Kapitel 40
Rosalyn sah Dais Wagen nach, der die Ausfahrt herunterfuhr. Mit einem Zug leerte sie ihr Sektglas. »Bist du sicher, dass du mir noch mit den Lichterketten helfen willst?«, fragte sie Poppy.
»Ja, klar. Pip und Nain bringen später noch das Geschirr. Sie können auch ein paar übernehmen.«
»Das ist gut. Wir haben nämlich wirklich verdammt viele davon.« Rosalyn lachte.
Sie zog sich das Shirt über den Kopf und warf es auf einen Stuhlrücken. Darunter trug sie ein weißes Unterhemd, unter dem ihre leicht sonnengebräunten Arme besonders gut zur Geltung kamen. Poppys Blick wurde wie von selbst in den Ausschnitt gelenkt, in den das tief geschnittene Unterhemd großzügigen Einblick gewährte. Sie musste schlucken.
»Dann also die Lichterketten«, erinnerte Rosalyn sie.
»Hmm?«, fragte Poppy. »Ach ja. Lichter.« Sie senkte den Blick, als sie hinter Rosalyn hertrottete. Ihre Freundin hatte wirklich eine wunderschöne Figur: einen knackigen Po, athletische Schultern und Arme, sanft geschwungene Hüften und den schönsten Busen der Welt. Poppy hätte verzweifelt gern die Arme ausgestreckt und Rosalyn gestreichelt.
Oh Gott – die Flasche Ale zum Essen war wohl ein Fehler gewesen.
Rosalyn wandte sich um, und Poppys Gesicht war wieder auf einer Höhe mit den zwei zart gerundeten Objekten ihrer Begierde. Ein atemberaubender Blick.
Alkohol? – definitiv ein Fehler.
»Könntest du die mal halten?«, fragte Rosalyn und reichte Poppy eine riesige Schachtel mit Lichterketten. »Ich hole die Leiter.«
»Ja, sicher«, beeilte sich Poppy zu versichern und machte sich rasch am Inhalt der Schachtel zu schaffen.
Rosalyn kam mit der großen Trittleiter zurück und stellte sie mit einem eleganten Schwung auf. Auf ihren Wangen hatte sich ein zarter Roséton ausgebreitet. Sie
lächelte Poppy zu. »Ich fürchte, ich habe zu viel Sekt getrunken. Würdest du das übernehmen?«, fragte sie und zeigte auf die Leiter.
»Klar doch«, murmelte Poppy und schaffte es, ein paar Stufen zu erklimmen, ohne Rosalyn in die Augen oder auf einen anderen Körperteil zu starren. Von oben wagte sie dann einen scheuen Blick nach unten. Scheinbar auch ein Fehler: Rosalyns Ausschnitt, einladend aus den meisten Perspektiven, wirkte von oben betrachtet schlicht göttlich, komplett mit zwei animierend prallen Brustspitzen.
»Los geht’s« sagte Rosalyn und reichte ihr die erste Lichterkette.
»Danke«, krächzte Poppy und räusperte sich.
Rosalyn schien das nicht zu bemerken. Sie hielt den Blick starr auf den Boden gerichtet, während sie die Lämpchen hochhielt.
Rasch schnappte Poppy sich die Lichter und stieg höher hinauf. Die Leiter begann leicht zu schwanken. »Könntest du wohl die Leiter halten?«, bat sie ängstlich.
Rosalyn schaute zu ihr hoch. Poppys Knie unter dem schwingenden Rock befanden sich für sie jetzt auf Kopfhöhe. »Mmm«, willigte sie widerstrebend ein und umfasste die Leiter fest mit beiden Armen.
Poppy brachte die Lichterkette an einem Rohr an. Dann stieg sie sprossenweise wieder hinab und glättete dabei das Kabel an der Wand.
»Äh … Poppy?« Rosalyns Stimme klang seltsam gedämpft. »Vielleicht solltest du …«
Poppy konnte sie nirgends mehr entdecken, dann aber spürte sie ihre Wange direkt an ihrem Oberschenkel unter dem Rock.
