14
Nadia
Nadia hatte schon den ganzen Tag das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Eine Art unheilvolle Schwere in ihrem Bauch und ein Unbehagen, das dafür sorgte, dass sie im Labor mehr als einmal ausrastete.
»Entschuldigung«, sagte sie zu ihrem Assistenten, als sie spürte, wie sie über der Neukonfiguration eines widerspenstigen Codes, der sich nicht genau auf das übertragen ließ, woran sie arbeiteten, allmählich die Beherrschung verlor. »Weißt du was? Ich weiß, wir haben hier einen Termin einzuhalten, aber lass uns eine Pause einlegen. Zwanzig Minuten. Ich komme mit Kuchen wieder.«
Nadia schnappte sich ihr Handy und verließ das Bürogebäude in Richtung Markt, um zu ihrer Zweitlieblingsbäckerei in der Stadt zu gehen. Ihre Lieblingsbäckerei war der Cupcake-Shop in der Church Street in Stoke Newington, gleich bei ihr um die Ecke. Wenn man dort zur richtigen Tageszeit kam, konnte man fast ein ganzes Viertel eines großen Red-Velvet-Cakes mit so viel Glasur bekommen, dass man zwei Tassen Tee brauchte, um es hinunterzuspülen. An Tagen, an denen sie nicht ganz so versessen auf Glasur war, mochte Nadia die Cookies in ihrer Zweitlieblingsbäckerei, die von der New Yorker Levain-Bäckerei inspiriert waren – die Cookies dort waren von einer Olympiaschwimmerin erfunden worden, die in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Kalorien aufnehmen musste. Sie waren fest und leicht zugleich, voller Schokoladenchips und so köstlich, dass man nie genug zu kriegen schien. Sie kosteten fast sechs Pfund das Stück, daher war es nicht so sehr der Fettgehalt als vielmehr der Preis, der Nadia davon abhielt, allzu oft dorthin zu gehen.
Im Allgemeinen gönnte Nadia sie sich unmittelbar vor ihrer Periode, die … ah. Nadia rief die Perioden-Tracker-App auf ihrem Handy auf, aber sie wusste schon, bevor die App es ihr sagte, dass sie eindeutig prämenstruell war. Oh ja. Der blinkende Punkt verriet ihr, dass sie morgen ihre Tage bekam, und auf einmal begriff sie den Grund für ihre düstere Stimmung und ihre Gereiztheit und ihr Bedürfnis, die Welt in den verdammten Grund und Boden zu brennen und dabei gleichzeitig unzählige Kalorien zu verschlingen.
Später, als sie sich ein anderes Top anzog, noch etwas Deo auftrug und sich fragte, wo ihre Tic Tacs waren, verspürte Nadia auf einmal ein Zwicken im Bauch, das bedeutete, dass ihre Periode einen Tag zu früh gekommen war. Sie hasste dieses Gefühl, das Gefühl, dass eine Periode kam, bevor sie bereit dafür war. Sie wusste prompt, dass sie einen grässlichen Abend haben würde, und wünschte, sie wäre zu Hause. Sie hasste die Tatsache, dass sie sich wegen dieses albernen Verkupplungsversuchs, den Gaby arrangiert hatte, verpflichtet fühlte, hinzugehen. Sie war nicht in der Stimmung, zu flirten und sich schüchtern zu geben und ihre eigenen Leistungen kleinzureden, bis sie abschätzen konnte, inwieweit dieser Typ sich bedroht fühlen könnte. Dieses Arrangement war ja theoretisch ganz niedlich und nett, aber sie fühlte sich abscheulich, und ehrlich gesagt lag ihr mehr daran herauszufinden, wer der Mann im Zug war, als heute Abend zu dieser Party zu gehen. Wer wusste schon, was für ein Typ im Sky Garden darauf wartete, sie kennenzulernen? Obwohl, um fair zu sein, wer wusste schon, was für ein Typ im Zug darauf wartete, sie kennenzulernen? Oh Gott. Sie betrachtete sich im Spiegel.
