27
Daniel
»Henry ist verschwunden«, sagte sie, als sie ihm die Tür öffnete. Tränen liefen ihr übers Gesicht und hinterließen dunkle Mascaraspuren, die blasser wurden, als sie ihr Kinn erreichten.
»Mum«, sagte Daniel, »wer ist Henry? Was ist passiert? Komm schon. Ich bin jetzt hier.«
Daniel streifte seine Schuhe auf der Fußmatte ab und zog sie aus. Er legte seiner Mutter eine Hand ins Kreuz und schob sie sanft durch die Diele mit der geblümten Tapete und den ganzen Dingen, die mit Tupfen oder Liebesherzen verziert waren. Er hatte nie verstanden, wie sein Vater das ertragen konnte. Es war, als hätte der Innenausstatter an Übelkeit und Durchfall gelitten, mit der Doppelhaushälfte seiner Eltern als Ergebnis. Er setzte sich zu seiner Mum aufs Sofa, das auf »ihrer« Seite ein wenig durchhing, strapaziert von ihrem allabendlichen Sitzen vor dem Fernseher, neben dem Sessel, der bis vor Kurzem der seines Dads gewesen war. Vielleicht wird er immer Dads sein,
dachte er. Ihm wurde bewusst, wie er nie dort hatte sitzen wollen, weil er jemand anderem »gehörte«.
Er legte seiner Mum eine Hand auf den Arm. »Wer ist Henry?«
»Henry! Der Staubsauger!«, antwortete seine Mum kopfschüttelnd, als sei er schwer von Begriff. Wie hatte er nicht auf Anhieb begreifen können, dass seine Mutter wegen des Staubsaugers weinte? War das etwa der Grund, weshalb er sein Date versetzt hatte – das, was er sich mehr als fast alles andere auf der Welt gewünscht hatte? Ein vermisster Staubsauger? »Er ist verschwunden!«
Daniel forschte in ihren Augen, versuchte zu verstehen, worauf sie hinauswollte. In letzter Zeit war es ihr richtig gut gegangen: Sie hatte jetzt schon seit ein paar Wochen nicht mehr endlos vor ihm geweint. Sie war ein Fels in der Brandung gewesen, was gut war, denn auch wenn Daniel wusste, dass er nicht für die Emotionen seiner Mutter verantwortlich war (das sagte ihm seine Therapeutin bei jeder Sitzung), war es weitaus leichter, selbst den Kopf über Wasser zu halten, wenn es ihr gut ging. Aber jetzt war es vielleicht an ihm, stark für sie zu sein.
Seine Mutter seufzte entnervt auf.
»Henry. Der Staubsauger. Wir hatten ihn fast so lange, wie du am Leben bist. Und er war gut, weißt du, er hat lange gehalten. Früher haben die Dinge einfach lange gehalten. Es war nicht so wie heute, wo sie das Zeug so bauen, dass es automatisch nach zwei Jahren kaputtgeht, damit man es ersetzen muss. Du weißt schon. Wie nennt man das? Wenn sie die Dinge so bauen, dass sie nach zwei Jahren kaputtgehen?«
»Geplante Obsoleszenz.«
»Ja. Geplante Adoleszenz.«
»Geplante Obsoleszenz
. Oder eingebaute Obsoleszenz, das Prinzip, ein Produkt so zu planen oder zu entwickeln, dass es eine künstlich begrenzte Nutzungs…«
»Ach halt doch den Mund«, fauchte sie gutmütig zwischen ihren Tränen. »Du klingst genau wie dein Vater. Weißt einfach alles.« Sie klang, als ob es ihr überhaupt nicht leidtäte, dass ihr Sohn wie sein Dad klang. Daniel fiel auf, dass ihre Mascara in die Innenwinkel ihrer Augen gelaufen war, sodass in jedem von ihnen jetzt ein kleiner schwarzer Punkt war.
