Kapitel 39
Eine Woche später trat Poppy den täglichen Weg nach Wells allein an, da Pip Schulferien hatte und friedlich zu Hause schlief. Unentwegt gingen ihr die Zahlen und Kosten eines köstlichen Hochzeitsessens bei einem winzigen Budget durch den Kopf. Ohne Personal würde sie bei der Gästezahl auch nicht auskommen. Immer, wenn sie gedanklich in einer Sackgasse angekommen war, schlich sich wieder Rosalyns Bild in ihr Herz: wie sie auf dem Hügel stand und winkte, wie sich ihre nackten Brüste gegen die ihren pressten …
»Konzentrier dich«, ermahnte sich Poppy. »Wie willst du 150 Gäste satt bekommen – geschweige denn ihren Durst stillen?« Sie öffnete die Tür zum Bioladen und stand vor einem Haufen Kunststoffboxen.
Dahinter tauchte ihre Mutter auf. In der Hand hielt sie eine Rolle Kreppband und einen Kugelschreiber. »Guten Morgen, mein Schatz«, sagte Emma. »Die Sachen hier haben die Leute den ganzen Vormittag lang abgegeben. Ich muss sie jetzt mal beschriften.«
Poppy kniete sich auf den Boden und untersuchte eine der Boxen. »Lichterketten«, sagte sie und lachte.
»Es hat sich anscheinend herumgesprochen, dass ihr Hilfe brauchen könnt.«
Poppy traten vor Freude und Dankbarkeit die Tränen in die Augen. »Ich glaube, es könnte tatsächlich funktionieren. Es könnte eine wunderbare Hochzeit werden«, erklärte sie bewegt.
»Ihr schafft das, Poppy«, stimmte ihre Mutter ihr zu. »Du und Rosalyn, ihr schafft das.«
Poppy stand auf. »Vielleicht«, sagte sie. »Ich muss noch einmal alles für das Essen durchrechnen, das wird wirklich knapp.«
»Ach ja«, meinte Emma, »Dafydd von Montgomeryshire Ice Creams wartet übrigens oben auf dich. Er will mit dir reden.«
»Okay«, antwortete Poppy verwundert und lief die Treppe hinauf
.
Das Café war halb voll, aber Poppy entdeckte den jungen Mann mit dem kurz gestutzten dunklen Bart sofort. »Dafydd?«, fragte sie.
»Poppy.« Er reichte ihr die Hand. »Der Kunsthandwerksmarkt neulich war ja überwältigend. Der Tag an unserem Stand lief fantastisch.«
»Ihr Eis ist aber auch etwas ganz Besonderes«, erwiderte Poppy. »Wir servieren Ihr Vanilleeis zu unseren Brownies – unser mit Abstand beliebtestes Angebot.« Sie deutete auf die Flyer zwischen Salz- und Pfefferstreuer. »Ich zeige den Kunden immer, wo diese leckere Eiscreme herkommt.«
»Danke, das wissen wir zu schätzen. Ich hab’s schon gesehen.«
»Ich hoffe, das hat Ihnen ein paar mehr Kunden eingebracht.«
»Durchaus.« Er strich sich mit der Hand durch die kurzen Haare. »Deshalb bin ich auch hier. Cerys hat mir erzählt, Sie brauchen ein bisschen Hilfe bei der Hochzeit eines jungen Mannes aus Wells.«
»Ein bisschen.« Poppy lächelte.
»Ich würde mich gern dafür bedanken, dass Ihre Werbung hier in Wells dem Geschäft bei Montgomeryshire Ice Creams so gutgetan hat.« Er strahlte Poppy an. »Daher möchten wir für alle Gäste der Hochzeit Gratiseis spendieren. Wenn es Ihnen hilft …«
»Das wäre großartig«, entgegnete Poppy verblüfft. »Es wäre wirklich eine große Hilfe. Herzlichen Dank.« Sie schüttelte ihm mit Nachdruck die Hand.
»Schön. Dann geben Sie mir Ihre Bestellung telefonisch durch, und ich lass dann eine Tiefkühltruhe liefern.« Er ging zur Treppe, drehte sich aber noch einmal um. »Cerys hat übrigens auch Rhys von Aberrhiw Cider Bescheid gegeben«, meinte er. »Er will auch noch vorbeikommen. Er hat wohl eine Fuhre Cider und Ale abzugeben, die gerade bedenklich nah ans Mindesthaltbarkeitsdatum geraten ist. Und Wein vom Weingut seiner Schwester aus Hereford …«
»Machen Sie Witze?«, rief Poppy. »Oder ist das wirklich wahr?«
Dafydd nickte. »Den Hilfsbereiten helfen die Menschen immer gerne«, bemerkte er tiefgründig und verschwand die Treppe hinunter.
Poppy, die auf einen Schlag alle Getränkesorgen los war, atmete hörbar auf. Sofort kamen ihr hundert neue Ideen, wie sie mehr aus dem Essen machen könnte.
