Kapitel 23
Als Dai im Lager verschwand, öffnete Poppy leise die Tür und schlich hinaus. Sie fühlte sich wie gelähmt und taumelte unbeholfen auf den Marktplatz zu. Das Herz wurde ihr so schwer, als müsste es noch einmal den alten Kummer erleben.
»Was tust du denn da?«
Poppy schluckte. Die Weihnachtsfeier in der zwölften Klasse. Wer hatte das gesagt? War sie das selbst gewesen? Die Erinnerung traf sie wie ein Schlag.
Es war damals schummerig gewesen neben der Tanzfläche der Hotelbar. Der rote Teppich hatte unter den Sohlen vom Bier geklebt, und die billigen Scheinwerfer hatten die Ecke in einen grünlichen Schimmer getaucht. Poppy war betrunken. So betrunken, dass sich in ihrem Kopf alles drehte und sie sich an Rosalyns Shirt krallen musste, um nicht den Halt zu verlieren. Ein Knopf löste sich, und Poppy konnte ein Stück von Rosalyns BH erkennen – und darunter die blasse, perfekt geformte Brust. Ihre Lippen trafen auf Rosalyns. Nur einen kurzen Moment streiften sie sich. Aber sie hatten sich berührt.
Poppy erschrak und kehrte in die Gegenwart zurück. Was hatte sie damals angerichtet? Sie hatten hinter den Lautsprechern des DJs gestanden. Dazwischen hatte sie tanzende Paare erkennen können, die ungeschickt fummelten und knutschten. Hatte irgendjemand von ihnen sie bemerkt?
Poppy schloss die Augen und versuchte, sich genau an ihre und Rosalyns Lippen zu erinnern. Sie hatten sich natürlich vorher schon geküsst, jeden Tag ein Küsschen zum Abschied. Aber so noch nicht … War es nur eine betrunkene Laune gewesen? Ein achtloser Moment ohne Bedeutung?
»Was tust du denn da?«, echote es wieder in ihr.
Poppy erkannte diese Worte nur allzu klar. Kalte Angst ergriff sie. Es mussten Rosalyns Worte gewesen sein. Sie hatte wütend ausgesehen, als sie so kerzengerade vor ihr stand, während Poppy taumelte. Aber Poppy hatte gelacht, auch das wusste sie plötzlich wieder. Da hatte Rosalyn sie zu Boden gestoßen und war mit schmerzerfülltem Blick in der Dunkelheit verschwunden
.
»Oh Gott!« Poppy ließ sich auf eine der Bänke am Marktplatz sinken. Sie beugte sich vornüber und vergrub ihren Kopf in den Händen. Dann konzentrierte sie sich aufs Atmen. Sie sog die kalte Luft pfeifend durch ihre Finger. Sie versuchte, keine andere Empfindung mehr zuzulassen: ein – aus – ein – aus. Schließlich beruhigte sich ihr Gedankenfluss.
Die Erinnerung hatte lange tief vergraben geruht. Es war die Weihnachtsfeier damals vor Rosalyns Skiurlaub gewesen. Das letzte Mal, dass sie als Freundinnen zusammen waren. Poppy hatte sich all die Jahre nie wirklich erlaubt, an diesen Abend zu denken. Jetzt hatte er sie völlig unvorbereitet eingeholt.
Sie atmete noch einmal tief ein und aus.
Sie hatte immer angenommen, dass Rosalyn sie damals für ihre Trunkenheit verachtet hatte. Aber es musste noch mehr passiert sein. Vielleicht war es doch ein richtiger, leidenschaftlicher Kuss gewesen. Vielleicht hatte Poppy es noch einmal probiert und konnte sich nur nicht erinnern?
Die Erkenntnis traf Poppy hart. So musste es gewesen sein. Deshalb hatte sich Rosalyn von ihr abgewandt – weil ihre Sexualität sich volltrunken Bahn gebrochen hatte. Und jetzt wusste Rosalyn, dass es sich nicht nur um ein Experiment gehandelt hatte, sondern um Poppys wahre Persönlichkeit.
Poppys Gedanken überschlugen sich. Sie sagte sich, dass die erwachsene Rosalyn eine intelligente, weltoffene Frau ohne Vorurteile war, die auf jeden Fall für die Rechte der Lesben und Schwulen eintreten würde. Aber dennoch klopfte ihr Herz furchtsam und zog sich ihr Magen ahnungsvoll zusammen. Die Vorstellung, dass Rosalyn nun wieder sang- und klanglos aus ihrem Leben verschwinden würde, war zu grausam.