»Oh«, keuchte sie überrascht. Die unerwartete Berührung und Rosalyns Atem zwischen ihren Schenkeln waren über die Maßen erregend. Sie konnte die warmen Lippen nur Zentimeter vom Zentrum ihrer Lust entfernt spüren und konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken.
Sie klammerte sich an der Leiter fest, um nicht den Halt zu verlieren, aber begünstigt durch die Bewegung wurde aus der Berührung ein handfester Kuss auf ihre Oberschenkel. Oh Gott! Flammendes Verlangen schoss durch ihren Körper.
Da unterbrach Nains schneidende Stimme die intime Situation: »Pip, halt dir die Augen zu.«
Poppy erstarrte.
Nain und Pip standen am Scheunentor
.
Auf Poppy hatte das dieselbe Wirkung wie ein Schwall Eiswasser. Nichts ließ sexuelles Verlangen so schnell verschwinden wie ihre Großmutter.
Rosalyn hechtete so ruckartig unter der Leiter hervor, dass die ins Wanken geriet und Poppy schnell abspringen musste, um nicht zu fallen. Sie landete direkt in Rosalyns stützenden Armen, so dass sich ihr Gesicht und Rosalyns Busen wieder auf einer Höhe begegneten.
»Wende dich ab, Pip, das ist nicht für deine Augen bestimmt«, rief Nain und hielt sich selbst die Augen zu.
Rosalyn und Poppy stoben auseinander wie zwei ertappte Teenager.
Pip schüttelte unwillig den Kopf. »Nain, ich bin elf Jahre alt. Ich weiß schon alles über die Bienchen und Blümchen und über die Bienchen und Bienchen.«
Nain verzog den Mund. »Das mag ja sein. Aber ich bin jedenfalls auf so eine Vorführung nicht scharf.«
Rosalyn fing sich als Erste wieder. »Natürlich, Mrs Jenkins. Das war nur ein Missverständnis, ein unglücklicher Leiterunfall.« Dann ging sie entschlossen auf die beiden zu. Locker plaudernd zeigte sie ihnen die Küche und Nebenräume.
Poppy stand wie paralysiert da und schaute Rosalyn nach, wie sie Pip und Nain zu ihrem alten Morris Minor begleitete. Als Rosalyn sich umwandte, war die Sehnsucht in ihrem Blick unverkennbar. Den ganzen Nachmittag hindurch spürte Poppy Rosalyns Gegenwart, sobald sie den Raum betrat. Und ihr war klar, dass Rosalyn ebenso fühlte.
Später kam auch Poppys Vater vorbei, um mit Rosalyn einen Auftrag für ihn im Jagdhäuschen zu besprechen. Die beiden sprachen vertraut wie alte Freunde miteinander; das gegenseitige Einverständnis war unübersehbar.
Am Abend hing nicht nur die Beleuchtung; auch Tische und Stühle waren aufgestellt und Geschirr und Besteck standen für den großen Tag bereit.
Nain und Pip waren am Ende so müde und reizbar, dass Poppy sie gern nach Hause geschickt hätte. Sie ging nach hinten in die kleineren Nebenräume, um Rosalyn zu fragen. Aus der Küche kam sie ihr entgegen. Poppy konnte den Blick einfach nicht von ihr abwenden, und Rosalyn starrte ebenso bezaubert zurück.
Keine von beiden sagte ein Wort. Rosalyn streckte die Hand aus, und wie von selbst schoben sich Poppys Finger in ihre. Sie standen jetzt nah beieinander; zwischen ihnen nichts als Wärme und Anziehungskraft. Rosalyn neigte den Kopf, und Poppy spürte heißen Atem auf ihren Lippen. Erwartungsvoll öffnete sie den
Mund und ließ sich in Rosalyns Umarmung fallen. Dann schloss sie die Augen und gab dem sanften Drängen der Lippen nach.
