Kapitel 27
Es kam nicht oft vor, dass Poppy nicht genügend guten Willen aufbrachte, um zu lächeln. Aber an diesem Tag gelang es ihr nicht mehr. Sie bemerkte, wie besorgt ihre Mutter sie ansah. Die unbeantworteten Fragen standen Emma deutlich ins Gesicht geschrieben. Aber sie drängte Poppy nicht.
Das Geschäft brummte am Sonntag ebenso wie am Vortag, und mit Bethans Unterstützung bewältigten sie eine weitere volle Auslastung zur allgemeinen Zufriedenheit. Und als am Abend dann ein Tag voller Komplimente und Zusagen für weitere Besuche hinter ihr lag, hatte Poppy schon beinahe zu ihrer natürlichen Fröhlichkeit zurückgefunden.
Nachts aber wurde es schlimm. Sie lag im Bett und starrte hinaus in die stille Landschaft im silbrigen Mondlicht. Was sie sah, erschien ihr wie ein spöttisches Gegenbild zum Aufruhr ihrer Gedankenwelt. Zum hundertsten Mal errötete sie vor Scham, als ihr wieder durch den Kopf ging, wie leicht sie Rosalyns zärtlicher Berührung erlegen war. Dann herrschte erneut Verwirrung: Warum hatte Rosalyn sie denn überhaupt gestreichelt?
Und wie
sie es getan hatte! Poppy schloss die Augen, und die Bilder stellten sich von selbst ein. Rosalyns Duft stieg ihr wieder in der Nase, der herrliche Anblick ihres nackten Körpers drängte sich ungefragt in Poppys Vorstellung. Sie sehnte sich so sehr danach, von Rosalyn berührt zu werden – Brust an zarter Brust, Schenkel an weichem Schenkel, der unwiderstehliche Kitzel an ihren Schamlippen. Und wie dann Rosalyns Finger in sie eingedrungen waren – Poppy stöhnte auf. Die innere Rückschau wirkte so lebendig wie das Gefühl, als Rosalyn tatsächlich auf ihr gelegen hatte. Poppy wand sich unter ihrer Bettdecke und wünschte verzweifelt, sie könne ihre Sinne abstumpfen gegen all diese erregenden Eindrücke.
Am Morgen gingen ihr sofort wieder dieselben Fragen durch den Kopf. Ihre Familie machte sich für den Alltag bereit und versuchte gelegentlich, Poppy in eine Unterhaltung zu verwickeln. Die antwortete einsilbig, mechanisch, wie durch einen
Nebel. So bemerkte sie kaum, dass es um sie herum still wurde und sie das Haus an ihrem freien Tag für sich hatte.
Als sie Milch aus dem Kühlschrank holen wollte, dämmerte ihr langsam, warum Nain zweimal wiederholt hatte: »Es ist keine Milch mehr da, cariad
. Du musst neue holen.« Verlegen machte sie sich auf den Weg über die sonnige Steinstraße.
»Rosalyn, Rosalyn …«, murmelte sie. Seit wann liebte die Kussexpertin, die altkluge Teenagerin Rosalyn wohl Frauen? Was führte sie im Schilde? Das Gedankenkarussell machte Poppy wahnsinnig. Seit Rosalyns Ankunft konnte sie an nichts anderes mehr denken, und doch war sie noch immer kein Stück schlauer, wie sie ihre Freundin verstehen sollte. Wenn überhaupt, verstand sie sie noch weniger als vorher.
Am Ende der Straße nahm sie drei Pint Milch aus dem rostigen Behälter, der dort im Gras stand. Sie drückte die Flaschen fest an die Brust und wollte sich auf den Heimweg machen. Da erklang hinter ihr ein Motorenbrummen. Ein sportliches schwarzes Cabrio hielt neben ihr an. Am Steuer saß eine magere Frau mit strengem Haarschnitt und schwarzer Sonnenbrille.
