9
Daniel
»Ich werde dich wirklich bitten müssen, dich zu verpissen«, sagte Daniel zu Lorenzo, während er kochendes Wasser in seinen Arsenal-Lieblingsbecher goss. »Ich werde keinen Dating
-Guide
lesen. Absolut nicht.«
Er schob sich um seinen Mitbewohner herum zum Kühlschrank, nahm die Plastikpackung mit Milch heraus und schüttelte sie, als er begriff, dass sie seltsam leicht war. Er sah sie betont an und seufzte theatralisch auf.
»Lorenzo, hast du eine leere Milchpackung zurück in den Kühlschrank gestellt?«
Lorenzo sah von der Packung zu Daniels hochgezogenen Augenbrauen.
»Heute ist ein Notreserven-Tag«, meinte Lorenzo schulterzuckend. Er öffnete die Schublade, in der sie die Portionstöpfchen mit H-Milch aufbewahrten, die sie zum Spaß aus Hotels und von Frühstücksbüfetts mitgehen ließen. Daniel war sich nicht sicher, wie es eigentlich angefangen hatte, aber inzwischen gab es eine eigene Schublade dafür, für diese H-Milch-Töpfchen, zu denen sich seit einiger Zeit auch H-Milch-Tütchen gesellten.
»Die liegen voll im Trend«, hatte Lorenzo vielsagend erklärt, als er einmal mit zehn Tütchen von einem Hochzeitswochenende in Edinburgh zurückkam. »Die Tütchen sind viel leichter zu öffnen. Und auch umweltfreundlicher.«
In manchen Wochen kauften sie überhaupt keine richtige Milch und lebten nur aus der H-Milch-Schublade. Noch seltsamer war jedoch, dass Daniel und Lorenzo nicht wirklich darüber redeten. Es war einfach etwas, was sie taten. Keine Milch im Kühlschrank? Dann eben Zeit für die Milchschublade. Normalerweise passierte es am Ende der Woche, an einem Freitag, daher waren sie heute wenigstens konsequent bei ihren inkonsequenten Milchkäufen.
Als kleine Geste der Entschuldigung war es ein leicht zu öffnendes Tütchen, das Lorenzo Daniel jetzt hinhielt. Daniel nahm es kopfschüttelnd entgegen. Manchmal kam es ihm so vor, als ob zwischen ihnen eine Art »Joey-und-Chandler«-Dynamik herrschte … und das war vermutlich nichts Gutes.
»Ich sag nur, sieh’s dir einfach mal an«, meinte Lorenzo, nahm sich selbst ein Tütchen und riss es mit den Zähnen auf. Er trank es einfach so, in einem Zug.
»Das ist doch für Mädchen!«, sagte Daniel. »Vermutlich Mädchen, die Jungen aufreißen wollen! Ich will keine Jungen aufreißen!« Er hielt seinen Tee am Becherrand fest, kam zu dem Schluss, dass er zu heiß war, und nahm ihn am Henkel in die andere Hand. »Wenn ich ein Mädchen wäre, das Jungen aufreißen will, könnte das Buch richtig toll sein, aber das bin ich nicht, daher werde ich allein, ohne Buch, vorgehen«, erklärte er und ergänzte dann abwehrend: »Ich brauche kein Buch, das mir sagt, wie man eine Frau anquatscht.«
Lorenzo nahm das Exemplar von Schnappt euch die Jungs!
vom Tisch, wo er es am Abend zuvor für Daniel hatte liegen lassen.
