstehe ich schon noch.«
»Oh.«
»Mach dir keinen Kopf. Ich weiß ganz gut, dass die Welshies mich nicht leiden können.«
Poppy runzelte die Stirn. Sie fühlte sich unwohl, weil die anderen so über Rosie sprachen, aber dass Rosie »Welshies« sagte, gefiel ihr auch nicht.
»Keine Ahnung, warum die so sind«, murmelte Poppy. »Beachte sie gar nicht.«
»Dad sagt, das liegt daran, dass wir das große Haus gekauft haben. Sie finden, jemand aus Wales sollte dort wohnen.
»Warum?«
Rosie zuckte die Achseln.
»Aber daran bist du doch nicht schuld! Du hast dir das Haus ja nicht ausgesucht!«
Rosie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ist schon okay. Du und deine Mum seid nett zu mir, und nur das ist wichtig. Bis morgen!« Lässig warf sie sich ihre Schultasche über die Schulter und schlenderte davon.
Trotz der heißen Sonne war das Wasser kalt, und Poppy hüpfte bibbernd im seichten Uferbereich auf und ab. Als ein Stein direkt vor ihr ins Wasser klatschte und sie über und über bespritzte, schrie sie auf. »Du …« Sie warf Dai, der oben stand und lachte, einen vernichtenden Blick zu.
»Pass auf, sonst rutscht dir noch etwas Ungehöriges heraus, Poppy Jenkins!«
Sie tauchte ihre Hand tief ins Wasser und schöpfte einen großen Schwall mit viel Kraftanstrengung nach oben. Das hohe Kreischen und zugleich tiefe Ächzen von Dais Stimme, die auf der Schwelle zur Männlichkeit hörbar brach, war süße Rache für sie.
»Das ist verdammt eiskalt!«, rief Dai. Sofort griff er nach einem noch größeren Stein und ließ ihn ins Wasser fallen. Ein dichter Wasserschleier durchnässte Poppy vom Kopf bis zu den Knöcheln. Sie prustete und spuckte und rieb sich die Augen. Gerade als sie zu einer weiteren Tirade ansetzen wollte, bemerkte sie eine Bewegung am Flussufer.
Alan Watkins, ein dicklicher Junge aus ihrer Klasse, näherte sich mit ungewohnter Geschwindigkeit. Er hatte ihre Anziehsachen gefunden und watschelte mit heraushängender Zunge auf sie zu.
»He!«, schrie Poppy, den Mund noch immer voller Wasser. »Was soll das? «
Alan sammelte die Kleidungsstücke und ihre Tasche auf und grinste sie höhnisch an. Dann krabbelte er unbeholfen das Ufer herauf, wobei er stolperte. Poppys Sachen fielen in den Schmutz. Außer Atem und mit rotem Gesicht drehte er sich zu ihr um. »Die schmeiß ich von der Brücke, wenn ich von dir nicht etwas kriege.«
»Was soll das heißen? Ich hab doch gar nichts.« Poppy fühlte sich hilflos und ausgeliefert.
»Einen Kuss hinter den Büschen.«
Die beiden Mädchen in der Nähe kicherten.
Poppy zitterte vor Kälte und Ekel. »Gib mir meine Sachen zurück, Alan!«
»Erst knutschen!«, forderte er und verzog das Gesicht zu einer lüsternen Grimasse.
»Ey, Watkins!«, mischte sich Dai ein. »Hör auf damit, das ist nicht lustig!«
Alan tat, als hätte er Dai nicht gehört. »Komm schon, ein Kuss und du kriegst die Tasche zurück. Mit Zunge und du kriegst deine Klamotten.«
Poppy schlang die Arme um ihren dünnen Körper; sie zitterte und hatte überall Gänsehaut.
»Rück die Sachen raus, Watkins!«, brüllte Dai und watete durchs Wasser auf ihn zu.
»Verpiss dich, Dai.« Alan versuchte sich an einem draufgängerischen Ton, wich aber gleichzeitig nervös zurück.
»Rück sie raus, oder du fliegst selbst von der Brücke!« Niemand hätte angezweifelt, dass Dai das tatsächlich tun würde.
Panisch flackerte Alans Blick von Poppy zu Dai, der gerade im Begriff war, ans Ufer zu steigen. »Du siehst deine Sachen nie wieder, Poppy, wenn der Blödmann mir zu nahekommt.« Doch ein Blick auf Dai genügte, und Alan ergriff kreischend die Flucht.
Dai rutschte auf bloßen nassen Füßen aus, und Alan konnte seinen Vorsprung zum Dorf vergrößern. Das Bündel mit Poppys Sachen hatte er fest an die Brust gepresst.
»Den kriege ich, Poppy, keine Sorge!« Und schon war auch Dai verschwunden.
Poppy setzte sich auf einen großen Stein am Ufer und zog die Knie an die Brust. Sie konnte die beiden Mädchen hinter sich noch immer kichern hören, und die Jungs im Fluss warfen ihr neugierige Blicke zu .
Vom Kirchturm her schlug es fünf, und die Kinder machten sich langsam auf den Weg nach Hause zum Abendessen. Poppy schaute starr aufs funkelnde Wasser, damit sie niemanden ansehen musste. Sie wappnete sich innerlich für einen sehr unangenehmen und demütigenden Heimweg.
»Hier sind deine Sachen, Poppy.«
Poppy blinzelte ins Gegenlicht. Vor ihr stand Rosalyn, umgeben von einem goldenen Kranz aus Abendsonnenschein. Poppy erschien sie in diesem Moment gigantisch.