»He, Sie da!« Ihre Stimme verlangte sofortige und ausschließliche Aufmerksamkeit. »Sind Sie von hier?«
»Ja, das bin ich«, antwortete Poppy und bemerkte wieder einmal den Kontrast zwischen ihren eigenen weichen Wales-Lauten und der glasklaren Hochsprache der Großstädterin. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich irre hier draußen schon eine halbe Stunde herum, um dieses komische kleine Wells zu finden, aber ich finde es nirgends. Das verdammte Navi führt mich nur zu einer großen Pfütze, und ich hab keinen Netzempfang.«
Poppy lächelte. »Ja, der Empfang kann hier in der Gegend schon mal dünn werden. Wohin möchten Sie denn?«
»Dahin.« Poppy beugte sich zu der Fahrerin hinunter, die ihr teures Handy mit einer E-Mail auf dem Bildschirm hochhielt. »Ich weiß noch nicht mal, wie man das ausspricht.«
Poppy schluckte. »Rhiw Hall«, flüsterte sie und wiederholte es etwas lauter mit Betonung auf dem lang gesprochenen »ruu
«. Sie hatte nicht viel von der E-Mail lesen können, aber darunter hatte Rosalyns Vorname gestanden und eine Bitte an die Frau, möglichst bald nach Wells zu kommen
.
»Wo ist denn dieses verdammte Haus?« Ungeduldig warf die Frau das Gerät auf den Beifahrersitz und nahm die Sonnenbrille ab. »Ich weiß überhaupt nicht, was sie hier so lange in dieser Einöde macht. Ich hab seit Stunden keinen vernünftigen Supermarkt mehr gesehen.«
Poppy starrte die Frau an. Sie kannte dieses Gesicht. Das war das Gesicht auf Rosalyns Bildschirm. Das Gesicht, das Poppy für die Assistentin des Chefs gehalten hatte. Eine Assistentin, die ein sehr teures Auto fuhr. Die nach der E-Mail zu urteilen ein enges Verhältnis zu Rosalyn hatte. Die jetzt hier persönlich vor ihr saß, um Rosalyn zu besuchen. Poppy dämmerte etwas.
»Ist es vielleicht da oben?« Die Frau deutete auf die Straße hügelaufwärts, auf der man schon die Ställe und Cottages sehen konnte.
»Nein«, entgegnete Poppy. »Es ist ein viel größeres Gebäude, ein Herrenhaus. Der Eingang liegt um die Ecke. Wenn Sie da rauffahren, sehen Sie nach der Kurve steinerne Torpfosten zu beiden Seiten einer schmalen Einfahrtstraße. Da müssen Sie hin.«
»Oh, Sie kennen die Leute wohl?!« Die Frau lehnte sich über die Tür und streckte ihr eine knochige Hand entgegen. »Ich heiße übrigens …«
»Sam«, ergänzte Poppy. »Sie müssen Sam sein.«
»Stimmt.« Die Frau klang überrascht. »Woher wissen Sie …?«
Poppy starrte sie an. Rosalyns Ex. Rosalyns Ex-Freundin. Sie suchte in ihrem Gedächtnis nach dem, was Rosalyn gesagt hatte. Hatte Rosalyn denn nicht von einem ›er‹ gesprochen? Hatte sie mit ›Sam‹ tatsächlich nie den aalglatten Schönling gemeint, der so oft anrief?
Die Frau zog die schmalen Augen interessiert zusammen. »Sie sind Poppy, stimmt’s?«
»Tut mir leid«, beeilte sich Poppy zu versichern und zwang sich wieder ins Hier und Jetzt zurück. »Das kam eben falsch rüber. Ich weiß fast gar nichts über Sie.«
»Aber ich über Sie!« Sam sah sie unverwandt an. Ihre Miene ließ nur schwach erahnen, dass eine Fülle von Gefühlen unter der Oberfläche brodelte. »Natürlich nur Gutes,« meinte sie leichthin. »Und Neues. Wissen Sie, ich kenne Rosalyn seit vielen Jahren und hatte bis vor Kurzem keine Ahnung, dass jemand in ihrer Kindheit eine so wichtige Rolle gespielt hat.«
Poppy senkte den Blick. »Ich nehme an, sie spricht nicht oft über Wells.
«
»Nein, in der Tat nicht.« Sam hielt den Blick unentwegt auf sie gerichtet. »Es ist schon ein kleiner Schock für uns, dass sie ihr Leben mir-nichts-dir-nichts verlässt und einfach hierbleibt. Sie hätte viel früher wieder zurückkommen sollen.« Dann setzte sie hinzu: »Ich bin aber froh, dass Sie Gelegenheit hatten, Ihre Freundschaft aufzufrischen.« Die Betonung lag auf »Freund-«.
