Kapitel 33
Die Probleme mit dem Kunsthandwerksmarkt beschäftigten Poppy noch bis weit in die Nacht. Ruhelos wälzte sie sich im Bett, während sie mit schlechtem Gewissen über die harten Worte nachdachte, die sie Rosalyn zu Alans Verteidigung an den Kopf geschleudert hatte. Rosalyn hatte offenbar über zumindest einige weniger ehrenhafte Einwohner von Wells durchaus richtig gelegen.
Aber Rosalyn war fort. Was konnte Poppy schon tun?
Nach viel Grübelei sprang sie schließlich im Morgengrauen aus dem Bett, fest entschlossen, selbst etwas zu unternehmen. Sie rief vom Handy aus im Büro des Stadtrats an. »Können Sie mich bitte durchstellen? Es geht um die Genehmigung einer Veranstaltung.«
»Wer wäre da zuständig?«, flötete eine Frauenstimme.
»Äh«, erwiderte Poppy verwirrt, »ich hatte eigentlich gehofft, Sie könnten mir das sagen.«
»Einen Moment bitte.«
Die Warteschleife spielte eine scheppernde Version von »Delilah«. Poppy sah aus ihrem Bullaugenfenster auf die Hügel hinaus. Sie verschwammen vor ihren müden Augen.
»Hallo«, meldete sich schließlich die Frauenstimme zurück. »Da ist anscheinend die Lizenzstelle zuständig.«
»Gut. Würden Sie mich bitte durchstellen?«
»Also, das kann ich Ihnen nicht versprechen.« Es klickte, und schon hatte Poppy wieder Tom Jones im Ohr. Ein paar Minuten später war die Frau zurück. »Entschuldigung, wer spricht da noch?«
»Poppy Jenkins aus Wells.«
»Einen Moment bitte.« Diesmal dauerte es nicht lange, bis die Frau wieder da war.
»Er sagt, er ist heute nicht im Büro.
«
»Moment mal«, protestierte Poppy, »er hat Ihnen gerade gesagt
, dass er nicht da ist?«
»Ja. Oh …«
»Vielleicht fragen Sie ihn freundlicherweise, ob er es sich noch einmal anders überlegen würde«, sagte Poppy scharf.
»Na gut.«
Noch ein blecherner Refrain.
Dann kam die Stimme zurück. »Nein, er ist immer noch nicht da.«
»Hm«, meinte Poppy, »der zuständige Beamte ist nicht zufällig Gareth Jones?«
»Doch.« Die Frau zögerte kurz. »Nein?! Ich sollte Ihnen das eigentlich nicht sagen.«
»Richten Sie Gareth doch bitte aus, dass er den Kunsthandwerksmarkt nicht nur wegen der Bewirtungslizenzen absagen kann. Das Real Food Café hat bereits eine Genehmigung zur Außenbewirtung auf dem Marktplatz. Wenn er mir die Auskunft verweigert, werde ich mich bei seinem Vorgesetzten beschweren.«
»Gut, ich richte das aus.« Die Frau verschwand noch einmal, war aber schnell wieder am Hörer.
»Sein Vorgesetzter sagt, er ist heute auch nicht im Büro.«
Poppy knurrte und schloss die Augen. Kein Wunder, dass Cerys gegen diese Bürokratiehürden nicht angekommen war. Das könnte noch den ganzen Tag so weitergehen. Was hätte Rosalyn wohl getan?
Poppy verspürte einen Stich lang vergessen geglaubter Rebellion. »Na, das ist ja schade«, änderte sie ihren Ton. »Ich wollte die beiden nur warnen, weil es nun auch größere Unternehmen gibt, die einen wirtschaftlichen Schaden von der Absage der Veranstaltung davontragen. Ich denke, die wollen die Stadt verklagen.«
»Wirklich?« Die Frauenstimme klang erschrocken. »Warten Sie bitte einen Moment.«
In der Warteschleife rappelten jetzt die Manic Street Preachers.
»Miss Jenkins«, meldete sich eine tiefe Männerstimme. »Danke für Ihre Warnung. Würden Sie Ihren Antrag bitte noch einmal stellen? Ich kann Ihnen die Unterlagen auch zuschicken.«
»Für dieses Jahr wäre das doch schon zu spät.«
»So ist aber nun einmal das Prozedere. Vielleicht lässt sich der Vorgang beschleunigen.