Poppy hatte noch nie einen so himmlischen Kuss erlebt. Ihr Mund kribbelte vor Lust, und die Empfindung breitete sich wellenartig in ihrem ganzen Körper aus. Sie küssten sich voller Hingabe und Zärtlichkeit, als gäbe es auf der ganzen Welt kein größeres Vergnügen. Poppy legte Rosalyn die Hand um die Hüfte und zog sie noch näher heran. Ihre beiden Körper schienen zu einem zu werden, Brüste und Schenkel miteinander zu verschmelzen. Poppy hätte Rosalyn am liebsten nie wieder losgelassen.
Doch in diesem Moment hörten sie Nain und Pip ungehalten draußen murmeln. Der Zauber verflog, und sie fuhren aufgeschreckt auseinander. Rosalyn griff nach Poppys Hand und ließ diese erst im letzten Moment los. Überwältigt und sprachlos wandte sich Poppy ab und taumelte mit den anderen beiden ins Freie.
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Auf dem Heimweg fühlte Poppy die schmerzliche Entfernung mit jedem Schritt. Euphorie und Sehnsucht brannten in ihr und schürten das Verlangen, umzukehren und sich Rosalyn ganz hinzugeben. Aber noch größer war die Angst. Also lief sie weiter wie in Trance. Zu Hause begann Nain einen lautstarken Streit mit Iwan auf Walisisch. Emma leistete Poppy Gesellschaft am Küchentisch und achtete ebenso wenig auf ihren aufgeschlagenen Roman wie Poppy auf ihre unvollendete Menüplanung.
»Warum malt sie überhaupt, wenn ihre Bilder doch nichts einbringen?«, tönte Nains Stimme giftig vom Wohnzimmer herüber. Poppy fühlte sich immer unwohl, wenn sich die beiden vor Emma in einer ihr fremden Sprache unterhielten.
»Warum tut überhaupt irgendjemand irgendetwas?«, gab ihr Vater zurück. »Warum putzt du die Kirche? Warum verbringe ich Stunden damit, eine Küchentischplatte von unten zu glätten? Aus dem besten Grund der Welt, Mam: weil sie es liebt.«
Emmas Mund zuckte fast unmerklich.
Nain grummelte verärgert und erhob sich dann ächzend. »Na schön, ich gehe ins Bett. Meine Brille ist unauffindbar, deshalb muss ich wohl Radio hören.« Und auf Englisch rief sie durch die Küchentür: »Gute Nacht, ihr zwei!«
»Gute Nacht, Nain«, grüßte Poppy zurüc
k
»Gute Nacht, Eleri«, sagte Emma.
Als die Haustür hinter Nain ins Schloss fiel, lächelte Poppy ihrer Mutter zu. Die zog kommentarlos eine Lesebrille von einem Stuhlsitz unter dem Tisch hervor und grinste zufrieden.
»Mum!«, rief Poppy überrascht. »Hast du die etwa …?« Dann kicherte sie, als ihr eine Erkenntnis dämmerte. »Seit wann kannst du die beiden schon verstehen?«
Emma zuckte die Achseln. »Seit ein paar Jahren. Natürlich nicht jedes Wort, aber doch genug. Bisher haben sie mich aber noch nie aus der Fassung bringen können.« Mit tiefer Zuneigung sah sie zu ihrem Mann im Nebenzimmer hinüber.
Iwan saß hinter seiner Zeitung, hatte die Füße hochgelegt und ein kleines Glas Whisky auf der Armlehne abgestellt.