»Ich sage ja nur«, intonierte Lorenzo, »dass jeder in der Arbeit genauso skeptisch war wie du, bis auf die Frau, die es bestellt hatte. Und dann hat sie es nacheinander den fünf Mädchen im Team zu lesen gegeben, und nacheinander hatten sie alle Geschichten darüber zu erzählen, wie sie ausprobiert haben, was dieser …« Er sah auf den Umschlag, um sich an den Namen des Autors zu erinnern. »Grant Garby sagt, und jetzt sind die meisten von ihnen verlobt.«
»Aber«, wandte Daniel ein und schloss die Augen, als ob er sehr, sehr erschöpft wäre. »Das sind Frauen. Die Männer anmachen.«
Lorenzo schüttelte den Kopf. »Na ja, sieh mal, ich dachte, ich sollte mir das ansehen, zu Recherchezwecken, und es ist
schließlich mein Job, die PR für Bücher zu machen, auch wenn ich für dieses hier nicht die PR gemacht habe. Den Markt kennenlernen und das alles. Und er ist ein verdammtes Genie. Grant Garby. Er hat diese ganze YouTube-Serie und alles. Es hat klein angefangen, aber seit es erschienen ist und sich herumgesprochen hat, hat er um die hunderttausend Exemplare verkauft. Die Mädchen schwören auf ihn, aber er meint, die Typen sollten sein Zeug auch lesen.«
Daniel trank seinen Tee aus und stellte den leeren Becher in die Spüle, wo er zwei Tage stehen würde, bis Daniel bei dem Spülmaschinen-Patt zwischen ihm und Lorenzo schließlich einknicken und sie selbst ausräumen würde, um Platz für das schmutzige Geschirr einer ganzen Küche zu schaffen, und der ganze Kreislauf wieder von vorn beginnen konnte.
»Warum brauchst du denn überhaupt Hilfe, um Frauen anzumachen? Das ist doch buchstäblich das Einzige, worin du gut bist.«
»Sehr nett«, bemerkte Lorenzo, nur halb beleidigt. »Und, mein Freund, genau deshalb bin ich ja so clever: ständiges Üben.«
»Ständiges Üben.«
»Ständiges Üben. Christen gehen ja auch nicht einmal zur Kirche und sagen anschließend, dass sie für immer Christen sind. Sie gehen jeden Sonntag zur Kirche, um ihre Religion zu praktizieren. Ich bin kein Casanova, weil ich ein paarmal Glück mit Mädchen hatte – ich heiße The Closer, weil ich die Fähigkeiten praktiziere, die man braucht, um The Closer zu sein.«
»Das ist widerlich«, sagte Daniel mit einem Blick auf seine Uhr. »Niemand nennt dich The Closer.«
»Ich nenne mich The Closer.«
»Ich wiederhole: Das ist widerlich.«
Lorenzo tat einen Schritt, um Daniel den Weg aus ihrer gemeinsamen Küche zu versperren. »Hör zu. Ich mache mir Sorgen um dich, Mann. Verdammt, ich wünsche dir, dass diese Sache klappt. Okay? Und ich sage dir, lies das Buch.«
Daniel fing den Blick seines Freundes auf, der in einem Anfall von Verlegenheit angesichts seiner Offenheit prompt wegsah und zur Seite trat. Ihre Beziehung war nicht einfach, aber Lorenzo hatte sich eindeutig gebessert, seit Daniels Dad gestorben war, und Daniel nahm an, dass es das war, worauf er abzielte: Lorenzo wollte, dass Daniel etwas hatte, was für ihn klappte. Lorenzo sorgte sich auf die einzige Art, die Lorenzo kannte.
Daniel nahm das Buch entgegen.
»Na schön«, sagte er. »Ich werd’s mir ansehen.«
Lorenzo klatschte in die Hände, begeistert, wieder einen Menschen beschwatzt zu haben, sich seinem Willen zu beugen. Daniel fragte sich, ob er es daraus gelernt hatte – aus dem Buch.
