28
Nadia
»Sitzt hier schon jemand?«
Nadia sah hoch zu einem großen, rothaarigen Mann mit einem schiefen Lächeln. Er zeigte auf den Platz neben ihr. Nadias zweites Glas Wein war leer, und die Bar hatte sich um sie herum gefüllt. Der Hocker neben ihr war der einzige freie Platz. Wie lange saß sie schon hier? Lange genug, um zwei große Gläser Weißwein zu trinken, wurde ihr bewusst.
»Ja, ja, natürlich«, sagte Nadia, als sie sich an ihre Manieren erinnerte.
»Ja, da sitzt schon jemand?«
»Nein. Da sitzt niemand. Ja. Ja, Sie können da sitzen.«
Der Mann hielt den Blickkontakt zu Nadia beharrlich aufrecht. Sie schluckte schwer. Sie war ein klein wenig betrunken – sie war so aufgeregt wegen des Dates gewesen, dass sie seit dem Frühstück nichts Richtiges mehr gegessen hatte, daher war ihr der Alkohol sofort zu Kopf gestiegen. Irgendetwas in der Luft veränderte sich. Der Mann stand vor ihr, sah sie eine Sekunde zu lange an. Sein Blick riss Nadia aus ihrer Tagträumerei und in die Gegenwart zurück.
»Warten Sie auf jemanden?«, fragte er und nahm neben ihr Platz.
»Das habe ich«, antwortete sie. Sie räusperte sich, in dem Bewusstsein, dass sie ein wenig krächzend klang. »Aber er konnte nicht kommen«, ergänzte sie etwas lauter.
»Und jetzt trinkt die Dame allein?«
»Und jetzt trinkt die Dame allein«, wiederholte Nadia. Wow. Sie hatte diesen Satz ein bisschen gelallt – ihre Sprache war eindeutig beeinträchtigt. Sie sollte nach Hause fahren. Oder wenigstens etwas essen.
»Das ist ja schade«, sagte er, und Nadia lächelte matt. Sie konnte seinen Blick auf sich spüren, aber sie war nicht in der Stimmung. Sie wollte nicht mit einem Fremden an einer Bar Katz und Maus spielen – sie wollte Trübsal blasen und sich selbst bemitleiden und jammern, wie entsetzlich alle Männer waren, weil sie einem erst große Hoffnungen machten und sie dann in die Gosse traten.
»Es klingt vielleicht etwas forsch, aber, wollen Sie noch einen Drink? Ich habe noch eine halbe Stunde, bevor mein Kumpel kommt.«
Nadia sah ihn an, dieser Mann saß neben ihr, dort, wo ihr Date hätte sitzen sollen.
»Sie wollen, dass ich mit Ihnen etwas trinke?«, fragte sie. »Einfach so?«
»Einfach so was?«
»Sie setzen sich neben eine Frau, die Sie nicht kennen, und laden sie zu einem Drink ein, wie in einem Nora-Ephron-Film?« Nadia flirtete nicht, aber sie hatte eindeutig etwas Draufgängerisches an sich. Zwei Drinks und eine verpasste Verbindung genügten, um ihr das Gefühl zu geben, nicht höflich oder schüchtern oder nett sein zu müssen. Sie musste sich nicht verbiegen, um sich liebenswert zu machen. Sie war stocksauer. Im Laufe von zwei Drinks war sie erst am Boden zerstört, dann aufgewühlt und schließlich wütend gewesen, und jetzt, begriff sie, musste sie sich einen Dreck um irgendetwas scheren. Alle Männer waren gleich, dachte sie: dazu bestimmt, sie zu verarschen. Was hatte sie schon zu verlieren, indem sie sich auf ein Wortgefecht mit diesem hier einließ?
»Ich weiß zwar nicht, wer das ist, aber ja. Nennen Sie es ein radikales gesellschaftliches Experiment, wo ein einsamer Mann herauszufinden versucht, ob es möglich ist, eine Frau ohne Zuhilfenahme einer Dating-App kennenzulernen. In alten Zeiten lief es angeblich so ab, wissen Sie. Männer und Frauen haben einfach eine Unterhaltung geführt, in der Öffentlichkeit, und wenn ihnen diese Unterhaltung gefallen hat, haben sie sich weiter unterhalten, bis sie entschieden, dass sie gern an einem anderen Tag noch eine Unterhaltung führen würden, und danach vielleicht noch eine. Experimentelle Zeiten.«
»Wie kommt es, dass Sie nicht wissen, wer Nora Ephron ist?«, fragte Nadia. »Sie hat eine Ära definiert. Unsere ganze Generation ist mit ihr aufgewachsen.«
»Ich werde mich schlaumachen müssen«, antwortete er.
