31
Nadia
Als Nadia an diesem Abend erschöpft nach Hause kam, kämpfte sie gegen einen Kater und gegen ein Bündel HB-Bleistifte auf ihrer Eingangsstufe an. Was zum Teufel
…?,
dachte sie. Sie bückte sich, um sie aufzuheben, und schalt sich dann prompt dafür, wie schwer ihre Kopfschmerzen selbst diese Bewegung machten. Sie hatte den ganzen Tag davon geträumt, nach Hause zu kommen, ihren BH auszuziehen, alle Fenster aufzureißen (aber alle Jalousien zu schließen) und sich von ihrem Lieblingsrestaurant am Newington Green getrüffelte Käsemakkaroni und einen New Yorker Cheesecake nach Hause liefern zu lassen. Sie war fast da. Die Freiheit war zum Greifen nah.
Die Bleistifte waren wie ein Blumenstrauß arrangiert, und an einem energiereicheren Tag hätte sie sofort ihr Handy gezückt, um sie auf Instagram zu posten. Aber so sprang ihr die Nachricht ins Auge, und jeder Gedanke an ein Foto war prompt vergessen.
Hier ist zwar keine E-Mail für Dich, aber dafür ein Strauß frisch gespitzter Bleistifte
, stand da. (Ich freue mich schon darauf, herauszufinden, was das bedeutet.) Gestern Nacht war wunderschön. Bis bald, hoffentlich, Eddie
.
Nadia rieb sich die Schläfen. Das war viel zu verdauen. Eddie, wie der Eddie von gestern Nacht. Eddie, wie der Eddie, der sie vor ihrem Arbeitsplatz mit offenem Mund zum Abschied geküsst hatte. Eddie, wie der Eddie, der … tagsüber zurück zu ihrer Wohnung gefahren sein oder sich zumindest ihre Adresse gemerkt haben musste, um dieses Geschenk von jemandem hinbringen zu lassen.
Sie hatte diese Szene aus E-Mail für Dich
nur beiläufig erwähnt, gleich am Anfang, bevor er sie auch nur nach ihrem Namen gefragt hatte. Und er hatte sich daran erinnert? Vom Kopf her wusste Nadia, dass ihn das zu dem machte, was Emma und Gaby einen »guten Typen« nennen würden. Er hatte ihr Bett gemacht, nachdem er sie zum Höhepunkt gebracht hatte, und am nächsten Tag auch noch eine Variation eines Blumenstraußes geschickt.
Warum brach sie dann nicht prompt in Entzücken aus?
Nadia dachte an ihre zweitliebste Szene aus E-Mail für Dich
– nach der Szene mit den Bleistiften –, in der der Typ, der sich gerade von Meg Ryan getrennt hat, fragt, ob sie einen anderen hat. Ihnen beiden war klar, dass ihre Beziehung vorbei war, und er hatte sich bereits neu orientiert.
»Nein, nein«,
sagt Meg Ryan verträumt, »aber es gibt den Traum von einem anderen.«
Nadia hatte eigentlich den ganzen Tag nicht an den U-Bahn-Typen gedacht – abgesehen davon, dass sie wütend auf ihn war und ihm ein ewiges Leben als Single an den Hals wünschte, weil er es gewagt hatte, sie zu versetzen. Aber als sie jetzt auf ihrer Türschwelle stand, eine Geste der Freundlichkeit des einen Mannes vor sich, war es der andere, der ihre Gedanken durchflutete.
»Absolut nicht«, sagte Emma fünf Minuten später durchs Telefon. »Ausgeschlossen. Der U-Bahn-Typ hat sich verpisst! Er ist abgehakt! Er ist erledigt. Er hat es vermasselt!«
Nadia lag bäuchlings auf ihrem Bett, die rechte Gesichtshälfte aufs Bettzeug gedrückt. Sie hatte eine alte Schachtel mit Milk-Tray-Schokopralinen in der Schublade ihres Schreibtischs gefunden, in der sie Notfallkarten und Zeug zum Weiterverschenken aufbewahrte: Sanctuary-Spa-Bodylotions und Kerzen, die nicht aus Sojawachs gemacht waren. Sie war überglücklich, darin eine Pralinenschachtel zu finden, die erst seit einem Monat abgelaufen war. Sie hatte sich ihre Käsemakkaroni noch gar nicht bestellt. Die Milk-Tray-Pralinen waren ihre Vorspeise.
