26
Nadia
Nadia setzte sich an die Bar, schob ein volles Glas Weißwein beiseite – seltsamerweise sah es nicht so aus, als ob es irgendjemandem gehörte – und legte ihre Tasche ab. Sie fing ihren eigenen Blick in dem Spiegel hinter den Flaschen auf. Sie hatte sich in der Mittagspause eine Föhnwelle machen lassen, sodass ihr etwas gekräuselter blonder Bob jetzt ein eher glatter, gewellter blonder Bob war, und der Ruby-MAC-Lippenstift, den sie ausgewählt hatte, frischte ihr Gesicht auf. Sie sah aus wie ihr bestes Selbst. Sie wollte sich nicht selbst beweihräuchern, aber die Möglichkeit, dass sich eine Romanze entfalten könnte, ließ ihr Gesicht irgendwie strahlender aussehen. Sie nahm ihr Handy aus ihrer Tasche, hängte die Tasche an den Haken unter dem Tresen, sodass sie aus dem Weg, aber ständig gegen ihre Knie gepresst war, damit sie nicht gestohlen werden konnte, und sah sich in der Bar um.
Leute saßen draußen auf dem Gehsteig, bei Drinks mit Kollegen nach der Arbeit, und ein oder zwei Paare saßen drinnen verstreut, offensichtlich bei einem Date. Nadia konnte keine Männer sehen, die allein draußen oder abseits in einer Ecke saßen. Sie wusste nicht, wie Daniel aussah, daher hatte sie keine andere Wahl, als dazusitzen und darauf zu warten, dass er sie ansprach. Niemand war hinter der Bar, daher nahm sie ihr Telefon – das nur für einen absoluten Notfall zur Hand sein sollte – und entsperrte es, während sie wartete. Es erschien ihr seltsam, wie sicher sie sich sein konnte, dass das hier es
war, dass das hier der Moment war, in dem die Liebe sie umfangen würde, während sie gleichzeitig wissen musste, dass es einen Plan B gab. Es war der Zwiespalt zwischen Glauben und Selbstschutz. Auf Pinterest hatte sie ein Zitat gelesen, das lautete: Du darfst kein Feigling und verliebt sein; du musst dich für eines entscheiden.
Der Autor dieser Zeilen konnte nie ein Blind Date gehabt haben, dachte Nadia, in dem Wissen, dass das Beste an einem Plan B war, sich zu versichern, dass man ihn niemals brauchen würde.
Sie öffnete Twitter, dachte halb, sie würde die Nachrichten lesen, damit sie, falls das Gespräch ins Stocken kommen sollte, irgendetwas über Syrien oder die Lustvilla
sagen könnte, und wartete darauf, dass der Barmann kam und ihre Bestellung entgegennahm. Jedes Mal, wenn sie spürte, dass jemand zur Tür hereinkam, sah sie auf. Der nicht. Der auch nicht. Hm.
Sie bekam eine Nachricht von Emma, die lautete: Hast du das hier gesehen?!
Es war ein Link zu Twitter. Nadia sah wieder auf, nur für den Fall, dass er hereingekommen war, dann drückte sie auf das URL. Es war ein Link zu einem Hashtag, #Unserestation.
Ich bin so gerührt von diesem #Unserestation-Paar. Was für eine romantische Art, jemanden kennenzulernen!
, sagte @EmmaEmma.
Und:
Findet es sonst noch jemand unheimlich, dass dieser Typ sie ins Auge fasst und sie keine Ahnung hat, wer er ist? #Unserestation
von @girlstolevintage.
Und:
Ich kann einen Mann nicht mal dazu kriegen, mir zurückzuschreiben, und hier ist das #Unserestation-Paar und hinterlässt füreinander Liebesbotschaften in der Zeitung wie in einem Jane-Austen-Roman. Wie wenn Jane Twitter gehabt hätte …
, schrieb @notyourgirl.
Nadia scrollte weiter. Sie staunte über das, was sie sah. Leute folgten ihrer Geschichte. Ihrer gemeinsamen Geschichte! Und hatten Meinungen dazu! Und einen Hashtag! #UNSERESTATION!
Das erschien ihr so bizarr – auch wenn sie, dachte sie, wenn sie nicht selbst das Subjekt dieses Austauschs wäre, eindeutig Emma davon schreiben würde. Das hier war London vom Feinsten: das London, wo alle bei derselben Sache, derselben Witzelei oder Bewegung oder Idee mitfieberten. Sie nahm an, das war der Grund, weshalb Missed Connections
überhaupt funktionierte: Es ging nicht nur darum, dass zwei Leute einander suchten und fanden. Es ging darum, wie wir alle Liebe suchen, ob wir es zugeben wollen oder nicht, und Voyeure beim Liebesleben anderer Leute sind. Sie konnte es kaum erwarten, das dem U-Bahn-Typen zu zeigen. Sie setzten einen Trend! Es war ein absolut verheißungsvoller Start. Es fühlte sich wie ein Glücksbringer an. Oh, es war alles so perfekt!