«
»Vielleicht beschleunigen Sie ihn, indem Sie den ersten Antrag und meine Genehmigung noch einmal lesen. Die Papiere sind alle in Ordnung.«
»Leider hat es hier ein kleines Missverständnis gegeben«, entgegnete die Stimme beflissen, »Der Antrag wurde falsch weitergeleitet.«
Poppy schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Sie treffen also nicht nur unprofessionelle Fehlentscheidungen, die einige als korrupt bezeichnen würden, sondern kommen auch Ihrer Dokumentationspflicht nicht nach, wie ich sehe.«
Am anderen Ende herrschte Stille.
»Danke für Ihre Mühe«, erklärte Poppy so ungerührt, wie Rosalyn es zweifellos getan hätte. »Ich werde den Interessenten der Stände eine offizielle Klage empfehlen und eine Stellungnahme in der Zeitung veröffentlichen, in der ich die genauen Gründe für die Absage des Kunsthandwerksmarktes nennen werde. Und wenn ich Zeitung sage, dann meine ich nicht etwa die County Times
.«
Etwas rasselte im Hörer. »Miss Jenkins? Mein Kollege hat hier gerade einen Antrag gefunden, der uns weiterhelfen könnte.«
Und endlich drehten sich die Rädchen der Bürokratie. Nach einer weiteren zähen halben Stunde konnte Poppy Ihren Anruf schließlich mit einem zufriedenen Lächeln beenden.
Auf der Stelle wählte sie eine andere Nummer. »Cerys?«, meldete sie sich. »Es kann losgehen!«
> ~ ~ ~ <
Eine Woche später kam Poppy und Pip auf ihrem Weg nach Wells eine freudig erregte Cerys Mathews entgegen. Sie schwenkte eine Zeitung. »Wir stehen in der Zeitung«, rief sie ihnen schon von weitem zu.
Pip grunzte verächtlich. »Das ist doch bloß der Shropshire Express
.«
»Psst«, ermahnte Poppy ihre Schwester, »verdirb ihr das nicht!«
Cerys holte sie keuchend ein. »Schaut euch das an!« Sie schlug eine farbenfrohe Doppelseite auf. Auf den Fotos waren viele bekannte Gesichter zu sehen. Die Überschrift lautete: »Wells verspricht einen Markt der Superlative«.
»Da ist ja Mum!«, bemerkte Pip und musste nun doch lächeln, als sie auf ein Foto von Emma in ihrem Atelier deutete. »Und du!« Poppy stand auf dem Bild neben ihrem ganzen Stolz, der wohl gefüllten Kuchentheke.
»Du hast ja das cremefarbene Kleid angezogen!« Pip grinste
.
Poppy sah verlegen auf ihre Schuhe.
»Wenn ich so lecker aussähe wie deine Schwester, liebe Pip, würde ich es auch zeigen«, sprang Cerys ihr bei.
Poppy lachte und wies dann auf den üppig bebilderten Artikel. »Das ist toll, Cerys. Die beste Werbung zur besten Zeit vor dem Wochenende!«
Die drei machten sich gemeinsam auf den Weg.
»Ich bin so froh, dass wir es noch in dieser Woche veröffentlichen konnten«, erklärte Cerys stolz.
»Ja«, pflichtete ihr Poppy bei und erkundigte sich interessiert: »Wer ist denn ›wir‹?«
Sie passierte gerade die ersten Häuser des Ortes, und in dem Moment steckte Mrs Morgan Morgan ihren Kopf hinter ihrer Gartenmauer hervor.
»Bore da
, Poppy und Pip, wunderschönes Wetter wieder … oh.« Sie hielt inne, als sie die Dritte im Bunde entdeckte, und fügte dann merklich kühler hinzu: »Miss Mathews.«
Cerys hob das Kinn. »Mrs Morgan«, grüßte sie und setzte hinzu: »Wunderschönes Wetter, in der Tat.«
Nun, da Poppy den Hintergrund ihrer Geschichte kannte, erschien ihr die Verkrampftheit der Begegnung umso offensichtlicher. Sie verstand gar nicht, warum ihr das vorher nie aufgefallen war.