»Kapitel sechs, Kumpel, das ist es. Das musst du unbedingt ausprobieren.«
»Kapitel sechs«, wiederholte Daniel. »Verstanden.«
Auf dem Weg zur Arbeit fühlte sich Daniel, als ob ein riesiger Scheinwerfer auf seinen Rucksack gerichtet wäre, der die Tatsache erhellte, dass er einen Dating-Guide in seinem Besitz hatte. Er würde sich zu Tode schämen, damit ertappt zu werden, und war besorgt, bei einer falschen Bewegung könnte der Rucksack von seiner Schulter rutschen und sein Inhalt unter den musternden Blicken aller anderen in der U-Bahn herauspurzeln. Was, wenn sie es sah, Nadia? Seine Paranoia war so groß, dass er es fast schaffte, sich einzureden, die Dating-Guide-Polizei würde jeden Waggon durchsuchen und alle, die einen Dating-Guide bei sich hatten, auffordern, vorzutreten. Er stellte sich vor, wie er vor jedem, einschließlich Nadia, erklären musste, dass er eine gebundene Ausgabe von Schnappt euch die Jungs!
hatte, und wie er nie wieder mit der U-Bahn fahren können würde. Er hatte den Dating-Guide, damit er mit Nadia vorankam, aber wenn sie sehen würde, dass er ihn hatte, würde er sie verlieren, bevor es überhaupt begonnen hatte, so viel stand fest.
Er war erleichtert, dass sie heute gar nicht im Zug war.
»Mein Freund, wie geht’s dir heute?«, begrüßte Romeo ihn, als er durch die Glastüren seines Büroturms schlüpfte.
»Ich habe einen Dating-Guide!«, erklärte Daniel entnervt, nur damit es jemand – irgendjemand – wusste. Er konnte die Schuld nicht länger mit sich herumtragen. Er musste erlöst werden.
»Gut für dich!«, meinte Romeo, völlig unbeirrt von Daniels unlogischer Antwort. So war das mit Romeo: Er freute sich einfach, am Leben zu sein, und freute sich, dass alle anderen es auch waren.
Daniel wühlte in seinem Rucksack und holte den Dating-Guide hervor, um ihn Romeo zu zeigen. »Er heißt Schnappt euch die Jungs!
«, sagte er panisch. »Lorenzo hat ihn mir aufgedrängt.«
»Oh.« Romeo nahm das Buch entgegen. »Bist du schon zu Kapitel sechs gekommen? Meine Schwester hat es gelesen, und sie hat gesagt, Kapitel sechs hätte ihr Leben verändert.«
»Kapitel sechs? Nein, nein, ich habe Kapitel sechs nicht gelesen. Ich habe gar nichts davon gelesen!« Daniel schüttelte den Kopf. »Ich muss keinen Dating-Guide lesen!«
Romeo zuckte die Schultern und blätterte ihn durch. »Na ja, aber was kann es schon schaden?«, meinte er nicht unvernünftig. »Wenn du ihn nicht brauchst, warum machst du dich dann damit verrückt, dass du ihn hast?«
Daniel machte ein mürrisches Gesicht. »Ich muss los«, sagte er, nahm den Guide und stopfte ihn wieder in seinen Rucksack. Er beugte sich zu Romeo vor und dämpfte seine Stimme.
»Sag es niemandem«, bat er ihn und ging weiter.
Darauf zu warten, jemanden zu finden, mit dem du gern flirten würdest, ist, als würdest du darauf warten, die Bühne zu betreten, um deinen Text zu lernen
, hieß es in Kapitel sechs. Daniel hatte zehn Minuten an seinem Schreibtisch gesessen, bevor er Percy bat, einen Konferenzraum für ihn zu buchen – den privatesten Konferenzraum ganz hinten in der Ecke, wo niemand auf dem Weg irgendwo anders hin an der Glasfront vorbeilaufen würde. Dort saß er jetzt, den Guide in den Händen. In der Einführung stand, dass das Buch für heterosexuelle Frauen bestimmt sei, Grant Garby aber tatsächlich auch mit Männern zusammenarbeitete, denn die Wurzel jeder Verbindung ist das Menschsein, und wir sind alle Menschen.
Bis auf Lorenzo
, dachte Daniel düster, und dann bekam er prompt ein schlechtes Gewissen.
Kapitel sechs war im Grunde eine lange Liste von Tipps, wie man flirtete und, was noch wichtiger war, wie man mit Fremden flirtete. Daniel war ungewollt gefesselt.