Gerade, als die Verzweiflung sie zu überwältigen drohte, legte sich ein tröstender Arm um sie. Eine vertraute und willkommene Gestalt ließ sich neben ihr nieder.
»Oh, Mum!«, stieß Poppy überrascht hervor.
Emma sah sie liebevoll an und umarmte sie dann fest. »Und, was hat sie gesagt?«
»Nichts. Das musste sie auch nicht. Ihr Gesichtsausdruck sagte alles. Sie war entsetzt.«
Emma drückte sie und wiegte sie sanft hin und her. »Sie war bestimmt nur überrascht. Ich bin ganz sicher, bei eurer nächsten Begegnung hat sie sich beruhigt. Sprich einfach mit ihr. Sie wird dann schon erkennen, was für ein liebenswerter Mensch du bist – und immer schon warst.
«
Poppy wusste, dass ihre Mutter sie aufbauen wollte, dennoch sank ihre Stimmung nur noch tiefer. »Ich glaube nicht, dass das passieren wird. Du hättest sie sehen sollen, Mum …« Rosalyns Miene, so bleich und fassungslos, würde nicht so schnell wieder aus ihrem Gedächtnis verschwinden.
»Wer weiß, warum sie so reagiert hat. Deshalb musst du ja mit ihr sprechen!«
Poppy schwieg. Furcht schnürte ihr die Kehle zu, als sie wieder an die Weihnachtsfeier dachte. Sie schämte sich für ihre ungeschickte, alkoholumnebelte Annährung von damals und wollte sie auf keinen Fall gegenüber ihrer Mutter erwähnen.
Emma strich ihr übers Haar. »Geh nach Hause«, sagte sie. »Hol Pip von der Schule ab, ich mach dann heute früher zu.« Allumfassende Sorge und bedingungslose Liebe sprachen aus ihren Worten.
Poppy nickte und lächelte ihrer Mutter dankbar zu. Sie hob eine Hand und berührte Emmas Wange, so wie früher, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. »Danke, Mum«, sagte sie aufrichtig. »Danke, dass du immer für mich da bist.«
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Zum Glück war Pip auf dem Heimweg schweigsam und blieb in ihrer eigenen Welt. Ausnahmsweise war Poppy froh darüber, anstatt ihr ihre Gedanken und Sorgen zu entlocken. Aber sie hielt die Hand ihrer Schwester so fest, als wollte sie damit nicht Pip, sondern eher sich selbst ein wenig trösten.
Zu Hause war Nain allerdings alles andere als schweigsam.
»Hast du den Shropshire Express
gelesen?« Sie lag auf dem Sofa ausgestreckt und schwenkte die Wochenzeitung in der Luft. »Sie hat wieder etwas angestellt!«
Poppy war definitiv nicht in der Stimmung für Nains Tiraden. Sie warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu, aber der verdrehte nur genervt die Augen und versteckte sich hinter seiner Racing Post
.
Poppy zuckte müde die Achseln. »Was ist denn los, Nain?«
»Hier!« Nain zeigte mit dem Finger auf eine der Schlagzeilen. »Veruntreuung. Zwei Stadtratsmitglieder vom Dienst suspendiert.«
Poppy runzelte fragend die Stirn. Sie konnte ihrer Nain nicht recht folgen. »Kennen wir die?«
Nain deutete auf einige Namen in dem Artikel
.
»Gareth Jones?«, fragte Poppy verwirrt. »Das könnten etwa dreihundert Leute sein, so oft wie der Name hier in Wales vorkommt.«
Nain erhob den Zeigefinger. »Sind es aber nicht. Es ist dieser Junge aus deiner Klasse. Rothaariger Bursche mit so vielen Sommersprossen, dass man die wenigen weißen Flecken dazwischen leichter hätte zählen können.«
Jetzt erinnerte sich Poppy. Gareth war ein mürrischer Klassenkamerad gewesen, der lieber für sich blieb und keine Freundlichkeit erwiderte.
»Und dieser hier.« Nain bohrte ihren Finger erneut in das Zeitungsblatt.