Komm schon, Süße,
beschwor sie sich. Zeig’s dem Leben
.
Wir treffen uns dort
, schrieb sie Gaby. Muss mir nach einem schlechten Tag ein bisschen die Beine vertreten. Meine Periode ist früher gekommen
.
Gaby schrieb zurück: Beeil dich! Der arme Kerl ist ein Nervenbündel! Es ist zwar niedlich, aber komm auch endlich her und erlöse ihn aus seinem Elend!
Nadia schickte das »Rennendes-Mädchen«-Emoji zurück, signalisierte ein Tempo, das sie nicht empfand. Ihre Freundin meinte es nur gut mit ihr, das wusste sie.
Sie war ungefähr bei der dreizehnten Minute ihres zwanzigminütigen Spaziergangs, als sich ihre Stimmung endlich hob. Die frische Luft pustete die Spinnweben aus ihrem Kopf und rückte ihr Leben wieder in eine gewisse Perspektive. Es würde nichts Schlimmes
passieren: Das Gefühl, das sie den ganzen Tag über gehabt hatte, war die schlichte Biologie ihres Menstruationszyklus. Sie war auf dem Weg zu einem schönen Partyort mit einer Sommeraussicht auf die Londoner Skyline, wo ihre beiden engsten Freundinnen auf der Welt, kostenlose Getränke und ein potenziell gut aussehender Mann auf sie warteten. Selbst wenn sich heute Abend nichts ergeben sollte, hatte sie in Schnappt euch die Jungs!
gelesen, wenn man sich weigerte, das Flirten mit Männern zu üben, auf die man nicht
stand, sei das, als würde man seinen Text erst lernen wollen, nachdem man die Bühne betreten hatte. Das Buch empfahl, mit jedem immer und überall zu flirten, nur um höflich und freundlich zu sein und sich daran zu gewöhnen, ein bisschen nervös zu sein, damit man es, wenn der richtige Mann fürs Leben endlich vor einem stand, nicht vermasselte.
Ja,
dachte Nadia bei sich. Ich werde hingehen und flirten üben.
Sie legte sich ein paar geistreiche Dinge zurecht, die sie sagen könnte, und stellte sich vor, wie sie lächelte und charmant war und trank und lachte. Sie würde sich so gut amüsieren, wie sie sich vornahm, und auf dem kurzen Spaziergang im Sonnenschein entschied sie, dass sie sich wunderbar amüsieren würde.
Und dann sah sie ihn.
Den Grässlichen Ben.
An dem Abend, an dem sie sich von ihm getrennt hatte – ein Akt, der mehr Mut erforderte als alles, was sie je zuvor gekannt hatte, und auf den sie sich ganze drei Wochen vorbereiten musste –, hatte sie dagesessen und sich angehört, wie er abscheuliche, verletzende Dinge zu ihr sagte.
Er sagte ihr, sie sei wertlos, niemand würde sie je wollen, sie sei gebrochen und wüsste sowieso nicht, wie man liebte.
Sie rief ihm ein Taxi und wusste, dass sie nie wieder von ihm hören würde: Sein stolzes brasilianisches Blut würde bedeuten, dass sie für ihn gestorben war, was ihr nur recht war. Sie wollte ihn auf gar keinen Fall wiedersehen. Er arbeitete außerhalb von London, was hieß, dass das Risiko, ihm an einem x-beliebigen Tag über den Weg zu laufen, minimal war; aber natürlich, auch wenn London groß ist, sind die täglichen Wege, die die meisten Leute nehmen, klein, und so wie die vornehmen Leute Notting Hill wie ihre Westentasche kannten und Werbemanager jede Ecke von Soho, so kannten die berufstätigen Hipster-Singles in den Dreißigern die Straßen rund um Spitalfields und Commercial Road in- und auswendig. Natürlich
war das die Gegend, in die der Grässliche Ben zu einem Date in die Stadt kommen würde. Und es sah auch nach einem Date aus – oder sogar danach, dass er mit einer Freundin zusammen war.