Poppy errötete. Der Status von Sams und Rosalyns Beziehung wurde ihr schmerzhaft bewusst, und sie begann, die Begegnung im Café mehr denn je zu bereuen.
»Dann schätze ich mal, wir sehen uns wohl noch wieder«, sagte Sam. Sie setzte die Brille wieder auf und fuhr grußlos davon.
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Poppy stand in der heimischen Küche und war einem ganz neuen Gefühlsansturm ausgeliefert. Diesmal dominierten Entrüstung und Verärgerung. Dass der temperamentvolle Toaster ihrer Eltern die mittlerweile dritte Scheibe Toast verbrannte, half nicht gerade.
Dai war zu Besuch gekommen, saß nun am Küchentisch und erzählte irgendetwas über seine Hochzeit.
Missmutig warf Poppy eine weitere Scheibe in den Toaster. »Hast du eben gesagt, Mary will eine Hochzeit im August?«
»Ja, Liebes – vor einer halben Stunde.« Dai lachte. »Wo warst du denn in Gedanken?«
»Sorry, Dai. In diesem August etwa?«
»Ja, ich bin wie gesagt auch nicht erfreut.«
»Im Sommer will doch alle Welt heiraten. Da ist bestimmt schon alles ausgebucht.«
»Ja, das hab ich ihr auch gesagt. Und dir.« Dai grinste.
»Warum hat sie es so eilig?«
»Sie hat tatsächlich einen guten Grund«, antwortete er in ernsterem Ton. »Ihre Nain wird alt und könnte im nächsten Sommer schon nicht mehr da sein.« Er zuckte die Achseln. »Also muss ich mich beeilen.«
»Was hast du im Sinn?«
»Alan Watkins sagt, er kann mir einen guten Preis im Hotel machen, wenn ich im Voraus zahle. Er meint, jemand hat abgesagt.
«
»Wann denn?«
»An zwei Samstagen im August.«
»Zwei gleich.« Poppy verschränkte die Arme und runzelte die Stirn. »Sonderbar, dass er nicht ausgebucht ist. Und wieso gibt es da noch keine Warteliste?«
»Keine Ahnung. Er will mir eben einen Freundschaftspreis machen.«
»Ach ja? Hast du denn schon irgendwo anders geschaut? Ist es wirklich ein guter Preis?«
Dai lehnte sich zurück und verschränkte die Arme in all ihrer beträchtlichen Fülle. »Ich hab noch nirgends gesucht. Aber ich weiß schon ungefähr, was sowas kostet.«
»Viel!«, erwiderte Poppy und zögerte kurz, fuhr dann aber fort: »Kannst du ihm auch trauen?«
»Ach, komm schon, Poppy, was soll das? Das klingt verdächtig nach Rosalyn.«
Poppy zuckte bei der Erwähnung des Namens zusammen. »Ich bin Alan gegenüber einfach vorsichtig. So wie er Cerys auf der Versammlung im Rathaus behandelt hat …«
»Ach, das kann man doch nicht ernstnehmen«, wischte Dai ihre Einwände beiseite. »Das war doch nur harmloser Spaß.«
Poppy sagte nichts mehr und blickte zu Boden. An diesem Morgen gab es wohl mehrere, die ihre Gelassenheit auf die Probe stellen wollten.
Dai schnupperte. »Poppy, da brennt was an!«
»Oh nein!« Zwei weitere verkohlte Toastscheiben sprangen aus den Schlitzen. »Und ich hab kein Brot mehr!« Poppy begann, über der Spüle mit einem Messer an einer der Scheiben herumzuschaben.
»Da wir gerade von Rosalyn sprechen«, sagte Dai. »Ich hab sie vorhin in der Stadt gesehen.«
Poppy bearbeitete ihren Toast entschlossener.
»Sie ging Arm in Arm mit einer Frau. Die zwei schienen sich gut zu kennen.«
»Das war Sam«, stellte Poppy klar. »Ihre Ex.«
»Was??«
Poppy wandte sich zu Dai um. Er hatte die Augenbrauen hochgezogen und sah sie mit großen Augen an, hinter denen einiges zu arbeiten schien.
Er schüttelte den Kopf. »Du meinst Ex wie in Ex-Freundin?«
»Ja.« Poppy nahm das Schaben am Toast wieder auf
.
»Also, das hab ich jetzt nicht kommen sehen. Hast du es gewusst?«
»Nein«, antwortete Poppy kurz.