»Aber«, fuhr ihre Mutter mit sanfter Stimme fort, »warum erzählst du mir denn nicht einfach in unserer Sprache, was dich bedrückt?«
»Ach, Mum«, seufzte Poppy. »Ich weiß überhaupt nichts mehr. Werde ich langsam wahnsinnig, oder soll ich um eine Liebe kämpfen, die für mich bestimmt ist, oder bilde ich mir nur ein, dass etwas zwischen uns ist?«
»Dass etwas zwischen euch ist, kann nun wirklich jeder sehen, der Augen im Kopf hat.«
Poppy fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Ich werde noch verrückt.« Sie warf ihrer Mutter einen verzweifelten Blick zu. »Sie überwältigt mich einfach. Ob sie mich nun mit dummen Vorurteilen zur Weißglut bringt oder sich kaltherzig gibt oder plötzlich als die liebste Frau der Welt herausstellt – ich habe immer nur sie im Kopf. Sobald sie auftaucht, existiert niemand anderes mehr für mich.« Sie legte die Hand auf ihr Herz. »Sie ist wie ein Teil von mir.«
»Ist das denn schlecht?«, fragte ihre Mutter.
»Es ist schrecklich und wundervoll zugleich. Eben noch bin ich so glücklich wie nie, im nächsten Moment schon ängstige ich mich zu Tode. Ich weiß einfach nicht weiter.«
Ihre Mutter neigte den Kopf zur Seite. »Ich fand immer, ihr beide wart ein tolles Paar.«
»Warum das denn?« Poppy wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
Emma lehnte sich zurück und legte das Buch beiseite. »Ihr wart in so vieler Hinsicht grundverschieden. Das gab zwar jede Menge Anlass zur Reibung, aber es war, denke ich, auch eure größte Stärke. Rosalyn hat dich dazu gebracht, dich auch
mal von deiner härteren Seite zu zeigen. So warst du denen nicht so ausgeliefert, die deine gütige Art nur schamlos ausnutzen wollten.« Sie nahm Poppys Hand und drückte sie. »Aber durch deine Freundlichkeit ist wiederum Rosalyn viel weicher geworden. Du hast ihr geholfen, die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu erkennen. Du hast ihr beigebracht, was Menschlichkeit ist. Ich glaube, bei euch hat jede die andere perfekt ergänzt. Ihr seid so großartige Frauen geworden!« Emma lächelte. »Überleg nur einmal, wie sich dieses Dorf verändert hat, seit Rosalyn wieder da ist. Es erwacht regelrecht zum Leben.«
Poppy schwieg erschüttert.
»Vor allem aber«, fuhr ihre Mutter fort, »habt ihr fest zueinander gehalten. Nichts hat mir als Mutter mehr Freude gemacht, als zu sehen, was für eine großartige Unterstützung du in ihr hattest.« Sie sah zu Boden. »Und nichts war schmerzhafter, als zusehen zu müssen, wie sie dir genommen wurde – und nichts für dich tun zu können.«
»Oh Mum.« Gerührt drückte Poppy ihrer Mutter die Hand. »Ich habe einfach … Angst.«
»Ich weiß. So am Abgrund zu stehen, ist für uns alle beängstigend. Und du brauchst noch etwas mehr Mut als die meisten, um ins kalte Wasser zu springen.«
Poppy küsste ihre Mutter auf die Wange und gab dann auch ihrem Vater einen Gutenachtkuss. Müde und schweren Herzens stieg sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Sie setzte sich aufs Bett und starrte aus dem Bullaugenfenster.
Einer Eingebung folgend zog sie ein hölzernes Kästchen hinter dem Kopfende des Bettes hervor. Sie pustete eine Staubschicht vom Deckel und öffnete ihn vorsichtig. Drinnen lagen Hunderte gefalteter Notizen auf teurem Briefpapier. Jede davon hatte sie als junges Mädchen einmal unter ihrem Kopfkissen gefunden. Poppy nahm die oberste Notiz heraus. Es war die letzte, die sie erhalten hatte.
»Ich bin immer für dich da«, stand da mit türkisblauer Tinte in Rosalyns geschwungener Handschrift. Poppy fuhr die Buchstaben mit dem Finger nach, faltete den Zettel dann wieder und legte ihn zurück.
Reglos saß sie im dunklen Zimmer und murmelte leise: »Warst du aber nicht.«