Während ihre Gedanken zu der Sommerparty vorausschweiften, sah Nadia von ihren Füßen auf – und wurde von der entsetzlichen Erkenntnis getroffen, dass ihr emotional manipulativer und regelrecht persönlichkeitsgestörter Ex-Freund vor ihr stand. Sie war ihm buchstäblich in die Arme gelaufen.
Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit sie sein Uber auf ihrer App verfolgt hatte, um sicherzugehen, dass er auch wirklich nach Hause fuhr. Danach hatte sie das Foto von ihnen beiden auf ihrem Nachttisch aus dem Rahmen genommen und es in kleine Schnipsel zerschnitten.
Sie konnte sehen, wie er etwas sagte, aber sie konnte die Worte nicht hören. Ihr Körper war eiskalt, und es fühlte sich an, als ob ihre Lungen nicht genug bekamen. Der Grässliche Ben bewegte noch immer den Mund. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben und gleichzeitig beschleunigt worden. Sie blinzelte ein paarmal rasch hintereinander, und dann wurde ihr flau, und auf einmal tat ihr der Bauch weh.
»Du bist ja ganz in deiner eigenen Welt versunken«, sagte er.
Die Art, wie er es sagte, war seltsam. Es war ein Vorwurf, aber zugleich völlig neutral gesagt. Für Nadia fühlte es sich aggressiv an, aber die Frau an seinem Arm – eine schöne, strahlende Frau mit vollen Wangen und freundlichen Augen – lächelte, als müsse es irgendein privater Witz zwischen ihnen sein. Was hatte er über sie gesagt? Wusste diese Frau an seinem Arm schon, wozu er imstande war?
»Ich … Ich will nicht mit dir reden. Entschuldige.«
Nadia drängte an den beiden vorbei, trat dabei auf die Straße und entging nur knapp einem Radfahrer, der sie anschrie: »Verdammte Scheiße! Pass doch auf!«
Sie hörte den Grässlichen Ben irgendetwas über die Ex, von der ich dir erzählt habe, die Arme,
sagen, und in diesem Moment erinnerte sie sich, wie er an dem Abend, an dem sie sich kennenlernten, zu Nadia dasselbe über seine Freundin vor ihr gesagt hatte. Es ging ihr noch nie gut
.
Nadia ging weiter. Ihr schwirrte der Kopf, und sie weigerte sich hartnäckig, zu ihm zurückzusehen. Sie wusste, dass er sie ansah. Wusste, dass er wütend war, weil sie ihm eine klitzekleine Szene gemacht hatte.
Verrückt
, das war das Wort, das er vor all dieser Zeit verwendet hatte. Er hatte gesagt, seine Ex sei verrückt. Und jetzt fühlte Nadia sich auch verrückt. Und es war schrecklich, abscheulich. Sie würde ihr ganzes Leben darauf verwetten, dass die Frau, die jetzt die Geschichte von seiner verrückten Ex hörte, eines Tages selbst in der Nähe einer Firmenparty auf der Straße weinen und von ihm als verrückt bezeichnet werden würde. Aber das einzig Verrückte war, wie der Grässliche Ben auf den Frauen herumhackte, die er zu lieben behauptete, und sie so lange quälte, bis sie glaubten, dass mit ihnen irgendetwas nicht stimmte.
Aber das Problem war er
.
Nadia wollte am liebsten schreien. Sie wollte schreien und die Straße zurücklaufen, um der Frau zu sagen, sie solle sich retten und ihm jetzt den Laufpass geben. Aber wenn sie das tat, dann würde sie wirklich verrückt wirken. Sie selbst hätte auf niemanden, am allerwenigsten auf eine Ex, gehört, wenn sie gewarnt worden wäre. Sie hätte gedacht, wer immer ihr zu sagen versuchte, sie solle eine Beziehung mit ihm nicht weiterverfolgen, sei nur eifersüchtig. Genau das wollen sie uns weismachen,
dachte Nadia kläglich. Sie wollen uns weismachen, dass andere Frauen die Konkurrenz sind, damit wir nicht aufrichtig miteinander reden und dahinterkommen, dass sie alle verdammte Arschlöcher sind
.