»Jetzt hör mir mal gut zu, meine Freundin«, drängte Emma weiter. »Ein Gutes hatte es, dass er nicht aufgetaucht ist: Es hat dich zu dem Mann geführt, den du wirklich treffen musstest. Er ist rothaarig und stolz! Er hat dich zum Orgasmus gebracht! Er hat eine romantische Geste gemacht, die ich zwar nicht völlig verstehe, die aber beweist, dass er dir Aufmerksamkeit geschenkt hat! Wenn du dich diesem Mann nicht öffnest, bist du einfach nur dumm.«
»Ich bin verkatert«, beklagte sich Nadia. »Sei nett zu mir.« Sie steckte sich eine Salz-Karamell-Praline in den Mund und kaute geräuschvoll.
»Oh, ich bin nett zu dir. Glaub mir.«
»Wie viel Gewicht können wir der Tatsache beimessen, dass der Barmann, jetzt, wo ich darüber nachdenke, gesagt hat, es sei seine Mutter gewesen, die angerufen hat?« Nadia fasste eine Nugatpraline ins Auge. »Und dass das der Grund sei, weshalb er so plötzlich gehen musste?«
»Null. Weniger als null«, antwortete Emma.
»Weniger als null?«
»Weniger als null! Selbst wenn die Königin von Saba am Telefon gewesen wäre, hätte er trotzdem warten können, bis du zur Tür hereinkommst, um dir persönlich zu erklären, warum er gehen musste.«
Nadia zog vor dem Telefon einen Schmollmund.
»Zieh vor mir keinen Schmollmund.«
»Woher wusstest du, dass ich einen Schmollmund ziehe?«
»Ich kann dich lesen wie ein Buch, selbst wenn ich dich nicht sehen kann«, antwortete Emma. »Und hör auf, so verdammt laut zu kauen. Das ist ja, als ob man mit einer Waschmaschine telefoniert.«
Nadia lachte.
»Vielleicht gab es einen familiären Notfall«, überlegte Nadia. »Einen schrecklichen Unfall, sodass er einfach nicht warten konnte.«
»Das wage ich zu bezweifeln«, meinte Emma. »Aber die Frage ist, und vergiss nicht, die Antwort darauf spricht ihn absolut
nicht von Schuld frei, warst du pünktlich?«
»Ich kann mit Stolz behaupten, dass ich buchstäblich eine Minute nach der vollen Stunde da war. Das ist für mich so pünktlich, wie es geht.«
»Allerdings. Ich bin beeindruckt.«
»Ich war wirklich aufgeregt! Wenn ich nicht in der Lobby stehen geblieben wäre, um mit Gaby zu reden, wäre ich eine Minute zu früh gewesen!«
»Na ja. Vielleicht war er bis dahin trotzdem schon wieder gegangen. Das werden wir wohl nie erfahren, oder?«
»Ich könnte ihm in der Zeitung schreiben und ihn fragen«, überlegte Nadia. Inzwischen war sie bei den Erdbeerpralinen angekommen. Sie entschied, dass kein Kater der Welt Erdbeerpralinen wert war, schob die Schachtel von sich und schmierte dabei einen einsamen Pralinenkrümel über ihr Bettzeug, der prompt eine braune Spur hinterließ. Diese Bettwäsche sollte ich sowieso wechseln
, dachte sie. Ich möchte wetten, sie ist voll mit …
»Rate mal, was ich dazu sagen werde?«, erwiderte Emma.
