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Daniel
Daniel Weissman konnte es nicht glauben. Als sie in die Angel Station einfuhren, war sie um die Ecke geschlittert, und er hatte den Atem angehalten, während er die Tür aufhielt, wie in einem Taylor-Swift-Song über einen harmlosen Beginn, ein Happy End und eine Liebe, die schon immer sein sollte. Nicht dass Daniel in dieser Hinsicht rührselig klingen wollte. Er fühlte sich nur jedes Mal seltsam und kribbelig und wurde sentimental, wenn er an sie dachte. Diese Wirkung hatte sie auf ihn. Daniel fiel es schwer, seine Fantasie im Zaum zu halten.
Er versuchte, von seinem Stehplatz aus einen Blick auf sie zu erhaschen – sie hatte sich zur Mitte des Waggons durchgeschlängelt, und er konnte knapp ihren Kopf erkennen. Ihre Haare sahen immer zerzaust aus, aber nicht so, als ob sie nicht auf sich achtete. Sie waren zerzaust wie bei jemandem, der gerade von einem großen Abenteuer zurückkehrt – oder vom Strand. Vermutlich hatte diese Frisur einen bestimmten Namen, aber Daniel kannte ihn nicht. Er wusste nur, dass sie ziemlich genau sein Typ war. Es war zwar peinlich, aber in einer Reklame in der Werbepause für Die Lustvilla
kam ein Mädchen vor, das genauso aussah wie sie, und wenn Daniel sie eine Weile nicht gesehen hatte, konnte ihn sogar das wehmütig und nachdenklich stimmen. Es war wirklich beschämend.
Die Lustvilla
war Daniels sommerliche Reality-TV-Dröhnung: Romantik, Verführung, gute Laune. Daniel tat, als würde es ihn nerven, dass der Fernseher jeden Abend um 21 Uhr für die Serie eingeschaltet sein musste, aber er war immer wie zufällig um 20.58 Uhr im Wohnzimmer und machte es sich mit seiner Tasse Tee in dem großen Sessel mit der besten Sicht auf den Breitbildfernseher bequem. Sein Mitbewohner Lorenzo tat, als würde er den angeblichen Zufall nicht bemerken, und sie sahen sich die Sendung jeden Abend gemeinsam an. Sie sprachen nicht darüber – und niemand hätte es bei Lorenzos Verhalten vermutet –, aber sie waren beide auf der Suche nach einer festen Beziehung. Also war es durchaus informativ, im Rahmen einer täglichen Show, die echte Beziehungen zeigte, zu sehen, was Frauen mochten und was nicht. Daniel benutzte die Sendung, um sein Selbstvertrauen aufzubauen. Er machte sich Notizen und lernte Lektionen. Gestern Abend hatte der Typ, der dort offenbar als eine Art Underdog dabei war, endlich seine andere Hälfte gefunden, und hier war Daniel, in diesem Moment, heute. Er wollte nicht der Underdog in seinem eigenen Leben sein. Diese Show gab ihm das Gefühl, es sich selbst schuldig zu sein, es mit dieser Frau wenigstens zu versuchen. Nur um zu sehen, was passierte.
Daniel konnte nicht umhin, über die glückliche Fügung dieses Morgens zu staunen. Wie groß war die Chance, dass sie an dem Morgen, an dem die Anzeige erschienen war, genau an ihm vorbeistolpern würde? Sie waren nur ein paarmal, einschließlich heute, zur selben Zeit im selben Zug gewesen. Er zwang sich, tief einzuatmen. Er hatte es getan, er hatte eine Anzeige geschaltet in der Rubrik Missed Connections,
damit sie vielleicht, hoffentlich, auf ihn aufmerksam würde. Nun bekam er aber kalte Füße. Was, wenn sie ihm ins Gesicht lachte und ihn einen Loser nannte? Einen Träumer? Was, wenn sie allen in der Arbeit – ihrer Arbeit oder seiner Arbeit – erzählte, wie erbärmlich er war. Wie er überhaupt darauf kommen konnte zu glauben, er sei gut genug für sie. Vielleicht würde sie es auf Twitter viral verbreiten oder sein Bild auf ihrer Instagram-Seite posten. Einerseits wusste er, dass sie zu nett war, um je so grässlich zu sein, aber andererseits flüsterte eine leise Stimme in seinem Hinterkopf, dass genau das passieren würde. Er schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu verscheuchen. Die Liebe trieb ihn in den Wahnsinn. Oder war er vielleicht wahnsinnig vor Liebe?