Sie erreichte den Sky Garden und sah auf. Ausgeschlossen, dass sie hineingehen würde. Sie weinte, wurde ihr bewusst – und als sie ihr Handy aus ihrer Tasche fischte, zitterte sie auch leicht. Sie rief Emma an.
»Süße, wo steckst du?«, antwortete Emma. »Ich habe diesen Typen gesehen, den Gaby für dich vorgesehen hat. Er ist niedlich. Er ist genau dein Typ. Verdammt, das Spiel läuft, Süße!«
Nadias Stimme schwankte, als sie sagte: »Ich stehe unten. Ich habe eben Ben gesehen.« Und dann schluchzte sie hysterisch.
»Scheiße. Okay. Ich komme. Bleib, wo du bist. Ich komme.«
»Den Tisch in der Ecke, bitte«, sagte Emma zu der Hostess des schicken Hotels. Emma hatte eine Theorie, dass man im Zweifelsfall in eine Hotelbar gehen sollte, da Hotelbars grundsätzlich leerer sind als Pubs oder einzelne Restaurants. Sie hatte recht. Hier fühlte sich Nadia geborgen. Die Bar war halb leer, und sie konnten ganz hinten sitzen, abgeschieden, in ihrer eigenen kleinen Welt.
Gaby war bei ihnen. Die drei machten es sich in einer Ecknische gemütlich, und Emma bestellte ihnen den gesalzenen Karamell-Schokobrownie mit zwei Kugeln Eis, das süß-salzige Popcorn und eine große Kanne Pfefferminztee mit Honig. Alles, um es sich zu teilen.
»Es gab so vieles, was ich zu ihm sagen wollte, falls ich ihn je wiedersehen sollte«, meinte Nadia, während sie an dem Etikett der Wasserflasche auf dem Tisch herumspielte. »Und dann war ich einfach wie erstarrt. Oh Gott.« Eine Träne kullerte über ihre Wange. »Und er sah auch noch so selbstgefällig aus – als ob er wüsste, dass er mich in einem schwachen Moment oder so überrumpelt hatte.«
»Wie hat sie ausgesehen?«, fragte Emma interessiert.
»Einspruch gegen die Frage«, erklärte Gaby mit einem vernichtenden Blick in Emmas Richtung. »Das spielt doch absolut keine Rolle. Er wird ihr dasselbe antun.« Gaby hatte fast sofort gewusst, dass mit dem Grässlichen Ben irgendetwas nicht stimmte, als Nadia anfing, mit ihm auszugehen; sie und Nadia hatten ihren einzigen Streit deswegen gehabt, und nachdem sie sich versöhnt hatten, wusste Gaby, dass sie ihre Freundin ihre eigenen Fehler machen lassen musste. »Das passiert vielen Frauen früher oder später.«
Der Tee kam, und sie verfielen in Schweigen, während die Bedienung ihr Tablett entlud und ihnen sagte, das Dessert würde gleich kommen.
»Es muss dir nicht gut gehen, weißt du«, sagte Gaby, sobald die Bedienung gegangen war. »Ich würde auch weinen und schreien wollen.«
Nadia nickte. »Ich hasse es, dass man nicht einfach so, auf Knopfdruck, über jemanden hinwegkommt. Man muss es immer und immer wieder tun, jedes Mal, wenn man an ihn denkt.«
»Aber du hast dich richtig gut geschlagen«, meinte Emma. »Du bist unbeschwerter, glücklicher. Positiver. Du hast einen Plan, um dein Leben zu ändern!«
»Und jetzt bin ich dabei, einen Riesen-Rückwärtsschritt zu tun«, meinte Nadia kläglich. »Ich bin so wütend, dass er mich noch immer kontrollieren kann!« Sie brach wieder in Tränen aus.