»Absolut ausgeschlossen?«
»Absolut ausgeschlossen! Korrekt!«
»Hör auf. Hör auf zu brüllen.«
Emma holte tief Luft. »Hör zu. Der U-Bahn-Typ ist abgehakt. Ab-ge-hakt. Aber Eddie nicht! Triff ihn wieder, wenigstens ein einziges Mal. Bei Tageslicht. Auf einen Kaffee, damit dein Urteilsvermögen nicht beeinträchtigt ist. Gib ihm eine Chance, dich für sich zu gewinnen. Das hast du verdient.«
Nadia konnte nicht in Worte fassen, warum sie sich dazu nicht imstande fühlte, daher entschied sie sich für: »Na schön. Ich setze das Urteil hiermit aus. Ich werde jetzt ein Bad nehmen und mir Schlaflos in Seattle
ansehen. Du bist zu herrisch für meine Kopfschmerzen.«
»Okay, na schön. Ich liebe dich. Ich sage das alles ja nur, weil ich dich liebe.«
»Bist du dieses Wochenende da? Brunch am Sonntag?«
Emma zögerte. »Ähm. Bin mir noch nicht sicher. Kann ich dir eine Nachricht schicken?«
»Na klar«, antwortete Nadia. »Aber bevor du auflegst: Geht es dir gut? Wie fühlst du dich?«
»Gut. Es geht mir gut.«
»Das ist alles? Erzähl mir einfach, was letztes Wochenende los war.«
»Nads, ich liebe dich. Ich verspreche dir, es geht mir gut.«
»Ich glaube dir kein Wort. Aber. Du weißt, ich bin hier, wenn du so weit bist.«
Während sie auflegte und Deliveroo auf ihrem Handy aufrief, um sich endlich eine richtige Mahlzeit zu bestellen, kam sie zu dem Schluss, dass Emma tatsächlich recht hatte. Es wäre mit Sicherheit Selbstsabotage, Eddies Nummer zu blockieren und zu hoffen, dass er den Wink verstand (und auch ihre Adresse vergaß). Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, genau das zu tun. Aber sie war besser als das: Wenn sie die Nummer eines Mannes, mit dem sie geschlafen hatte – eines Mannes, der ihr einen Strauß frisch gespitzter Bleistifte geschickt hatte! –, ohne Erklärung blockierte, dann würde sie als totale Zicke dastehen. Und das romantische Karma würde sich mit Sicherheit an ihr rächen und sie verletzen. Nein. Sie musste nach ihrem Wertesystem handeln, egal, wie unangenehm sich das anfühlte, denn so war sie erzogen worden. So würde sie auch selbst behandelt werden wollen. Freundlichkeit kam an erster Stelle.
Als sie später auf der Couch ihr Essen aß, verblüffte sie sich selbst damit, wie sehr sie, selbst während sie mit einer halben Focaccia Käsesoße aufwischte, noch immer nach dem imaginären Mann im Zug schmachtete. Jeder hätte diese Nachrichten schicken können. Sie dachte noch immer ständig an einen Mann, den sie nie getroffen hatte, den sie nie gesehen oder reden gehört hatte, wohingegen ein echter, wirklicher Mann letzte Nacht in ihrem Bett geschlafen hatte. Sie sollte
wenigstens so höflich sein, Eddie einen Dank zu schreiben, überlegte sie. Es war eine süße Geste, und er hatte nichts falsch gemacht, außer dass er eben nicht der U-Bahn-Typ war. Und dafür konnte er schließlich nichts.
Danke
, schrieb Nadia ihm. Sie ärgerte sich, dass sie iMessage benutzen musste, weil er kein WhatsApp hatte. Was für eine Belanglosigkeit, um sich darüber zu ärgern, und trotzdem wahr, dachte sie. Bevor sie noch irgendetwas anderes tippen konnte, antwortete er bereits: Ich bin dabei. Ich mache meine Hausaufgaben
.
???
, tippte sie zurück.
Der Film! Nora Ephron! Das ist eine sehr wichtige Info über mich: Ich befolge Anweisungen sehr genau
. Er hatte das Foto eines Biers hinterhergeschickt, das vor einem Fernseher hochgehalten wurde, auf dem tatsächlich ihr Lieblingsfilm lief. Es hatte etwas Vertrautes, ein Foto zu schicken, etwas Intimes. Nadia nahm an, dass Sex so ungefähr das Intimste war, was es gab, aber sie glaubte es nicht wirklich. Sex war eine Sache, aber dieser Typ machte sich für sie emotional zugänglich. Neben dem Fernseher konnte sie ein paar gerahmte Fotos erkennen, und sie zoomte sie mit zwei Fingern heran, in der Annahme, dass sie seine Mum und seinen Dad und vielleicht einen Hund zeigten.