Wenn du seit einer Weile kein Date mehr hattest, ist es leicht zu glauben, dort draußen herrsche ein Mangel an potenziellen Männern,
hieß es in dem Buch. Aber die Gelegenheit, Fremde zu Freunden zu machen, bietet sich überall – du musst nur den Mut haben, sie anzusprechen
.
Der erste Tipp war einfach: Blickkontakt aufnehmen. Daniel dachte darüber nach. Den Blick von Leuten aufzufangen war, ehrlich gesagt, ganz schön mutig: Im Allgemeinen hielt Daniel den Kopf gesenkt, wenn er irgendwohin ging, und achtete kaum darauf, wer ihm auf dem Weg begegnen könnte. War das nicht … normal?
Okay, das kann ich
, dachte Daniel bei sich. Blickkontakt. Ganz einfach
.
Er legte das Buch auf den Stuhl neben sich, deckte es mit ein paar Unterlagen ab, die er mitgebracht hatte, und drehte das Schild an der Tür des Konferenzraums auf »Belegt« um.
Er ging zur Personalküche am anderen Ende seiner Etage. Das Buch hatte recht – sein Instinkt war es, den Blick fest auf seine Schuhe zu richten, während er ging, oder vielleicht entschlossen vor sich, auf sein Ziel. Das Buch hatte hinterfragt, wie freundlich oder ansprechbar er damit wohl aussehen musste. Berechtigter Punkt
, überlegte Daniel. Okay
. Er erreichte die Küche, tat eine Minute lang so, als würde er irgendetwas suchen, entschied, sich ein Glas Wasser zu nehmen, und machte dann auf dem Absatz kehrt, um zurück zum Konferenzraum zu gehen – aber diesmal in einem langsameren Tempo. Er zwang sich, den Blick schweifen zu lassen, was sich verletzlich und entblößend anfühlte. Aber dann traf sein Blick den von Meredith, einer flotten Dreißigerin, die eine ähnliche Rolle hatte wie er, aber in einem anderen Team.
Puh!
, dachte Daniel und sah rasch weg. Blickkontakt!
In dem Buch stand auch, man solle lächeln, keine Angst davor haben, die andere Person zur Kenntnis zu nehmen, und vielleicht Hallo sagen. Das war an und für sich keine radikale Idee – im Grunde plädierte Grant Garby für Höflichkeit –, aber es fühlte sich entblößend an. Als würde man ein Schild hochhalten, auf dem »Single und auf der Suche« stand, und das war doch eher abschreckend, oder? Daniel ging weiter. Er warf einen verstohlenen Blick über die Schulter, aber Meredith war verschwunden. Wenigstens starrte sie ihm nicht nach und dachte, was für ein Freak er war.
Okay, die nächste Person, mit der ich Blickkontakt aufnehme, werde ich anlächeln
, coachte sich Daniel. Als er aufsah, starrte Percy ihn an. Daniel lächelte breit.
»Was tust du denn da?«, fragte Percy.
»Ich … lächle«, sagte Daniel.
»Warum läufst du denn im Büro auf und ab, als ob du eben erst festgestellt hättest, dass du zwei Beine hast?«
»Nein«, sagte Daniel. »Ich bin nicht, ähm … ich werde …«
Percy sah ihn an, versuchte zu verstehen, was Daniel nicht sagte. Meredith kam auf sie zu und sagte schüchtern »Hey, Daniel«, während sie weiterging.
»Hey«, sagte Daniel zu ihrem Hinterkopf. Sie wandte sich um und sah ihn über die Schulter an, und dann war sie verschwunden.
Percy sah Daniel an und dann zurück zu Meredith.
»Seltsam«, sagte er leise und setzte sich in Bewegung, um an ein klingelndes Telefon zu gehen.