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Kurze Zeit später stand Poppy mit ein paar Körben am Tor der großen Scheune und spähte hinein. Der Anblick, der sich ihr bot, war ein ganz anderer als noch vor einer Woche: Das Stroh, der Schmutz und die rostigen Maschinen waren verschwunden, der Boden und die Wände waren mit Hochdruckreiniger bearbeitet und die zerbrochenen Fensterscheiben sämtlich durch neue ersetzt worden. An den Wänden stapelten sich Tische und Stühle. Langsam sah es nach einem halbwegs glaubwürdigen Festsaal aus.
Rosalyn trug gerade einen der Stühle in die Mitte des Raums. Dabei bewegte sie sich rhythmisch von links nach rechts und wippte mit dem Kopf. Ein leiser metallischer Bassklang durchdrang die Stille. Offensichtlich hörte Rosalyn über Kopfhörer Musik auf voller Lautstärke und tanzte dazu. Als sie den nächsten Stuhl holte, konnte Poppy auch den Song erkennen. »Close To Me« von The Cure.
Poppy lachte leise auf, weil Rosalyn der Band treu geblieben war, die ihrer beider Herzen als Teenager erobert hatte. Wie bezaubert blieb sie stehen. Rosalyn hatte die Augen geschlossen und ein euphorisches Lächeln auf den Lippen. Ganz so, als wäre sie wieder fünfzehn und würde mit Poppy in The Fridge tanzen gehen – befreit und ohne Sorgen.
»Da bist du ja«, flüsterte Poppy. Diese Leichtigkeit hatte sie an der Freundin vermisst, die sie so gut gekannt hatte. Die Art, wie sie sich ohne jede Hemmung bewegte, war magisch. Ein beispielloses Glücksgefühl durchströmte Poppy.
Am liebsten wäre sie zu Rosalyn gelaufen, doch aus der Ferne hörte sie Dais Wagen näherkommen. Also nahm sie hastig ihre Körbe und trat hinaus vors Tor. »Hallo Dai«, rief Poppy laut. Sie hoffte, dass auch Rosalyn sie drinnen hören würde, bevor Dai sie bei ihrem träumerischen Tanz überraschen konnte.
Dai stieg aus und rieb sich die Hände. »Ich freu mich schon. Das wird meine erste richtige Mahlzeit seit Wochen.«
»Hoffentlich schmeckt es dir«, sagte Poppy. Ihr war ein wenig mulmig zumute bei dem Gedanken an Dais und Rosalyns Urteil zu ihrem Probeessen.
»Guten Tag, Poppy. Dai.« Rosalyn trat auf die beiden zu. Ihr Gesicht strahlte noch die rosige Frische des Tanzes aus. »Ich stelle gerade die Stühle für unser Mittagessen raus«, sagte sie.
»Alles klar, ich hol einen Tisch«, bot Dai bereitwillig an und lief los.
Rosalyn wandte sich Poppy zu.
»Hi«, flüsterte Poppy. »Schön dich zu sehen.
«
Rosalyn sah ihr in die Augen. »Ich hab dich vermisst.«
»Und ich dich«, gab Poppy zu und fügte in Gedanken hinzu: seit so vielen Jahren schon.
Sie griff nach Rosalyns Hand und genoss die Wärme der Berührung. Einen Moment lang schlangen sich ihre und Rosalyns Finger ineinander, dann kam Dai mit einem riesigen Tisch auf dem Kopf zurück, und sie lösten den Kontakt widerwillig.
Poppy deckte den Tisch mit mitgebrachten Tellern und holte Thermobehälter aus ihren Körben. Daraus servierte sie Lammfleischscheiben, die sie bei Niedrigtemperatur im Ofen gegart hatte, knusprige Rosmarinkartoffeln und eine Gemüsebeilage aus winzigen jungen Erbsen und Lauch. Dazu gab es eine dunkle Gartenkräutersauce. Zu ihrer Erleichterung war alles noch heiß und das Fleisch saftig und zart. Gespannt sah sie zu, wie Rosalyn und Dai probierten.
»Oh, ist das gut«, schwärmte Dai und himmelte das Stück Lamm auf seiner Gabel an. »So zart und lecker – wie hast du den Geschmack nur so intensiv hinbekommen?«
»Knoblauch und Sardellen.«
»Was?« Dai verzog angewidert den Mund. »Meinst du etwa diese gammeligen kleinen Fische, die manche auf die Pizza tun, damit man nicht zu viel davon isst?«
Poppy musste lachen. »Genau die.«
»Köstlich«, sagte Rosalyn.