»Es ist kein Rückwärtsschritt, absolut nicht«, beschwichtigte Emma sie. »Süße, Heilen verläuft nicht linear. Und sieh nur, wie weit du schon gekommen bist. Du konntest diesen ganzen Wahnsinn, der passiert ist, verarbeiten und es uns dann erzählen und ihn wieder verarbeiten, und ihn zu sehen, das ist einfach eine andere Art, es zu verarbeiten. Weil es echt war. Was er dir angetan hat, wie grässlich er war, das war alles echt. Ich kann dir versichern: Keine von uns vermasselt es so, wie wir glauben.«
Nadias Augen füllten sich wieder mit Tränen, und sie nickte. Das war alles, was sie tun konnte – nicken wie eine äußere Bekundung der inneren Erkenntnis, dass er ihr, ja, tatsächlich nicht nur die sechs Monate ihres Lebens gestohlen hatte, die sie zusammen waren, sondern auch die sechs Monate danach, die sie gebraucht hatte, um sich darüber klar zu werden, wie sie das alles hatte zulassen können. Wie sie sein Opfer hatte werden können. Sie war eine starke, positive, zielstrebige Frau, und sie schämte sich zutiefst dafür, dass sie sich ihr Feuer von einem Mann hatte auslöschen lassen.
»Hör auf damit«, schalt Emma sie. »Ich sehe doch, wie du dich schon wieder mit Selbstvorwürfen quälst. Nichts von alledem ist deine Schuld. Es ist allein seine Schuld. Du bist eine Überlebende, und er kann dir nicht mehr wehtun, okay? Du steuerst jetzt dieses Schiff.«
Das Dessert kam, mit drei Gabeln, und die Frauen pickten die Ränder von dem Brownie.
»Ich werde auch noch den Käsekuchen bestellen«, sagte Nadia bedrückt.
Emma zwinkerte ihr zu. »Gute Idee.« Und dann ergänzte sie: »Süße, weißt du was? Wie wär’s, wenn wir beide dieses Wochenende ein kleines Abenteuer unternehmen? Wir könnten zum Soho Farmhouse fahren. In einem riesigen Bett schlafen. Ein paar Promis sehen. Mit einem Boot über diesen winzigen Teich rudern. Einfach aus London rauskommen, was meinst du?«
Nadia dachte darüber nach, während sie Honig in ihren Tee rührte. Es klang gut, irgendwo anders als hier zu sein. Jemand anders irgendwo anders zu sein.
»Würde ich mit irgendjemandem außer dir reden müssen?«
»Nein.«
»Würde ich irgendetwas tun müssen, um eine witzige Freundin zu sein, oder darf ich mich in meinem Elend suhlen und mich traurig und verletzt fühlen?«
»Du darfst dich traurig und verletzt fühlen.«
»Okay. Ja. Das würde mir gefallen.«
Emma legte einen Arm um ihre Freundin. »Mir würde es auch gefallen.«
Gaby riss die Hände hoch. »Schönen Dank, dass ich auch eingeladen bin, Leute!«
Emma zögerte keine Sekunde. »Du bist dieses Wochenende bei deiner Mum!«
»Ich weiß, aber du hättest mich trotzdem fragen können.«
»Du bist dieses Wochenende bei Marie-Jean?«, fragte Nadia. »Das ist ja nett. Grüß sie von mir.«
»Mache ich«, antwortete Gaby. »Aber jetzt bin ich neidisch auf eure Pläne.«
»Die Vorteile des Überlebens«, meinte Nadia. »Wenn du weinst, entführen dich deine Freundinnen an schöne Orte.«
»Nur wenn du gute Freundinnen hast.«
»Ja. Gott, kann ich stattdessen ein Date mit dir haben?«
Emma lachte. »Stell dich in der Schlange an«, sagte sie.