In der Mittagspause ging Daniel zum Markt, mit dem einzigen Ziel, Blickkontakt aufzunehmen. Das hatte er bei Meredith nicht richtig gemacht – er hatte vergessen zu lächeln! –, aber sie war später eigens noch einmal vorbeigekommen, um Hallo zu sagen. Jetzt verstand Daniel die Idee dahinter – wenn er es üben konnte, in der Nähe von Frauen mutig zu sein, dann konnte er sich, wenn es irgendwann darum ging, mit Nadia zu reden, sicherer sein, dass er es nicht vermasseln würde. Zu Fremden Blickkontakt aufzunehmen und sie anzulächeln – und, wie es in Kapitel sechs hieß, den Mut zu finden, mit Fremden zu plaudern –, das alles half, den Flirtmuskel aufzubauen, sodass er bereits kräftig war, wenn man später auf die Person traf, auf die es vielleicht wirklich ankam.
Es ist wie ein Fitnessstudio, aber fürs Flirten
, hatte Grant Garby geschrieben, und Daniel konnte allmählich sehen, warum sich sein Buch so oft verkauft hatte. Es war nicht radikal. Es war ein wirklich gut durchdachtes Argument dafür, den ersten Schritt zu wagen, auf eine Art, die natürlich und wohlmeinend war.
Daniel hielt das Kinn hoch erhoben, fast manisch auf seiner Suche nach Blickkontakt, während er zu dem Burritoladen ging. Erst als er dem Blick anderer Leute standhielt, wurde ihm wieder einmal bewusst, wie oft er es nicht tat. Und sie war unglaublich, die Wirkung, die es auf andere Leute hatte. Er konnte sehen, wie Frauen – und er machte keinen Unterschied zwischen jüngeren und älteren, im herkömmlichen Sinn attraktiven oder nicht – prompt auf ihn reagierten. Keine scheute zurück oder beschuldigte ihn, ein Perverser zu sein, oder verscheuchte ihn, indem sie mit ihrer Handtasche nach seinem Kopf schlug. Es fühlte sich freundlich an. Er benahm sich nicht schmierig oder widerlich, nur freundlich. Die Art, wie diese Frauen zurücklächelten, gab Daniel das Gefühl, der beliebteste Typ in ganz London zu sein. Es gehörte Mut dazu, Leute zu sehen, aber auch Mut dazu, sich sehen zu lassen
. Blickkontakt aufzunehmen war, als würde man Platz in der Welt einnehmen, und um Platz einzunehmen, musste er glauben, dass er den Platz wert war. Er hatte sich nie für schüchtern gehalten, aber diese Blickkontakt-Geschichte sorgte dafür, dass er sich selbstbewusst fühlte, und so hatte er sich eindeutig schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gefühlt.
Okay. Kapitel sechs. Du hattest recht
, schrieb Daniel an Lorenzo.
Na klar, Mann!!!!,
schrieb Lorenzo zurück. Hast du das mit dem »um Rat fragen« schon ausprobiert? Verdammt, das klappt jedes Mal!
Dann, nach einer Sekunde, ergänzte Lorenzo: Falls du deswegen Notfall-Kondome brauchst, der Nachttisch neben meinem Bett ist immer gefüllt. Mit den extragroßen
.
Daniel wusste, wovon Lorenzo redete – was den Rat betraf, nicht die Kondome. Daniel konnte sich seine eigenen Kondome besorgen, sollte er welche brauchen. Worum es heute nicht ging. Heute ging es nur darum, dieses selbstbewusste Gefühl zu erkunden. Es gefiel ihm. Es gefiel ihm, wie Selbstbewusstsein sich anfühlte.
Das Buch schlug vor, den Schritt von einem Lächeln zu einem Wortwechsel mit einem Fremden am besten in einer Schlange in einem Café zu üben. Das Buch sagte, man solle der Person, die hinter einem steht, eine Frage stellen, zum Beispiel, welche Cupcake-Geschmacksrichtung man wählen sollte, weil man sich nicht selbst entscheiden könne – und das würde die Schleusen zu möglicher Konversation öffnen.