Nadia lächelte vor sich hin und schrieb zurück: Das habe ich mir gestern Nacht schon gedacht, Eddie
. Sie benahm sich sexuell provokativ, indem sie ihn emotional auf eine Armlänge Abstand hielt, eine altbewährte Taktik, die sie schon oft angewandt hatte.
Eddie schickte das Lila-Teufel-Emoji zurück, weigerte sich frustrierenderweise, auf ihre Provokation einzugehen, und tippte: Das ist tatsächlich richtig gut geschrieben. Man denkt, dass die Figuren diese Standardcharaktere sind, die sich ihrem Klischee entsprechend verhalten, aber in dem Moment, in dem man denkt, dass der reiche Buchhandelstyp kein Herz hat, wird einem klar, wie freundlich er ist, trotz seiner Familie. Und man denkt, dass sie ganz romantisch und hoffnungsvoll ist, und dann sagt sie irgendetwas Bissiges und Ätzendes, aber Wahres. Alle überraschen mich, in jeder Szene
.
Nadia schrieb zurück: Erstens einmal, sei nicht dieser Typ
.
Jetzt war es an Eddie, eine Reihe von Fragezeichen zu tippen.
Der Typ, der von der Empfehlung einer Frau überrascht ist und das Wort »tatsächlich« verwendet, als ob es bemerkenswert wäre, dass eine weibliche Empfehlung für einen Film mit einer weiblichen Hauptfigur gut sein könnte.
Wird künftig beachtet,
tippte Eddie zurück. Ich habe nur gemeint, ich hätte nicht gedacht, dass ich auf eine romantische Komödie stehen würde, aber ich akzeptiere deinen Standpunkt.
Es ist so viel mehr als eine romantische Komödie!
, schrieb Nadia zurück.
GENAU DAS SAGE ICH DOCH ÜBER DIE FIGURENENTWICKLUNG!!!!!
, antwortete Eddie. WIR SAGEN BEIDE GENAU DASSELBE!!!!
Okay!!!!!!!!,
schrieb Nadia zurück.
Mein Gott!!!
Nadia fuhr aus ihrem halb komatösen Zustand auf dem Sofa hoch und setzte sich auf. Eddie war … schlau. Und er sagte aufschlussreiche Dinge, ohne zuzulassen, dass sie sich ihm gegenüber wie ein Arschloch benahm. Er trat für seine Meinung ein, während er ihr gleichzeitig sagte, dass er ihre gehört hatte. Nadia war unwillkürlich beeindruckt.
Sie änderte ihre Taktik. Ich bin froh, dass er dir gefällt.
Das tut er
, sagte er. Sie erinnert mich an dich.
Wer?
Kathleen.
Meg Ryan erinnert dich an mich?
Ja
, tippte Eddie zurück. Vielleicht liegt es an den Haaren.
Vielleicht
, antwortete Nadia, während sie versuchte, sich selbst in der Figur der Kathleen zu sehen. Sie mochte den Vergleich.
Oder vielleicht liegt es an der abwehrenden Haltung, hinter der sich tiefe Romantik verbirgt,
tippte er und hängte ein zwinkerndes Emoji an.
Touché
, schrieb Nadia. Und dann, nur weil sie Emmas Stimme in ihrem Kopf hörte und weil er niedlich war und sie im Grunde nichts zu verlieren hatte, ergänzte sie: Also, dieses Wochenende, oder?
Du willst mit mir ausgehen?
, schrieb Eddie, wobei er die Tatsache ignorierte, dass er ihr gegenüber heute Morgen erwähnt hatte, dass er das ganze Wochenende frei sei. Das hatte sie verdient. Sie hatte es verdient, sich eine kleine Blöße geben zu müssen, wenn sie ihm so hart zusetzte. Sie bewunderte das – dass er sie zwang, ihr Interesse ebenso deutlich zu bekunden, wie er seines bekundet hatte. Es fühlte sich nach Selbstrespekt an.
Das will ich,
schrieb sie zurück. Sonntag. Lass uns am Sonntag irgendetwas Schönes unternehmen
. Ihr Herz machte einen Satz, der ihre Aufregung verriet. Viel Spaß bei dem Film! x