»Glyn Owen?«
»Noch einer aus deinem Jahrgang.«
»Ach ja? Wer denn?«
»Glyn Owen Buwch
, nicht Glyn Owen Coch
.«
»Ach ja, der Bauernjunge.« Poppy tat der arme Kerl rückblickend noch leid. Kuh-Glyn im Gegensatz zum Roten Glyn von der Post. Sie konnte sich kaum noch an ihn erinnern. Noch so einer, der keine Freundschaften pflegte. Vielleicht hatte er Gareth näher gekannt, sie wusste es nicht. »Was wirft man ihnen denn vor?«, fragte sie.
»Bestechungsgelder anzunehmen«, rief Nain empört. »Alles Lüge!«
»Du hältst die beiden also für unschuldig?«
»Natürlich!« Nains Stimme schraubte sich noch weiter in die Höhe. »Die hatten als Kinder doch Stimmen wie kleine Engel. Sie waren im Kirchenchor.«
Poppy zuckte die Achseln.
»Selbstverständlich weißt du das nicht mehr. Du warst ja auch nie in der Kirche. Nichts wie Heiden um mich herum.« Sie hatte ihre Anklage an das ganze Wohnzimmer gerichtet, und Iwan zog sich die Zeitung noch dichter vors Gesicht. »Ganz goldige Kerlchen. Ich hab damals in der Kirche saubergemacht, und die zwei haben mir immer angeboten, mir nach dem Gottesdienst zu helfen.«
»Bist du sicher, dass sie nicht einfach was aus der Kollekte klauen wollten?«, mischte sich Pip ein. Poppy musste lächeln.
»Schließ ja nicht von dir auf andere, Philippa Jenkins!«, rügte Nain sie. »Nur weil dir so ein sündhafter Unfug einfallen würde …«
»Was ist denn nun passiert?«, drängte Poppy, um von Pip abzulenken.
»Hör mal gut zu.« Nain spähte angestrengt durch ihre Brillengläser: »Die Beamten sind für die Dauer der laufenden Untersuchung vom Dienst freigestellt.
Eine Bürgerin hatte Bedenken geäußert, weil eine unangemessen hohe Zahl von Anträgen aus Welshpool mittels eines beschleunigten Verfahrens vom Planungsausschuss bewilligt wurden, während sich die Anträge aus kleineren Städten und Kommunen unbearbeitet anhäufen.«
»Und, ist das denn wahr?«, wollte Poppy wissen und fragte sich, was ihre Großmutter eigentlich so auf die Palme brachte.
Nain sah Poppy mit durchdringendem Blick an. »Eine ›Bürgerin‹.«? Und zwei Jungen aus deiner Schule? Nach wem klingt das wohl? Welche Person kennen wir, die nur allzu gerne Ärger macht?«
»Rosalyn!«, rief Pip entzückt.
Poppy konnte spüren, wie sie blass wurde. »Nain, das klingt aber weit hergeholt.«
»Sie war es. Ich sag’s euch.«
»Ob sie wohl wieder etwas niederbrennt?« Aufgeregt hüpfte Pip auf und ab.
»Würde mich nicht wundern. Für den Fall, dass die beiden freikommen, plant sie bestimmt schon irgendeine Racheaktion.«
Poppy ließ sich neben ihrem Vater auf einen hölzernen Hocker sinken. Das konnte sie heute Abend nun wirklich nicht auch noch gebrauchen!
Ihr Vater fasste sie sanft an der Schulter.
»Hi Dad«, begrüßte sie ihn müde.
»Komm mal mit, cariad
.«
Er erhob sich, und Poppy folgte ihm in die Küche. Iwan griff in seine Werkzeugkiste, die hinter der Tür stand, und zog eine dreieckige dünne Scheibe aus Birkenholz heraus.
»Ein Vögelchen hat mir zugezwitschert, dass es heute die erste Reservierung bei jemandem gab.«
Er drehte das Schild zu ihr um, sodass Poppy die Aufschrift sehen konnte. Ihre Stimmung besserte sich augenblicklich. »Ein Reserviert-Schild.« Sie lächelte.
Er reichte ihr das frisch geschliffene Stück Holz. Sie betrachtete es und strich mit den Fingern über die geschwungenen Linien der Buchstaben. Das Werkstück war ein echter kleiner Blickfang.
»Danke, Dad.« Poppy blinzelte ein paar Tränen der Rührung fort. »Ich find’s toll!«
»Gut gemacht, cariad.
« Er küsste sie auf die Stirn. »Schön, dass es dir ein bisschen Freude macht.«