Es ist eine Einladung, ins Gespräch zu kommen,
erklärte das Buch, ohne irgendeine Verpflichtung für beide Seiten, die Unterhaltung fortzuführen. Wenn du dich zu dem Mann hinter dir umdrehst und sagst: »Würdest du Zitrone oder Schokolade nehmen? Ich kann mich nicht entscheiden«, dann kann er die Frage beantworten, und das war’s. Oder er kann die Frage beantworten, und du kannst sie verwenden, um Muffin-Geschmacksrichtungen oder die Vorzüge von Glasur aufzuzählen. Ein Gespräch anzustoßen heißt nicht, dass du ihm einen Heiratsantrag machst, es heißt nur, dass du jemand bist, der imstande ist zu plaudern, eine Verbindung aufzunehmen. Und wenn es nicht klappt, dann nicht, weil du es nicht wert bist, sondern weil die andere Person nicht plaudern wollte. Das ist alles. Versuch es also wieder.
In dem Buch stand auch, Plaudern sei eine tolle Möglichkeit, um ein bisschen leichtes Geplänkel mit einfließen zu lassen: Wenn er »Blaubeere« antwortet, hab keine Angst, ihm zu sagen: »Oh, das mit uns würde niemals klappen! Wer nimmt denn Blaubeere, wenn Schokolade im Angebot ist!« Es legt die Saat dafür, dass es ein »Uns« geben könnte, und fordert ihn zum Handeln heraus, falls er interessiert ist. Auf einmal könnte er erklären: »Aber hey! Schreib mich nicht so schnell ab!«, und dann, bevor du dichs versiehst, fragt er nach deiner Telefonnummer
.
Daniel war sich nicht sicher, was für Psychospielchen dahintersteckten, aber er war gewillt, es zu versuchen, da allein schon ein schlichter Blickkontakt ihm das Gefühl gegeben hatte, auf eine persönliche Begegnung mit Nadia besser vorbereitet zu sein. Er stand in der Schlange für seinen Burrito hinter zwei Frauen in Kostümen, vermutlich aus einem der Büros in der Nähe seines eigenen. Es gab ungefähr eine halbe Quadratmeile mit Büros, darunter, irgendwo, Nadias.
Daniel studierte die Tafel. Ein Burrito war ein Burrito, daher gab es nicht viele Optionen, aus denen man auswählen konnte. Er würde sich zwischen Fleisch- und Gemüsefüllung entscheiden oder vielleicht um eine Extraportion Sour Cream bitten müssen.
Die Schlange rückte weiter. Vor den Frauen stand nur ein Typ, und sie würden bald an der Reihe sein. Er musste bald etwas sagen, sonst würde er seine Chance verlieren, und dann was? Würde er sich wieder am Ende der Schlange anstellen, um seinen Mut bei jemand anderem zusammenzunehmen? Nein. Das
wäre seltsam. In dem Buch stand, es sollte alles supernatürlich sein, superentspannt. Egal, Mann. Es ist alles gut.
Schließlich beugte er sich zu den beiden Frauen vor und sagte: »Und, was meint ihr, Ladys? Avocado oder extra viel Avocado?«
Sie hörten ihn nicht und unterhielten sich weiter. Die größere Frau sagte zu ihrer kleineren Begleiterin: »Siehst du, und deshalb musst du die Absätze machen lassen, bevor
du sie trägst. Es ist wie eine High-Heels-Versicherung.«
»Das ist so clever«, meinte die andere Frau. »Ich sollte nicht am falschen Ende sparen.«
Daniel hüstelte unfreiwillig ein wenig.
»Was meint ihr?«, nahm er einen neuen Anlauf, etwas lauter diesmal. »Avocado«, sagte er noch lauter, »oder extra viel Avocado?«
Eine der Frauen wandte sich um und sah von Daniel zu dem leeren Platz neben ihm. Es sah aus, als ob er Selbstgespräche führte.
»Oh«, sagte Daniel, als es ihm bewusst wurde. »Nein, ich …«
Die Frau drehte sich wieder um, und Daniel starrte auf ihren Hinterkopf.