»Oh – danke!« Poppy zitterte noch immer, aber eher aus Widerwillen gegen das mit Alan Watkins Erlebte als vor Kälte. Rasch zwängte sie sich in ihre Kleidung. »Hat Dai sie geholt?«
»Nein, der ist mir nicht begegnet. Ich …« Sie grinste stolz. »Ich habe sie gefunden.«
Poppy schüttelte sich, ihr war noch immer unwohl. »Ich will nach Hause. Begleitest du mich?«
»Na klar.« Rosalyn lächelte und streckte ihre Hand aus, um Poppy aufzuhelfen.
Den ganzen Heimweg über ließ Rosie Poppys Hand nicht mehr los, dabei summten beide The Love Cats und schwangen die Arme im Takt. Die Hecken wuchsen in diesem Hochsommer turmhoch. An beiden Wegesrändern formte der Bärenklau Tunnel aus weißen Blütenmeeren, sodass es unmöglich war, um die nächste Wegbiegung zu sehen.
Dennoch hätte Poppy schwören können, dass sie einen Po gesehen hatte. Ein rundes weißes Hinterteil erschien einen Moment lang in ihrem Blickfeld und wackelte dann außer Sicht in die Büsche.
»Hast du das gesehen?«
Rosie wandte sich um. »Hm?«
»Ich dachte, da wäre …« Die dichte Wand aus Vegetation stand ungerührt und reglos. »Na, egal …«
Rosie begann wieder zu summen und ermunterte Poppy mit einem sanften Stups. Misstrauisch sah Poppy sich um. Dann, als sie gerade die nächste Flussbiegung erreichten, wurde sie mit dem Anblick von Alan Watkins’ nackten Schultern und verschrecktem Gesicht zwischen den Bärenklau-Büschen belohnt. Er schaute reichlich belämmert drein .
»Rosie, warte mal!« Aufgeregt zupfte sie Rosalyn am Ärmel, aber als diese sich umdrehte, war das Gesicht schon wieder verschwunden. »Ich hätte schwören können, dass Alan Watkins da nackt in den Büschen hockt.«
Rosalyn sah sich um. Dann schaute sie Poppy mit einem zufriedenen Lächeln in die Augen. »Wirklich? Wie merkwürdig!« Und festen Schrittes setzte sie ihren Weg fort.
Bei der Erinnerung daran, wie Rosalyn damals ihre Kleidung und ihre Würde gerettet hatte, musste Poppy lachen. Sie ging jetzt auf demselben Weg nach Hause, den sie an diesem und an vielen weiteren Tagen Hand in Hand mit Rosalyn Thorn entlanggeschlendert war. Sie konnte noch heute ihre Finger spüren, die sich an ihre eigenen geschmiegt hatten, immer enger und immer länger. Sie vermisste ihre Freundin. Und wie sie sie vermisste! Die leere Stelle in Poppys Innerem klaffte schmerzlich auf.
Sie hatte Rosalyn eigentlich lange erfolgreich aus ihren Gedanken verbannt. Nun aber kamen die Erinnerungen mit Macht zurück. Fast jeder Ort hatte irgendeinen Bezug zu ihrer Freundschaft. Beinahe jeder Anblick, jeder Duft und jedes Geräusch riefen lebhafte innere Bilder hervor. Das Café, die Schule, ihr Zuhause, Rhiw Hall – überall war Rosalyn auf einmal wieder zu spüren.
Jeder Uferabschnitt gehörte zu einer besonderen Erinnerung mit Rosalyn: als sie sich einmal vor Nain versteckt hatten, nachdem ihnen die Küchenhandtücher am Herd verkohlt waren; als sie mit neun nackt schwimmen gegangen waren und winzige Fische an ihren Zehen geknabbert hatten; als sie sich im Dunkeln neben einem kleinen Lagerfeuer zusammengekuschelt hatten und Rosalyns Körper ihr mehr Wärme gespendet hatte als die Flammen.
Poppy schloss die Augen und seufzte. »Warum ist sie bloß zurückgekommen?« Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie, der Erinnerungsflut Einhalt zu gebieten. »Warum nur?«
Wie zur Antwort ertönte ein Keuchen, eigentlich eher ein Hecheln. Poppy öffnete rasch die Augen und sah sich einem fröhlich schnaufenden Border Collie gegenüber. Er legte den Kopf schief und sah sie an.
»Jacob! Was hast du wieder angestellt?«
Ihr dreibeiniger Hund hatte eine ungute Vorliebe für Schmutzfänger an Autos – und für Schafdung. Er war vom Kopf bis zur Schwanzspitze mit grünlichem Schlick bedeckt. An den längeren Fellbüscheln klebten noch einzelne Köttel .
»Oh nein«, grummelte Poppy. Sie hatte sich den Abend eigentlich etwas anders vorgestellt, als einen stinkenden Hund zu baden. Dann lachte sie und schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, das Leben ist leicht, wenn das Highlight des Tages daraus besteht, sich in Schafdreck zu suhlen.« Und sie war tatsächlich ein wenig neidisch.
Jacob antwortete mit einem erfreuten Bellen.
»Na los, mein Junge. Dann beichten wir das Ganze mal Nain. Ich wette, sie kann dich schon von hier aus riechen!« Poppy seufzte. »Und mit Sicherheit hat Nain auch schon gehört, dass Rosalyn wieder da ist.«