»Nadia?«
Nadia sah von ihrem Handy zu dem Barmann hoch, der sie anstarrte.
»Ja?«, sagte sie.
Nadia war verwirrt. Ihr Typ arbeitete hier? Und sie traf ihn … während er arbeitete? Der Mann war groß und ungefähr in ihrem Alter, mit dunklen Bartstoppeln und guten Zähnen und –
»Ich habe eine Nachricht für Sie, von Ihrem … Ein Mann war hier, der gesagt hat, ich solle nach einer Nadia fragen.«
Nadia verstand nicht, was der Barmann sagte. Sie sah sich um, als würde irgendjemand gleich aufspringen und sagen: »War nur ein Witz!«
»Er hat gesagt, er müsse gehen, und es tat ihm wirklich leid, und … Puh, jetzt werde ich das alles völlig falsch rüberbringen. Sind Sie schlau? Im Grunde hat er gesagt, dass er Sie mag. Er musste gehen, und er mag Sie.«
Nadia blinzelte, und das Blut schoss ihr in die Wangen. Ihr Körper registrierte die Nachricht, bevor ihr Verstand sie verarbeitete. »Was?«
»Der Typ, mit dem Sie hier verabredet waren? Ihr Date, nehme ich an? Er hat einen Anruf bekommen, und dann hat er gesagt, er müsse gehen, und er wollte, dass ich es Ihnen sage.«
Nadia sah von einem Ende der Bar zum anderen, als ob es vielleicht wirklich ein Witz war, vielleicht eine Art Test von dem U-Bahn-Typen, um zu testen, ob sie tatsächlich interessiert war. Es war niemand sonst in der Nähe.
»Er ist gegangen?« Nadia konnte Tränen in ihren Augen brennen spüren. Nicht weinen
, befahl sie sich. Verdammt, wag es nicht, zu weinen
. Sie war zutiefst beschämt.
»Er ist gegangen.« Der Barmann schien auf einmal zu spüren, wie aufgewühlt sie war. »Aber davor hat er jede Menge richtig nette Dinge gesagt. Er … Er ist hereingekommen und hat sich im Spiegel angesehen, als ob er schüchtern und nervös wäre.« Der Barmann schätzte Nadias Reaktion ab, um zu sehen, ob das hilfreich war. »Er hat sich ein Glas Wein bestellt, und dann hat sein Handy geklingelt und, na ja, es war nicht so, dass ich ihn belauscht habe oder so, aber ehrlich gesagt glaube ich, es war seine Mum. Er hat versucht, sie zu beruhigen. Und dann hat er eine Minute gewartet und mir dann gesagt, ich solle Ihnen sagen …« Der Barmann hörte auf, sein Glas zu polieren, und stellte es ab. »Augenblick, lassen Sie mich das richtig hinbekommen. Im Grunde hat er Ihnen jede Menge Komplimente gemacht. Er hat mir gesagt, ich solle nach einer schönen blonden Frau Ausschau halten, die allein ist und Nadia heißt, die freundlich und schlau und richtig heiß ist, und ich glaube, vielleicht hat er auch charmant gesagt?«
Nadia wusste nicht, was sie glauben sollte.
»Oh«, war alles, was sie zustande brachte. Ihr Gehirn bewegte sich bereits auf einer Abwärtsspirale von Gründen, warum er wirklich
gegangen war.
Du bist hässlich, sagte sie sich.
Kein Mann würde dich je wirklich verführen wollen, sagte eine Stimme in ihrem Kopf.
Er muss ein besseres Angebot bekommen haben.
Dich mag sowieso niemand.
Du bist nicht liebenswert.
Abstoßend.
Traurig.
Erbärmlich.
»Ich gebe Ihnen einen Drink aus«, sagte der Barmann, um einen fröhlichen Ton bemüht. »Aufs Haus.« Er konnte ihre bedrückte Stimmung spüren und schien verzweifeltes Mitleid mit ihr zu haben.