»Ich hoffe, die Sonne bleibt uns noch viele Monate erhalten«, brachte Poppy den Austausch zu Ende, um es den beiden Frauen leichter zu machen.
»Ja, Liebes.« Mrs Morgan lächelte traurig, als sie sah, dass die drahtige kleine Cerys schon energisch weiterlief. Mrs Morgan wandte sich um und verschwand im Haus.
Als sie nicht mehr in Hörweite waren, entspannte sich Cerys wieder. Im Dorfzentrum hielt Cerys ihren Artikel noch einmal stolz in die Höhe. »Ich hab diesmal ein gutes Gefühl«, bekannte sie.
Poppy umarmte die schmale Gestalt. »Ich auch.« Sie lächelte und winkte Cerys nach, die über den Marktplatz davonhuschte.
»Okay, Pip, dann sehen wir uns heute Abend …Pip?«
Pip starrte auf die Brücke hinunter, die einige Kinder auf ihrem Weg zur Schule überquerten. Ein großer Junge hatte sich an den Brückenaufgang gestellt. Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und nickte den einzelnen
Mitschülern schuldbewusst zu. Auch Pip bedachte er mit einem kleinlauten Gruß. »Entschuldigung, ich werde es nicht wieder tun«, murmelte er, als sie vorbeigingen.
»Pip?«, fragte Poppy erstaunt, und Pip nahm freiwillig ihre Hand.
»Pip, was soll denn das heißen?«
»Ach, der da!« Hinter ihnen tauchte Mrs Morgan auf, die ihnen nachgegangen sein musste. »Der hat den Kindern in der Schule das Leben schwergemacht.«
»Was ist passiert?«, fragte Poppy alarmiert, und als Pip nicht antwortete, noch dringlicher: »Hat er dir wehgetan?«
»Nee, so schlimm war’s nicht«, gab Pip schließlich zu. »Er hat uns bloß Geld abgenommen.«
»Was? Wie lange geht das denn schon?«
»Bestimmt ein paar Wochen«, schaltete sich Mrs Morgan ein.
Poppy war sprachlos. Sie fasste ihre Schwester beschützend um die Schultern. »Warum hast du denn nichts gesagt, Schätzchen?«
»Zum Beispiel damit du mich nicht wie eine Zweijährige behandelst«, kam die grummelige Antwort.
»Oh …« Schuldbewusst nahm Poppy ihre Hände von Pips Schultern.
»Ich hatte auch nicht das Gefühl, dass es dich interessieren würde. Du warst ziemlich abgelenkt in letzter Zeit.«
Pip hätte Poppy ebenso gut ein glühendes Messer ins Herz stoßen können.
»Es tut mir so leid, meine liebe Pip!« Auf einmal wurde Poppy sehr bewusst, wie häufig Pip in den letzten Wochen gedrückter Stimmung gewesen war. »Ich wusste doch, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich hätte dich gleich fragen sollen!«
Pip schwang verlegen die Arme hin und her. »Für mich war es nicht so schlimm wie für einige andere. Besonders die Grundschulkinder.«
»Aber jetzt ist ja alles wieder gut, nicht wahr, bach
?« Mrs Morgan legte Pip tröstend die Hand auf die Schulter. »Ich hab den tückischen kleinen Mistkerl leider nie erwischt Aber sie schon! Ich weiß zwar nicht, was sie zu ihm gesagt hat, aber es hat ihm gehörig Respekt eingeflößt.«
»Wer?«, fragte Poppy bestürzt.
»Sie hat ihn am Flussufer abgepasst. Als zwei von den Kleinen gerade baden waren, hat er ihre Sachen durchwühlt. Sie hat ihn voll in flagranti erwischt.«
»Sorry, wer?«, wiederholte Poppy.
»Na, Rosalyn natürlich!
«
»Was?« Poppy schnappte nach Luft. »Rosalyn?«
»Ja sicher. Sie ist heute morgen hier angekommen. Hat mir extra einen guten Morgen gewünscht und deiner Mam im Laden auch.«
Poppy starrte sie ungläubig an. »Aber … Wie …? Warum …?«, stammelte sie.