»Wäre das nicht so viel einfacher?« Nadia beugte sich vor, um sich den letzten Rest Brownie zu nehmen. »Ihr regt euch nicht darüber auf, wer mehr Geld verdient, und ihr fühlt euch nicht entmännlicht, wenn jemand anders die Rechnung übernimmt. Ihr müsst nicht eine Sekunde zu lange warten, um zurückzuschreiben, weil es nicht männlich ist, zu eifrig auszusehen, und Gott, könnt ihr euch vorstellen, eine Frau zu vögeln? Ich meine, eine Vagina zu verehren, anstatt zu denken, dass sie irgendwie eklig und etwas ist, was einem peinlich sein sollte? Das ist es, worum ich Lesben beneide: Jede schwärmt davon, wie toll die Muschi ist. Ich war mit zu vielen Typen zusammen, die sie irgendwie tolerieren, weil sie das Ding ist, in das sie ihren Pinsel tauchen dürfen. Aber sie lieben oder verstehen sie nicht wirklich. Stellt euch vor, mit jemandem zusammen zu sein, der wirklich versteht, wie die Periode funktioniert, und nicht nur eine vage Ahnung hat, dass es irgendetwas mit Stimmungsschwankungen und Blut zu tun hat? Ich meine, das wäre doch einfach wundervoll.«
»Da gebe ich dir recht«, meinte Gaby und wandte ihre Aufmerksamkeit der Bedienung zu. »Können wir bitte auch noch den Käsekuchen haben?«, fragte sie lächelnd.
Die Bedienung nickte.
»Ich dir auch«, stimmte Emma zu. »Ich meine, ich frage mich auch, wie es wäre, nicht das Frausein leben zu müssen.«
»Du meinst, genderqueer zu sein?«, fragte Nadia.
»Ja!«, antwortete Emma. »Ich nehm’s an. Die Schubladen für ›männlich‹ und ›weiblich‹ sind so eng: Wenn man ein Typ ist, benimmt man sich am besten auf die eine Weise, und wenn man ein Mädchen ist, am besten auf die andere. Aber was, wenn es so etwas wie Mann und Frau gar nicht gibt?«
»Ich glaube, ich würde immer noch den Schwanz lieben«, lachte Nadia.
»Ich bin mir nicht sicher, ob du das wirklich tun würdest«, meinte Gaby. »Ich will dir ja nicht sagen, wie du fühlst, aber liebst du einen Schwanz nicht hauptsächlich deshalb, weil du immer davon ausgegangen bist, dass du es tust? Was ist denn mit einem Mann mit einer Vagina oder einer Frau mit einem Penis?«
»Oder einer Lesbe mit einem guten Dildo?«, ergänzte Emma.
»Meine Tante Linda würde nicht wissen, wie sie die Weihnachtskarten adressieren soll!«, lachte Nadia.
»Sie könnte es einfach mit euren Namen versuchen!«
»Kein ›Mr und Mrs‹ oder was auch immer?«
»Genau. Das ist sowieso ein überholter patriarchalischer Schwachsinn.«
»Da gebe ich dir recht«, sagte Nadia, während die Bedienung den Käsekuchen brachte.
»Danke, Darling«, sagte Emma zu ihr.
Nadia mochte das hier. Mit ihren Freundinnen beisammenzusitzen und zu reden und sich geborgen zu fühlen und nicht verurteilt zu werden, während alle versuchten, sich selbst ein bisschen besser zu verstehen. Das hier war ihr Ort des Glücks. Sie wünschte nur, sie würde es sich nicht nur immer dann vor Augen halten, nachdem sie traurig gewesen war. Man braucht keine Romanze, um ein romantisches Leben zu haben,
dachte sie, während sie zusah, wie ihre beiden Freundinnen zusammen lächelten und lachten. Sie schätzte sich so glücklich, sie zu haben.