»Na ja. Dein Vater wollte mich Henry nicht ersetzen lassen, weil er, obwohl er angefangen hat, ein bisschen zu riechen und nicht mehr so gut saugt wie früher, noch immer gut in Schuss ist. Und du weißt ja, ein neuer kann Hunderte von Pfund kosten! Das ist ein Urlaub!«
Daniel verstand absolut nicht, wohin diese Unterhaltung führen sollte.
»Und du bist aufgelöst wegen …?«, sagte er, während er im Stillen dachte: Ich möchte wetten, sie ist jetzt dort. Ich möchte wetten, sie hat gewartet, und ich bin nicht gekommen, und sie denkt, dass es mir egal ist. Dass ich ein Arschloch bin
.
»Er ist verschwunden!« Jetzt redete sie völlig ruhig. »Ich habe ihn nach draußen gebracht, unter den Carport, weil ich dachte, dass ich den Wagen sauber machen muss. Er ist völlig verdreckt, und neulich habe ich Tracey vom Darts-Abend nach Hause gefahren, und es war mir auf einmal so peinlich, in was für einem Zustand er war. Ich möchte wetten, sie hat mich für einen richtigen Dreckspatz gehalten, da lagen Verpackungen, und er war staubig, und ich nehme an, nach der Sache mit deinem Vater … na ja. Heute habe ich auch dem Haus einen Frühjahrsputz verpasst, weil mir klar geworden ist, dass ich mich nicht wirklich um das Haus gekümmert habe.«
Vielleicht ist es ihr ja sowieso egal. Vielleicht ist sie gar nicht aufgetaucht. Vielleicht ist sie da und wird schon vom Barmann angemacht, oder von einem dieser Typen am Ecktisch mit seinen schicken Finanzfreunden
.
Daniel sah sich um und nickte. »Es sieht toll aus, Mum.« Und das stimmte. Seine Mutter war immer stolz auf ihr tadelloses Zuhause gewesen. Ein tadelloses, sehr blumiges und kitschiges Zuhause.
Ich hätte nicht gehen sollen.
»Nein! Nein, das tut es nicht!«, beharrte sie. »Weil Henry verschwunden ist! Ich bin nie dazu gekommen, den Wagen sauber zu machen. Ich habe Henry draußen neben der Mülltonne gelassen, und ich dachte, ich mache es morgen, und dann am Tag danach und am Tag danach, und ehrlich gesagt konnte ich mich nicht wirklich dazu aufraffen, deswegen stand er vielleicht eine Woche dort draußen, und heute musste ich das Haus staubsaugen und wollte ihn holen, und er ist verschwunden.«
Daniel stand auf und ging zur Haustür. Er spürte, wie seine Frustration darüber, dass er sein Date versetzen musste, die Art beeinflusste, wie er mit seiner Mutter redete. Er hasste diese Version von sich: Selbst als Teenager hatte er mit seinen beiden Eltern immer respektvoll geredet. So war er erzogen worden.
»Ich bin sicher, das ist er nicht, Mum. Wohin hätte er denn verschwinden sollen?«
»Gestohlen! Ich möchte wetten, er wurde gestohlen!«
Daniel zog seine Schuhe wieder an und ging hinaus, um neben den Mülltonnen nachzusehen, und als er den Staubsauger dort nicht sehen konnte, sah er in
der Mülltonne nach.
