25
Daniel
»Hi, Mum, was gibt’s? Ich bin im Moment ein bisschen beschäftigt.« Sie hatte Daniel wieder angerufen, keine zwei Sekunden nachdem er ihren ersten Anruf weggedrückt hatte. Daniel konnte sie nicht zweimal ignorieren. Es war nicht ihre Art, den Wink nicht zu verstehen. Sein Instinkt befahl ihm, abzunehmen.
»Danny, Schatz, ich bin’s, Mum.«
Daniel furchte die Stirn. Natürlich wusste er, dass es seine Mum war. »Ja, Mum, ich weiß. Ich weiß doch, dass du es bist.« Sie klang aufgelöst. »Weinst du etwa, Mum? Mum, was ist los?« Er nahm an, dass sie wieder einmal stecken geblieben war, als sie versuchte, mit dem Wagen rückwärts aus der Auffahrt zu fahren, oder nicht wusste, wie man das Apple TV einschaltete. Es gab noch vieles, was sie über das Alleinleben lernen musste, und vieles davon frustrierte sie.
Der Barmann stellte ihm ein Glas hin – keines dieser kleinen Weingläser, die die Franzosen benutzen, oder, noch schlimmer, einen Tumbler wie in einigen der Hipster-Bars in Hackney. Es war ein hohes, elegantes Weißweinglas, mit dicken Kondenstropfen, die sich bereits um den Fuß bildeten. Daneben stand ein kleines Schnapsglas mit gelbem Tequila. Daniel streckte die Hand danach aus und kippte es, bevor er sich hinterfragen konnte. Die schwere Flüssigkeit brannte in seiner Kehle und wärmte seine Brust. Das tat gut. Es beruhigte ihn fast augenblicklich.
»Daniel«, sagte seine Mutter. »Ich … Ich weiß nicht, was los ist. Ich kann nicht aufhören.«
Daniel nahm das Weinglas zwischen seine Finger und hielt es.
»Womit kannst du nicht aufhören, Mum?« Er verstand nicht, noch nicht, wie dringend sie ihn brauchte. Er dachte noch immer, ihr Anruf sei einfach nur lästig. Sein Ton war scharf, entnervt. Er wollte wirklich nicht am Telefon sein, wenn Nadia eintraf. Ich hätte gar nicht erst abnehmen sollen , dachte er. Es geht ihr bestimmt gut. Es geht ihr doch immer gut .
»W-w…« In der Leitung wurde es für einen Moment still. In einem sehr beherrschten Ton, der so klang, als würde seine Mutter jedes bisschen Willenskraft in ihrem Körper aufbringen, fuhr sie fort: »Weinen. Daniel, ich kann nicht aufhören zu … weinen. Ich glaube, es geht mir nicht gut.«
Sie sagte es so nüchtern, und auf einmal so stoisch, dass die Ironie dessen, was sie sagte und wie sie es sagte, Daniels Herz glatt in zwei Hälften zerriss. Er verstand stillschweigend, dass ihre Fassade der Stärke letztendlich Risse bekommen hatte. Seine Therapeutin hatte gesagt, das würde irgendwann passieren. In gewisser Weise war er erleichtert.
»Es ist ja gut, Mum. Du darfst weinen. Ich bin für dich da. Ich liebe dich.«
Am anderen Ende der Leitung brach seine Mutter in heftige, kehlige Schluchzer aus, und eine entsetzliche Minute lang konnte Daniel nichts anderes tun, als zuzuhören. Er war machtlos. Sie weinte und weinte und weinte, formte kaum Worte, geschweige denn zusammenhängende Sätze. Er starrte auf das kalte Glas Wein in seiner Hand. Er sah auf und zur Tür. Er hörte seine Mutter weinen. Langsam kniff er sich in den Nasenrücken. Ihm schwirrte der Kopf, und seine Schultern spannten sich an. Er wollte nicht gehen. Er wollte wenigstens auf Nadia warten, um ihr zu sagen, dass er gehen musste.