»Fangen Sie mit E-Mail für Dich an, und sobald Sie ihr Genie verstehen, lesen Sie Sodbrennen
»E-Mail für Dich! Davon habe ich gehört!«
»Ich würde dir einen Strauß frisch gespitzter Bleistifte schicken, wenn ich deinen Namen und deine Adresse wüsste …«
»Bleistifte? Sie sagen das, als ob es romantisch wäre.«
»Oh, aber das ist es«, antwortete Nadia. War sie charmant? Sie dachte, sie sei bissig, aber die Augen des Mannes funkelten sie an.
»Ich bin übrigens Eddie«, sagte er und streckte eine Hand aus, um ihre zu schütteln.
»Hallo«, sagte sie.
Eddie lächelte. »Es wäre üblich, dass Sie mir jetzt Ihren Namen sagen«, meinte er.
»Nadia«, sagte Nadia.
»Und was machen Sie beruflich, Nadia?«
»Ich arbeite im Bereich künstliche Intelligenz.«
»Schön und schlau, verstehe.«
Nadia zog eine Augenbraue hoch. »Meine Roboter haben originellere Anmachsprüche als das.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, wir pflegen heute Abend die alte Schule.«
»Die Oldies sind die Goodies?«
»Die Goodies sind die Goodies«, wiederholte er, was nicht sehr logisch war, aber die Art, wie er es sagte, machte Nadia nervös.
»Also, das Gleiche noch mal?«, hakte er mit einem Nicken zu ihrem leeren Glas nach. Nadia zuckte die Schultern.
»Na klar«, sagte sie. Sie verblüffte sich selbst mit ihrer Antwort.
Während der Barmann ihnen noch zwei Gläser Wein hinstellte, sagte er: »Ihr Kumpel hat auf seine Karte einen Deckel aufmachen lassen. Soll ich diese Drinks daraufsetzen? Oder wollen Sie seine Karte für ihn mitnehmen und mir eine neue geben, oder …?«
Nadia konnte Eddies Blick auf sich spüren. »Nein, nein«, sagte sie, so verlockend es auch war, eine Flasche mit dem Teuersten, was es gab, zu bestellen und sie dem Mann, der sie versetzt hatte, in Rechnung zu stellen. Sie wusste nicht einmal seinen Namen! »Obwohl«, ergänzte sie dann, »eigentlich, vielleicht könnte ich sie doch für ihn mitnehmen?«
Der Barmann zuckte die Schultern. »Na klar«, sagte er. Er griff hinter sich und holte die Karte. Nadia nahm an, sie könnte zumindest nachsehen, welcher Name darauf eingeprägt war. Sie nahm sie dem Barmann ab. Darauf stand D. E. WEISSMAN – kein Name, der ihr irgendetwas sagte.
Eddie zückte seine Bankkarte in der Zeit, die Nadia brauchte, um unter dem Tresen nach ihrer Tasche zu greifen. »Wenn Sie gestatten«, sagte er. »Wir werden mit der hier einen Deckel aufmachen«, wandte er sich an den Barmann.
Nadia steckte D. E. Weissmans Karte in ihre Tasche.
»Danke«, sagte Nadia, wohl wissend, dass sie nicht noch mehr trinken sollte, ohne etwas zu essen. Sie tat es trotzdem. Sie war hier, sie sah gut aus, und ein witziger Mann war an ihr interessiert. Es konnte doch sicher nichts schaden, mit ihm zu warten, bis sein Freund kam? Ein kleiner Flirt tat ihr gut – als ob sie doch nicht gänzlich abstoßend für die gesamte Menschheit war. Ja. Sie würde eine halbe Stunde bleiben, nur noch auf einen Drink mehr, wenn auch nur, um sich in Erinnerung zu rufen, dass es ihr gut ging.
Okay, sie redete sich ein, dass es ihr gut ging, aber bald darauf würde sie sich doch bestimmt tatsächlich wieder gut fühlen, oder?
»Zum Wohl«, sagte Eddie, erhob sein Glas vor ihr, und Nadia stieß mit ihm an.
»Auf die altmodische Art«, sagte sie, wobei sie weitaus selbstbewusster klang, als sie sich fühlte.
Sie würde wirklich nicht lange bleiben.