»Du siehst nirgends nach, wo ich es nicht schon getan habe!« Seine Mutter ließ sich auf die Eingangsstufe sinken. »Oh, Danny«, sagte sie. Ihre Unterlippe bebte wieder. »Kurz bevor er dich beim Pub getroffen hat, an dem Tag, an dem er … An diesem Tag hatten wir einen solchen Riesenstreit. Er hat gesagt, ausgeschlossen, dass ich einen neuen Staubsauger kaufe, und ich dachte, er ist ein solcher Geizkragen, und wurde sauer. Und er wird denken … Na ja, ich möchte wetten, er denkt, dass ich es absichtlich getan habe!«
Daniel schlenderte zurück zu seiner Mum. »Das denkt er nicht, Mum. Er denkt gar nichts. Er ist …«
»Oh, ich weiß, dass er tot ist. Aber er ist hier. Und wacht über uns alle. Und er wird mit verschränkten Armen und einer richtig wütenden Miene dastehen und denken, dass ich Henry ›verloren‹ …«, seine Mutter machte vor ihrem Gesicht Anführungszeichen in der Luft, »habe und dass ich jetzt, wo er verschwunden ist, dachte, ich würde damit davonkommen.«
»Mum, dein Mann ist gestorben, und dein Staubsauger hat schlecht gerochen. Ich glaube, du darfst dir einen neuen kaufen.«
»Du glaubst mir also auch nicht!«
»Auch nicht?«
»Erst dein Vater und jetzt du!« Sie nahm ein Taschentuch aus der Tasche ihres Kleids und putzte sich die Nase. Sie redete wieder hysterisch, und ihre Worte purzelten alle durcheinander. »Na ja, ich sage dir, Henry war hier draußen bei den Mülltonnen, und jetzt ist er nicht mehr da. Er wurde gestohlen, und das war nicht meine Schuld.«
Daniel ließ sich neben seiner Mutter auf die Stufe vor dem Haus fallen. Er sagte nichts, sondern drückte nur sein Knie gegen ihres, als Solidaritätsbekundung. Sie war offiziell übergeschnappt, aber das war ihm egal. Er war halb verliebt in eine Frau, die er nie getroffen hatte und der er über die Zeitung geschrieben hatte, weil er dachte, das würde seinem Dad gefallen. Er konnte verstehen, dass seiner Mutter die Sache mit dem Staubsauger so naheging, weil sein Dad gestorben war.
Er hoffte, dass er Nadia nicht aus der Fassung gebracht hatte. Er hoffte, dass sie vielleicht gar nicht aufgetaucht war und daher keine Ahnung hatte, dass er sie versetzt hatte. Er hätte sich zwar auch geärgert, wenn er geblieben und selbst derjenige gewesen wäre, der versetzt wurde. Aber das wäre ihm immer noch lieber gewesen, als dass sie allein dort wartete und dachte, sie sei ihm egal.
Nach einer Weile sagte seine Mutter: »Ich vermisse den elenden Scheißkerl.«
Daniel lächelte. »Ich weiß, Mum. Ich auch.«
»Ich wache mitten in der Nacht auf und denke, er ist pinkeln gegangen, und warte darauf, dass er wieder ins Bett kommt. Und dann fällt es mir wieder ein.«
»Ich weiß.«
»Und ich bin … wütend. Ich bin so sauer auf ihn, weil er gestorben ist.«
»Ich weiß«, sagte Daniel bedrückt.
»Ich will am liebsten irgendjemanden anschreien. Aber wen? Den verdammten Schrottsammler, der vermutlich den Staubsauger geklaut hat?«
»Ahhhh«, sagte Daniel. »Der Schrottsammler. Ja. Wenn Henry eine Woche lang hier draußen stand, wäre das eine Erklärung.«
»Ja«, meinte seine Mum.
Daniel streckte einen Arm aus, um sie zu drücken.
»Ich weiß, es ist fürchterlich. Das hast du nicht verdient. Du hast es nicht verdient, ohne ihn zu sein.«
Erst als seine Stimme brach, wurde ihm bewusst, dass er ebenfalls weinte. Dicke Tränen kullerten ihm übers Gesicht, passend zu denen seiner Mutter. Sie hatte aufgehört zu weinen, als sie schließlich zu ihrem Sohn hochsah, und die beiden saßen in der späten Abendsonne da, halb lachend über ihre großen Gefühlsbekundungen und halb noch immer schluchzend, Mutter und Sohn vereint in der Trauer um den Mann in ihrem Leben, während sie sich fragten, wie sie ohne ihn weiterleben sollten.
Daniel war froh, dass er doch gekommen war. Jetzt waren sie nur noch zu zweit. Sie waren ein Team. Sie brauchten einander.