»Ich kann Rosalyn gut leiden«, erklärte Pip und grinste breit. »Ich finde sie einfach spitze.«
Poppy starrte sie mit offenem Mund an.
Pip umarmte ihre große Schwester, küsste sie großmütig aufs Kinn und verschwand dann Richtung Schule.
»Rosalyn …«, flüsterte Poppy, noch immer fassungslos. »Rosalyn ist wieder hier.«
»Sie ist ein gutes Mädchen«, bemerkte Mrs Morgan.
»Wirklich? Rosalyn Thorn?«
»Auf jeden Fall. Sie ist immer für eine Überraschung gut.« Mrs Morgans Augen blitzen. »Und was für eine schöne Überraschung!«
Poppy musste den Blick abwenden, so verwirrt war sie. Eine gehörige Portion Schuldgefühl spielte auch mit hinein.
»So, und jetzt muss ich los und Mr Morgan seine siebte Tasse Tee kochen.« Mrs Morgan winkte kurz zum Abschied.
Poppy riss sich aus ihren Gedanken und erinnerte sich an ihren eigenen Tagesplan. »Und ich muss mich mit David Thorn treffen!«
Widerstrebend machte sie sich auf den Weg nach Rhiw Hall. Ihr Herz klopfte ihr bis an den Hals. Sie war davon ausgegangen, Rosalyn niemals wiederzusehen, und war in keinster Weise auf ein Zusammentreffen vorbereitet. Vor allem aber hatte sie Angst, dass sie das ohnehin belastete Verhältnis von Rosalyn zu ihren Eltern durch das eher unfreiwillige Outing noch verschlechtert haben könnte
Sie kam nur langsam vorwärts. Am Flussufer geriet sie regelrecht ins Trödeln, blieb in den eigenen Gedankenkreisen gefangen. Der alte Groll gegen Rosalyn machte ihr ebenso zu schaffen wie die frischen Schuldgefühle. In einem Moment wollte sie zu Rosalyn laufen und sich händeringend entschuldigen, weil sie an ihr gezweifelt und sie vor ihrem Vater als lesbisch geoutet hatte; im nächsten Moment war sie nur noch von dem Gedanken beseelt, möglichst weit zu fliehen.
Als sie sich schließlich vom Flussufer und ihren widersprüchlichen Gedanken losriss, war sie unverzeihlich spät dran
.
Sie passierte die Ställe, sprang über den Zaun und lief durch den Garten auf das Haus zu. Die Tür war abgeschlossen, und niemand erwartete sie. Auf der schmiedeeisernen Bank lag ein gefalteter Zettel unter einer Muschel.
Poppy nahm ihn an sich und las: »Ich hoffe, dir geht es gut und du wurdest nur im Café aufgehalten. Ich bin mit Rosalyn bei der alten Jagdhütte. Komm doch bitte nach. Gruß, David.«
Poppy ging über den Rasen Richtung Wald. Sie spähte zum Hügel hinauf, hinter dem das Jagdhäuschen lag.
Da entdeckte sie die beiden. Sehr langsam erklommen sie Schritt für Schritt die Anhöhe, der noch immer gebeugte David und seine hochgewachsene Tochter. Poppy konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Sie trat ein paar Schritte vor und hielt den Atem an, als David stolperte, Rosalyn ihn aber auffing. Rosalyn hakte ihn fürsorglich unter. Dabei wandten sie sich einander zu, und Poppy konnte endlich ihre Mienen erkennen.
Rosalyns schönes Gesicht sah bleich und erschöpft aus, aber auch erleichtert. David lächelte seine Tochter müde an, als sei ihm ein wahrer Stein vom Herzen gefallen. Arm in Arm gingen sie weiter, offensichtlich in ein sehr persönliches Gespräch vertieft.
Poppy atmete befreit auf. »Gott sei Dank«, sagte sie leise.
Dass Rosalyn sich nun endlich ihrem Vater anvertraute, erfüllte Poppy mit großer Freude. Sie sah den beiden noch einen Moment nach und machte sich dann still wieder auf den Heimweg.