»Danke«, sagte Nadia emotionslos. Sie saß wie angewurzelt da, und die Worte blieben ihr im Hals stecken. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Natürlich gab es keinen Typen, kein Date. Natürlich saß sie allein hier. Natürlich! Dachte sie allen Ernstes, sie sei so unwiderstehlich, dass ein gut aussehender Mann sie aus der Ferne anbeten und ihr Briefe schreiben würde und alles wäre, was sie je zu hoffen gewagt hatte? Wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? Das Leben war kein Märchen. Das Leben war kaum auch nur eine zusammenhängende Geschichte. Pech kam vor, und manchmal verliebten sich Leute, aber weitaus mehr Leute taten es nicht, und sie war offensichtlich eine von denen, die es nicht tun würden. Es würde ihr nicht passieren, und sie war beim Friseur gewesen und hatte ein neues Kleid angezogen und vor Emma und Gaby angegeben, alles umsonst. Eine vereinzelte Träne kullerte aus ihrem linken Auge, und sie blinzelte hastig, nachdem sie sie weggewischt hatte, entschlossen, sich keine Blöße zu geben.
Ihr ging der Gedanke durch den Kopf, dass er sie noch immer beobachten könnte, dass es vielleicht ein Test war, und sie wollte sich mit Anstand und Stil benehmen. Sie war halb in Versuchung, ihre Mutter anzurufen, aber sie nahm nicht an, dass sie es in sich hatte, ihr alles zu erklären, was passiert war. Ihr Telefon summte in ihrer Hand. Ihr war gar nicht bewusst, dass sie es noch immer in der Hand hielt. Es war Gaby, der vereinbarte Notfallanruf.
Wenn Nadia abnahm, dann könnte sie sie bitten, zu der Bar zu kommen, sie zu umarmen und mit ihr etwas zu trinken und ihr zu sagen, dass alles gut werden würde. Aber während Nadia sich die Liste von Optionen durch den Kopf gehen ließ, hörte es auf zu klingeln, und alles, was auf ihrem Display aufleuchtete, war: »Entgangener Anruf (1) GABY ARBEIT.«
Sie würde ihr kostenloses Glas Wein trinken und überlegen, was sie tun sollte. Das war alles. Sie wusste nicht, wie sie darüber reden oder wem sie es erzählen sollte, aber sie musste in diesem Moment keine Entscheidungen treffen. Sie konnte einfach hier sitzen und das eisige, glatte Gefühl eines kalten Weißweins durch ihre Kehle rinnen lassen, und sie konnte tief durchatmen und dann nach Hause fahren.
»Was darf es sein?«, fragte der Barmann. »Sie können sich aussuchen, was Sie möchten.«
Nadia sah ihn an. Seine Augen blickten freundlich. Das hier war ein freundlicher Mann, der Zeuge ihrer Demütigung war. »Haben Sie irgendwas mit Kohlensäure? Zum Beispiel einen …«
»Albariño? Das war, was Ihr Freund hatte.«
Nadia nickte. Ihr »Freund«. Hm. »Das wäre schön, danke.«
Der Barmann nahm ein Glas herunter und holte die Flasche aus dem Kühlschrank. Während er den Wein einschenkte, sagte er: »Sie können die Flasche austrinken«, und schob ihr das halb volle Glas und die Flasche mit dem Rest hin. Dann entfernte er sich, um jemand anderen zu bedienen, und ließ sie allein, um ihre Wunden zu lecken.
Nadia wusste nicht, was sie glauben sollte. Ihr ging der Gedanke durch den Kopf, dass der U-Bahn-Typ ihren Namen wusste, weil er dem Barmann gesagt hatte, er solle nach einer Nadia fragen. Wie konnte das sein? Sie fragte sich, ob er je die Absicht gehabt hatte, sie zu treffen – hatte er vor, sie zappeln zu lassen? Aber das ergab keinen Sinn. Es gab keinen Grund, weshalb ein Fremder das tun würde. Es sei denn, es war gar kein Fremder – was, wenn es jemand war, der sie kannte, und er deshalb ihren Namen und welchen Zug sie nahm und von der Sache mit dem Investor wusste? Sie fragte sich, ob es der Grässliche Ben war. Gott
, dachte sie, sicher nicht. Doch sicher nicht der Grässliche Ben?
Das wäre zu grausam, selbst für ihn – außerdem hatte er ja jetzt diese neue Freundin. Nadia starrte wieder auf ihr Spiegelbild und sah sich beim Trinken zu. Sie leerte ihr Glas Wein in zwei großen Zügen. Ihr Ego war verletzt und ihr Herz angeknackst. Sie kam sich so dumm vor, gehofft zu haben. Sie hatte wirklich gedacht, das hier sei es.
Während der Alkohol durch ihre Adern strömte, gestattete sie sich, es zu fühlen. Sie war am Boden zerstört.
Sie schenkte sich den letzten Rest aus der Flasche ein.
Werde ich je geliebt werden?
, fragte sie sich. Ich wusste nicht, dass es so schwer sein würde
.