12
Nadia
»Und er ist superniedlich«, sagte Gaby bei einem schnellen Burrito-Lunch auf dem Borough Market. »Er hat diesen irgendwie dusseligen englischen Gentleman-Vibe, alles sehr Ben-Whishaw-mäßig, du weißt schon, der Typ, der die Autos bei James Bond baut, aber er ist … nett. Er ist richtig nett.«
Nadia verdrehte die Augen, während sie ihre Extraportion Avocado in die zweite Hälfte ihrer Mahlzeit stopfte. »Nur weil ich zuletzt mit einem Arschloch zusammen war, heißt das nicht, dass ich jetzt ›nett‹ will«, beklagte sich Nadia. »Ich weiß, was nett heißt.«
Gaby schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: Was denn?
»Nett heißt … lahm.«
»Neeeiiin!«, entgegnete Gaby. »Das ist die 2012er-Definition von nett. Heute ist die Definition von nett … sozialbewusst. Und freundlich.«
»Im Gegensatz zu sozialbewusst und …?«
»Sozialbewusst …, um dir an die Wäsche zu gehen. Man kann keinem Mann weniger trauen als dem, der den Feministen in seiner Twitter-Bio hat.«
»Wohl wahr«, kicherte Nadia. »Der Mann mit dem Feministen in seiner Bio ist der, der dir sagt, wie sehr er Frauen mag, und dir im selben Moment sagt, dass er keinen Würgreflex hat, um es dir französisch zu besorgen.«
Gaby lachte schallend auf. »Ha! Ja. Der Mann mit dem Feministen in seiner Bio herrklärt
nicht, er verteidigt leidenschaftlich.«
Nadia nickte zustimmend. »Der Mann mit dem Feministen in seiner Bio liest ein bell-hooks-Buch und lässt DICH dann wissen, auf welche Arten DU unterdrückt wirst!«
»Er schubst die Männer in seinem Leben angewidert weg und überlässt es den Frauen in seinem Leben, seine emotionale Schwerstarbeit zu verrichten!«
»Er bittet um Erlaubnis
, bevor er ein Dick-Pic schickt!«
»Das ist ein unterhaltsames Spiel«, meinte Gaby.
»Ja«, erwiderte Nadia. »Hashtag nicht-alle-Männer.« Das genügte, damit sie beide prompt wieder losprusteten. Sie erwarteten, dass jeder Mann ein Feminist war, genau wie sie erwarteten, dass jeder Mann Sauerstoff und Atmen mochte. Natürlich taten sie das. Sie mussten sich nur nicht in einer Tour darüber auslassen, das war alles. Feminismus war ein fortlaufendes Programm, kein Anmachspruch.
»Aber im Ernst. Ich werde dich vorwarnen, wenn dieser niedliche Hintern von heute Morgen am Empfang zur Sommerparty kommt, und dann würde ich dich ihm gern vorstellen. Ich habe einfach … so ein Gefühl.«
»Ein Gefühl.«
»Kannst du mir vielleicht einfach mal vertrauen?«
Nadia kniff die Augen zusammen. »Na schön. Okay. Ja, ich werde kommen, und ich werde ihn kennenlernen.« Sie steckte sich den letzten Bissen ihres Mittagessens in den Mund und dachte darüber nach.
»Obwohl ich, ehrlich gesagt, das Gefühl hatte, ihn schon mal irgendwo gesehen zu haben. Vielleicht auf Bumble? Oder Tinder oder Hinge?«
Nadia versuchte, ein Bild von ihm heraufzubeschwören, aber sie hatte ihn nur im Profil gesehen, bevor die Aufzugtüren sich schlossen. Es war ein Sekundenbruchteil des Erkennens gewesen. Andererseits schwebte Nadia ein ganz bestimmter Typ vor, und mehrmals täglich konnte ihr wieder ein anderer dunkelhaariger, großer Anzugträger mit Bartstoppeln den Kopf verdrehen. In dem Punkt war sie fantasielos. Sie blieb gern bei den Klassikern.
»Hey«, sagte sie, als ihr einfiel, wie sehr sich auch ihre beste Freundin über die Gelegenheit freuen würde, die Männer in ihrer Firma kennenzulernen. »Wollen wir Emma dazu einladen?«
Gaby lief rot an und sagte: »Ehrlich gesagt, ähm, habe ich das schon getan.«
»Oh«, sagte Nadia. »Na … das ist ja cool.« Ihr Tonfall ließ vermuten, dass es tatsächlich alles andere als cool war.