»Ich kann nicht …«, sagte seine Mum durchs Telefon. »Was hat es ohne ihn denn noch für einen Sinn, Schatz? Ich vermisse ihn. Ich vermisse ihn einfach so sehr.«
Daniel ging der Gedanke durch den Kopf, dass es für seine Mutter nicht leicht war, um Hilfe zu bitten. In den Tagen nach dem Tod seines Vaters hatte sie geweint, und auch am Tag der Beerdigung, und dann hatte sie einfach … aufgehört. Hatte sich zusammengerissen. Und monatelang hatte Daniel darauf gewartet, dass sie zusammenbrach – weiß Gott, er war selbst zusammengebrochen. Deswegen war er schließlich in Therapie. Aber seine Mutter war nie zusammengebrochen. Sie war fast verbissen in ihrer Entschlossenheit gewesen, ihr Leben weiterzuleben, und Daniel wusste, wenn ihr Zusammenbruch jetzt auch nur annähernd so war wie seiner damals, dann sollte sie heute Abend auf gar keinen Fall allein sein. Sie war für ihn stark gewesen, als er es gebraucht hatte. Er wusste, dass es jetzt an ihm war, für sie stark zu sein.
Daniel hörte sich sagen: »Ich komme, Mum, okay? Ich bin in einer halben Stunde da. Ich komme. Du bist nicht allein. Hörst du mich?«
»Okay. Ja.« Und dann brach sie wieder in Tränen aus. »Danke.« Ihre Worte waren kaum hörbar.
Daniel sprang von dem Barhocker und sah sich um, wollte – hoffte –, dass Nadia an der Tür auftauchte, bevor er gehen musste. Es erschütterte seine Seele, dass er gehen müssen würde, bevor sie hierherkam, aber es brach ihm noch mehr das Herz, seine Mutter auch nur eine Sekunde länger allein zu lassen, als er musste. Sie hatte ihm nie gesagt, dass sie ihn brauchte, aber jetzt sagte sie es ihm. Und wenn er zwischen Nadia und seiner Mutter wählen müsste. Na ja. Er musste einfach darauf vertrauen, dass Nadia es verstehen würde. Dass sie es gar nicht anders wollen würde.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte der Barmann.
Daniel wandte sich um und sah ihn an. »Nein. Ehrlich gesagt geht es mir nicht gut.« Er musste schnell überlegen. »Hören Sie. Können Sie mir einen Gefallen tun? Ich bin hier mit einem Mädchen verabredet. Einer Frau.« Daniel wusste nicht, woher dieser plötzliche leidenschaftliche Wortschwall kam, aber er fuhr fort: »Einer absolut wundervollen, schönen, hinreißend charmanten und freundlichen und … heißen Frau. Gott, sie ist heiß. Und schlau. Aber ich muss gehen. Sie hat blonde Haare, bis hier«, Daniel hob eine Hand bis zur Schulter, und seine Worte purzelten aus ihm heraus und übereinander vor diesem Mann, diesem Fremden, der Daniels Ausbruch von Lust bewundernswert gelassen hinnahm, »und sie hat irgendwie eine Art Schmollmund, als sei ihr eben ein neuer Gedanke gekommen. Und, und … sie wird hereinkommen, und sie wird allein sein, und … Können Sie sie fragen, ob ihr Name Nadia ist? Und wenn sie Ja sagt, sagen Sie ihr, es tut mir leid, sie heute Abend zu verpassen, aber ich werde sie finden. Ich werde sie morgen im Zug finden, und ich werde ihr alles erklären. Können Sie ihr das sagen?«
Der Barmann nickte. »Na klar«, meinte er lässig. »Nadia. Verstanden.«
»Danke. Vielen Dank!«
Und mit diesen Worten ging Daniel, ohne zu ahnen, dass er, wenn er auch nur neunzig Sekunden länger gewartet hätte, es ihr selbst hätte sagen können.