»Es ist ein französisches Rezept, leicht abgewandelt auf walisische Art.«
»Die Sardellen schmeckt man überhaupt nicht«, erklärte Rosalyn. »Sie machen das Fleisch nur aromatischer und das Geschmackserlebnis vielfältiger. Großartig!«
»Na gut«, gab Dai zu. »Ich bin zwar überrascht, aber ich muss sagen, es schmeckt wirklich nicht schlecht.« Er langte herzhaft zu. Anschließend spülte er seine Mahlzeit mit ein paar großen Schlucken Ale hinunter. Dann lehnte er sich zurück und strich sich zufrieden über den Bauch. »Ja, das wird Mary auch schmecken. Sehr gut.«
»Schön zu hören, dass du die Bedürfnisse deiner Partnerin so gut kennst«, stichelte Rosalyn, die manierlich wesentlich kleinere Gabelportionen verkostete.
»Das würde ich nicht gerade behaupten«, entgegnete Dai gutmütig. »Vor allem nicht in Marys Hörweite. Aber ich denke doch, dass sie ein so gutes Essen ebenso zu würdigen weiß wie ich.«
Rosalyn lächelte
.
»Da wir gerade von Partnerinnen sprechen«, fuhr Dai fort und sah Rosalyn forschend an. »Ich schätze, Sam freut sich nicht gerade, dass du derart viel Zeit hier oben verbringst.«
Poppys Herz tat einen unangenehmen Satz.
Rosalyn wurde blass. Sie legte das Besteck nieder und räusperte sich. »Nein, sie war nicht erfreut, dass ich jetzt in Teilzeit arbeite. Aber als meine Chefin kann sie sich auch nicht beschweren.«
»Hat sie nicht versucht, dich dazu zu überreden, in London zu bleiben?«
Poppy tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab und wandte den Blick ab.
»Ja, das hat sie versucht. Aber nicht sie kann das entscheiden. Jetzt entschuldigt mich, ich möchte gern noch etwas Wasser trinken.« Sie stand auf und ging zur Stallküche.
Poppy warf Dai einen warnenden Blick zu.
»Was denn?«, fragte er mit Unschuldsmiene.
»Das war eine sehr persönliche Frage.«
»Ich versuche, dir einen Gefallen zu tun. Du musst doch wissen, was mit den beiden ist.«
»Was zwischen Rosalyn und Sam ist, geht mich gar nichts an.«
»Ach nein?« Dai runzelte die Stirn. »Ich bin nicht blöd, Poppy. Ich sehe doch, wie du sie anschaust. Findest du nicht auch, sie sollte dir reinen Wein einschenken?«
»Nein. Lass sie bitte damit in Ruhe. Ich möchte mit ihr befreundet bleiben, und du brauchst diese Scheune für deine Hochzeit.«
Dai grummelte hörbar. »Also, ich finde, du solltest etwas strenger mit ihr sein.«
»Das war ich schon, glaub mir«, erwiderte Poppy, die genau das mittlerweile bereute.
»Hat sie sich je bei dir entschuldigt?« Er verschränkte die Arme. »Hat sie jemals auch nur zugegeben, dass es falsch war, was sie dir in der Schule angetan hat?«
Die Frage überraschte Poppy. Es war so viel geschehen, seit Rosalyn nach Wells zurückgekommen war, dass sie ihrer Freundin deren frühere Vergehen fast unbemerkt vergeben hatte.
»Das ist so lange her«, antwortete sie leise. »Und seitdem ist so viel passiert. Ich finde es ein bisschen übertrieben, ihr jetzt noch eine Entschuldigung abzuverlangen.«
»Ich
finde, es ist das Mindeste, was sie tun könnte.
«
Als Rosalyn zurückkam, verstummten sie. Beide nahmen einen Schluck Ale aus der Flasche und setzten ein künstliches Lächeln auf.
Dann lehnte Dai sich zurück. »Ich muss mich entschuldigen.«
»Ach ja?«, antwortete Rosalyn kühl.
»Wegen der Sache mit dem Rugby.«
Poppy verdrehte enttäuscht die Augen.
»Du weißt schon, als ich dich neulich aufgezogen habe, weil die französische Mannschaft die Engländer fertiggemacht hat.«
»Zum Mitschreiben, Dai: Mir ist englisches Rugby scheißegal«, erwiderte Rosalyn irritiert.
»Wie dem auch sei«, fuhr Dai unbeirrt fort, »jetzt haben die Franzosen auch das walisische Team vernichtend geschlagen, also sitzen wir alle im selben Boot.«
»Hmm.« Rosalyn sah ihn prüfend an. Dann erhob sie sich, nahm die Teller in die eine und ihren Stuhl in die andere Hand und entfernte sich, ein Liedchen summend.
Dai zuckte die Achseln, lauschte dann aber. »Was ist das für eine Melodie?«
Poppy hörte genauer hin, während Rosalyn immer lauter wurde.
»Das ist doch nicht die französische Nationalhymne, oder?«, fragte Dai perplex.
Poppy nickte langsam.
Rosalyn sah über die Schulter und rief ihnen zu: »Habe ich euch eigentlich mal erzählt, dass meine Großmutter Französin war?« Sie grinste Dai frech an und rief im Weitergehen triumphierend »Allez les Bleus!«