Es ärgerte sie, dass Gaby Emma über ihren Kopf hinweg eingeladen hatte. Emma war noch nie bei einem Rainforest-Arbeitsevent dabei gewesen, daher war es nicht selbstverständlich, dass Nadia sie gefragt hätte. Nadia hatte die Idee eigentlich nur, weil sie eine Frau an ihrer Seite brauchen würde, und Emma eignete sich hervorragend dafür, an ihrer Seite zu stehen, wenn Nadia Männer anquatschte. Sie wusste genau, wann sie bleiben und wann sie sich entschuldigen sollte, um zur Toilette zu gehen und nie mehr wiederzukommen.
»Ich dachte nur … Ich dachte, du würdest sie sowieso fragen, und wir haben heute Morgen auf Instagram geplaudert, daher …«
»Ja, absolut«, sagte Nadia. »Wenn dieser Typ sich als Idiot entpuppt, werde ich wenigstens meine Tanzpartnerinnen haben.«
»Er ist kein
Idiot«, entgegnete Gaby mit Nachdruck. »Darauf würde ich meinen Vollpreis-Gucci-Gürtel verwetten.«
»Gott, ich liebe diesen Gürtel«, sagte Nadia. Sie wollte selbst schon lange genau so einen haben. »Na ja, in der Zwischenzeit … werde ich dem U-Bahn-Typen wieder antworten. Auf die Weise setze ich nicht alles auf eine Karte. Ich werde deinen Typen kennenlernen, und das nimmt den Druck von dem U-Bahn-Typen, der, seien wir ehrlich, immer noch Quasimodo sein könnte. Oder, noch schlimmer, ein Tory. Also. Das ist vernünftig, denke ich.«
»Süße, es gibt überhaupt keinen Druck, nirgends. Das hier soll ein Spaß sein! Hab einfach Spaß dabei! Und überhaupt, du wirst dem U-Bahn-Typen sowieso keine Anzeige mehr schicken wollen, sobald du meinen
Typen kennengelernt hast. Ich habe einen sechsten Sinn für so etwas. Er ist absolut der Richtige für dich.«
Gaby sah auf ihrem Handy nach der Uhrzeit.
»Okay, Mist, ich muss los. Ich habe in fünf Minuten ein anderes Meeting.« Sie küsste Nadia auf beide Wangen. »Ihr könnt euer erstes Kind nach mir benennen, okay? Du und Daniel?«
Nadia verdrehte die Augen. Sie liebte die fürsorgliche Art – und Begeisterung – ihrer Freundin, aber sie hatte ein etwas schlechtes Gewissen wegen des Mannes im Zug, an den sie die ganze Zeit gedacht hatte. Aber sie tat das Richtige, dachte sie. Das heißt es doch immer, oder? Dass man nicht zu früh einem einzigen Mann zu viel Bedeutung beimessen soll? Das hatte Emma jedenfalls immer gesagt, als sie die Dating-Kolumne hatte. Und nicht, dass sie es Gaby sagen würde, aber Gaby besaß wirklich ein außerordentliches Talent dafür, die Charaktere anderer Leute einzuschätzen. Wenn sie sagte, dass der niedliche Hintern auch eine niedliche Persönlichkeit hatte, dann sollte Nadia wenigstens ein bisschen Lippenstift auftragen und ihn kennenlernen. Und um ihre Chancen zu verbessern, würde sie auch dem U-Bahn-Typen tatsächlich zurückschreiben. In Emmas Exemplar von Schnappt euch die Jungs!
hatte sie gelesen, dass es klug war, die eigenen Hoffnungen breit zu streuen, damit man weniger Druck verspürte und jede Interaktion als das genießen konnte, was sie war, anstatt als das, was man sich im Kopf zurechtgelegt hatte.
Wieder an ihrem Schreibtisch, rief sie das Anzeigenfenster für Missed Connections
auf und tippte:
Danke, dass du mich hast hängen lassen, U-Bahn-Typ: Ich habe einem Mann, der, wäre er rasiert, gut aussehen würde, praktisch einen Heiratsantrag gemacht und eine gemeinsame Hypothek vorgeschlagen, und er war nicht du! Ich wollte so gern, dass du es bist. Verrat es niemandem, aber du hast recht: Ich mag große romantische Gesten. Jetzt ist der Ball wieder bei dir. Gib dich zu erkennen. LG, die Frau mit den Kaffeeflecken