»Wie sonderbar. Man sollte doch meinen, dass sie es dir gegenüber mal erwähnt hätte. Ich hätte gedacht, gerade dir sagt sie das sofort.«
»Allerdings«, knurrte Poppy und kratzte noch kräftiger.
»Poppy, Liebes?«
»Hmm?«
»Du schabst dir da gleich die Hand weg.«
Poppy spähte in den Ausguss und entdeckte die meisten der essbaren Krümel dort zusammen mit den verkohlten Teilen.
»Oh, ver…« Poppy warf den kümmerlichen Rest in den Mülleimer. »Ich geb’s auf.«
Sie angelte sich einen Apfel aus der Obstschale und ließ sich neben Dai am Tisch nieder. Dann biss sie herzhaft in den saftigen Granny Smith.
»Alles in Ordnung, Poppy?« Dai sah sie halb belustigt und halb besorgt an. »Ich hab irgendwie das Gefühl, etwas stimmt nicht in deiner Welt.«
»Nein, alles in Ordnung«, murmelte Poppy, den Mund voll Apfel.
»Ich wage mal eine wilde Vermutung: Geht es um Rosalyn?«
Poppy sah zu Boden. »Ja, stimmt.«
Er seufzte übertrieben mit der Intonation von ›Ich hab’s dir ja gesagt.‹
»Ich weiß«, sagte Poppy.
»Wusstest du es wirklich nicht?«
»Nein.«
»Aber hatte Rosalyn nicht schon einen festen Freund, als sie ungefähr drei war?«
»Kommt hin.«
»Das ist aber verwirrend.« Er zog die Stirn kraus. »Woher willst du dann wissen, auf wen sie als Nächstes steht?«
Poppy sah ihn strafend an, musste aber zugeben, dass sie selbst ähnlich klischeehaft gedacht hatte. Ihre vorschnelle Annahme über das Geschlecht von Rosalyns Vorgesetzten und der prompte Vorwurf, sie experimentiere nur mit ihr herum, hatten Poppy furchtbar in die Irre geführt. Poppy wurde noch im Nachhinein rot, als sie daran dachte, welche Spielchen sie Rosalyn unterstellt hatte.
Aber Rosalyn hätte ihr verdammt noch mal auch etwas über ihre Vorliebe für Frauen sagen können. Das war und blieb die Wahrheit. Vorzugsweise irgendwann
bevor sie ihre Finger in sie hineingeschoben hatte. Überwältigt von dem Gedanken an diesen exquisiten Moment schloss Poppy kurz die Augen.
»Also«, sagte Dai, »dann ist sie nicht lesbisch. Ist sie dann …« Er zögerte. »… bisexuell?«
Poppy war auch nicht ganz einverstanden mit dem Begriff.
»Oder stimmt das nicht?«, fragte Dai unsicher.
»Doch, schon. Aber diese Bezeichnung bringt einen ganzen Haufen Vorurteile mit sich. Sobald dieses Wort ins Spiel kommt, sehen die Leute nur noch das Klischee und nicht den Menschen. Und sie ist ja nach wie vor Rosalyn.« Wer immer das war.
Dai versuchte sich an einer Zusammenfassung: »Dann ist Rosalyn also nach wie vor Rosalyn, die früher auf Kerle stand, aber von der sich jetzt herausstellt, dass sie auch Frauen mag. Das legt aber in keinster Weise ihre zukünftigen Vorlieben oder Verhaltensweisen fest, und sie kann weiterhin völlig frei und individuell wählen, wen sie attraktiv findet.«
»Kommt ungefähr hin. Jedenfalls soweit ich es beurteilen kann.«
Dai seufzte wieder. »Höllisch kompliziert, oder?«
Poppy lächelte. »Ja, so sind die Menschen.«
Beide sahen eine Zeitlang stumm vor sich hin.
»Und ihr beide habt nie …?«, fragte Dai dann.
»Was?«
»Du weißt schon …«
»Nein, haben wir nicht«, protestierte Poppy empört.
»Nicht mal als Teenager?«
»Nein.«
»Nicht mal einen Kuss zum Üben?«
»Oh!« Er hatte Poppy voll erwischt. Sie hielt sich die Hand vors Gesicht, sah aber noch, wie Dai den Kopf triumphierend zurückwarf.
»Hab ich’s doch gewusst«, lachte er. »Hab ich’s doch verdammt noch mal gewusst.«