»Meint ihr, ich sollte extra viel Avocado nehmen?«,
bellte er, und jetzt wandten sich beide Frauen um.
Die Frauen sahen sich an, und schließlich fiel der Groschen, dass er mit ihnen redete.
»Oder … einfach die … normale Menge?«, piepste Daniel. Auf einmal waren seine Handflächen verschwitzt, und sein Gesicht verfärbte sich purpurrot.
Langsam, während ihre Augen verwirrt hin und her huschten, sagte die größere Frau: »Na ja, magst du Avocado wirklich?«
Daniel nickte. »Ja.«
»Dann nimm extra viel«, sagte sie, und Daniel machte eine Art Pffffffft
-Geräusch durch die Lippen.
»Extra viel Avocado? Wow, dann könnte ich niemals ein Date mit dir haben«, entfuhr es ihm, bevor er überhaupt wusste, was er da sagte.
»Wie bitte?«, sagte die größere Frau, und Daniels Mund klappte auf und wieder zu wie in Findet Nemo
. »Ein Date mit mir? Ich bin einen Meter größer als du und ungefähr sechsmal so heiß. Ein Date ist absolut nicht drin, okay?«
Daniel stand einfach nur da und wünschte verzweifelt, er könnte auf dem Absatz kehrtmachen und weglaufen, immer weiter und weiter, bis er Grönland erreichte.
»Was für ein Arschloch«, meinte die kleinere Frau kopfschüttelnd und lenkte den Ellbogen ihrer Freundin so, dass sich beide wieder umwandten, bevor sie vortraten, um ihre Bestellung aufzugeben.
Gedemütigt sah sich Daniel um, um festzustellen, ob irgendjemand mitbekommen hatte, was eben passiert war. Er hatte nicht vorgehabt, das zu sagen und so gestört zu klingen. Er hatte Panik gekriegt! Es war das erste Mal, dass er den Rat ausprobiert hatte! Es war alles nach hinten losgegangen! Ein Teenager, der am Fenster bei seinem Essen saß, wandte den Blick rasch ab, als Daniel in seine Richtung sah. Seine Schultern bebten leicht, als ob er ihn auslachte. Daniel senkte den Blick, um die Frauen nicht ansehen zu müssen, als sie gingen. Die kleinere rempelte ihn an der Schulter an, als sie an ihm vorbeikamen. Daniel ließ es geschehen.
»Was darf es sein?«, fragte der Mann hinter dem Tresen.
»Fleischburrito«, sagte Daniel leise. »Mit extra viel Avocado. Danke.«
»Hey, ist das deins?«, fragte Percy, als Daniel zurück ins Büro kam. Er hielt ein Exemplar von Schnappt euch die Jungs!
hoch.
Daniel stotterte leicht. »Meins? Nein. Ausgeschlossen. Absolut nicht.«
Percy blickte verwirrt. »Es ist nur so, es lag bei deinen Sachen im Konferenzraum«, sagte er. »Meredith hat es gefunden.«
»Meredith hat es gefunden«, wiederholte Daniel.
Percy grinste.
»Keine Ahnung, wem das gehört«, sagte Daniel. Er ging an Percys Schreibtisch vorbei zu seinem eigenen. »Überhaupt keine.«
»Na klar«, sagte Percy. »Na ja, ich lasse es in meinem Ausgangsfach liegen, falls du es dir anders überlegst«, ergänzte er.
Daniel verzog das Gesicht. »Das werde ich nicht«, verplapperte er sich aus Versehen. »Das ist ein Scheiß.«
Er verfluchte sich im Stillen dafür, dass er nicht einfach bei dem geblieben war, was, wie er wusste, klappte: Nachrichten in der Zeitung zu schreiben. Im Schreiben war er so viel gewandter als in diesem aufgesetzten Flirten. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, rief die Anzeigenaufgabe für Missed Connections
auf und begann zu tippen.