»Mann, das ist keine Liebe«, hatte Lorenzo gesagt. Er hatte den Blick nicht einmal vom Fernseher abgewandt, um sein vernichtendes Urteil zu fällen. »Du willst sie nur flachlegen.«
Daniel wollte sie nicht nur »flachlegen«. Darum ging es überhaupt nicht. Aber vermutlich sollte er sie nicht schweigend und aus der Ferne anstarren. Das war ein bisschen seltsam. Es war nur so … na ja … Die Regeln, nach denen man eine Frau scheinbar aus heiterem Himmel ansprechen konnte, waren so undurchschaubar. Er konnte sich ihr wohl kaum eiskalt nähern wie irgendein U-Bahn-Psychopath, den sie abschütteln müsste, indem sie ausstieg und so tat, als wäre sie bei ihrer Station angekommen, um dann schnell wieder in einen anderen Waggon zu schlüpfen. Aber er wusste auch, wenn irgendwelche Typen in seinem Leben ihm sagen würden, dass sie eine Frau, mit der sie nie ein Wort gewechselt hatten, zu verführen versuchten, indem sie eine Anzeige in die Zeitung setzten und sie dann irgendwo hinter Moorgate verstohlen anstarrten, würde er ihnen sanft nahelegen, dass es vermutlich nicht der moralisch einwandfreieste Plan war. Er versuchte
, romantisch zu sein, aber gleichzeitig sein Gesicht zu wahren. Er hoffte, er hatte die richtige Balance gefunden.
In seinem Kopf lief die Fantasie so ab: Sie würde die Zeitung lesen und seine Nachricht sehen und prompt aufblicken, und er würde genau dort stehen, neben den Türen, wie er es geschrieben hatte. Sie würden Blickkontakt aufnehmen. Sie würde schüchtern lächeln und er einfach »Hallo« sagen. Das wäre der Anfang vom Rest ihres Lebens. Wie im Film. Und in diesem Film stünden nicht fünf spanische Touristen über einen Stadtplan gebeugt zwischen ihnen, würden nicht unverständliches Zeug brabbeln, aus dem hin und wieder ein falsch ausgesprochenes »Leicester Square« schwappte. Scheiße. Wo war sie? Oh, es war schrecklich.
Der Zug fuhr in London Bridge ein, und als er sie endlich entdeckte und sah, wie sie sich zum Ausgang vordrängte, war ihm klar, dass der Moment, auf den er gehofft hatte, nicht stattfinden würde. Es gab keinen Blitzschlag. Die Welt würde sich nicht verlangsamen, während sich ihre Blicke trafen. Sie hatte ihn kaum wahrgenommen, als er die Türen aufhielt und ihr somit half, in den Zug zu steigen. Sie war in Eile und abgelenkt, ihr »Danke« war nur im Vorbeigehen dahingehaucht. Während er versuchte, mit ihr Schritt zu halten, wurde Daniel bewusst, dass er von sich selbst und von der Situation enttäuscht war. Er hatte sich diese Szene wochenlang ausgemalt, und jetzt … nichts.
Auf einmal blieb sie inmitten der aussteigenden Pendler stehen, um irgendetwas auf ihrem Handy nachzusehen, aber er konnte schlecht seine Schritte ebenfalls verlangsamen, geschweige denn neben ihr stehen bleiben, oder? Daher ging er weiter und wartete am Ausgang. Er war sich nicht sicher, worauf. Vermutlich einfach darauf, sie zu sehen. Sie noch einmal zu sehen, an dem Tag, an dem er den ersten Schritt gewagt hatte. Er wollte sich in Erinnerung rufen, dass es echt war, dass sie
echt war, auch wenn sein Plan nicht aufgegangen war.
Wenn er Lorenzo berichten würde, wie der Morgen gelaufen war, würde er diesen Teil weglassen – den Teil, wo er auf sie wartete. Was tat er hier eigentlich? Er würde nicht wirklich auf sie zugehen und sie ansprechen. Sie hatte das Recht zu existieren, ohne dass er sie belästigte. Er schüttelte den Kopf. Komm schon, Mann, reiß dich zusammen
, befahl er sich. Und machte sich auf den Weg zu seinem Büro. Sein Herz hämmerte laut und schnell und zerstörerisch in seiner Brust.
Er hatte es vermasselt.
Er war zutiefst enttäuscht.
Sie hatte seine Anzeige nicht gesehen.
Was für eine verschwendete Geste.
Du verdammter Idiot
, murmelte er vor sich hin, ohne zu ahnen, dass es genau seine Anzeige war, die Nadia oben auf dem Bahnsteig aufhielt.