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Daniel
Als Daniel am Montagabend von der Arbeit nach Hause kam, zögerte er an der Tür, bevor er den Schlüssel ins Schloss steckte. Lorenzo war zu Hause. Daniel wollte ihn nicht sehen.
Als er die Tür öffnete, waberten Gerüche von Knoblauch und Lachs durch die Diele. Daniels erster Gedanke war, dass er, wenn Lorenzo in ihrem gemeinsamen Wohnzimmer ein Date – ein Date ohne Vorwarnung, wohlgemerkt – empfing, prompt wieder hinausgehen und vermutlich zu seiner Mutter fahren würde. Seine zweite Reaktion war: Wie kann er es wagen, die Wohnung so für sich zu beanspruchen? Theoretisch war es Daniel egal, wen Lorenzo zu Besuch hatte, aber es war schon eine verdammt schwache Leistung, zwei Tage nachdem er eine Frau so erbärmlich behandelt hatte, dass sie beide deswegen mit den Fäusten aufeinander losgegangen waren, eine andere nach Hause einzuladen.
In so vieler Hinsicht hatte Daniel kein Recht, sich in die Geschichte zwischen ihm und Becky einzumischen, aber … er wusste einfach, dass es nicht richtig war. Er wusste, dass Lorenzo Becky mit in sein Zimmer genommen hätte, wenn Daniel ihn nicht davon abgehalten hätte, und das war einfach falsch. Daniel hatte Becky davor bewahrt, etwas zu tun, woran sie sich vermutlich gar nicht erinnern würde, aber er hatte auch Lorenzo davor bewahrt, etwas zu tun, was er nie mehr ungeschehen machen könnte, egal wie verschwommen die Grenze war. Daniels Gewissen sagte ihm, dass es hier keine Grauzone gab, auch wenn Lorenzo das steif und fest behaupten würde.
Lorenzo war den ganzen Sonntag unterwegs und erst nach Hause gekommen, nachdem Daniel sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte. Aber in den achtundvierzig Stunden, seit diese Sache passiert war, war Daniel zu der Überzeugung gelangt, dass es absolut richtig war, so für Becky einzutreten, egal, ob sie es wusste oder nicht. Egal, ob Lorenzo es wusste oder nicht.
»Hallo?«, brüllte Lorenzo, als Daniel an der Küchentür auftauchte. »Oh, hey, Mann. Ich, ähm … mache Pasta al salmone.«
Daniel nickte, suchte nach Hinweisen, wer sonst noch da war.
»Ich habe auch eine Flasche Malbec besorgt.«
Daniel rümpfte die Nase. Für ihn? War das hier für ihn?
»Ich mache sie auf«, sagte Lorenzo.
Daniel zog seine Jacke aus und warf sie über die Sofalehne. Er hörte das Knallen eines Korkens, der aus einem Flaschenhals gezogen wurde, und das Glucksen von Flüssigkeit, die in ein Glas geschenkt wurde. Lorenzo tauchte mit zwei Gläsern wieder auf und reichte ihm eines davon. Daniel nahm es entgegen.
»Ich hätte gedacht, du würdest verkatert sein«, meinte Daniel. »Noch.«
»Ich glaube, du hast meinen Kater aus mir rausgeprügelt«, erwiderte Lorenzo. Falls es ein Witz war, lachte keiner von ihnen.
Die beiden nippten an ihrem Wein. Schließlich ging Daniel zum Tisch und setzte sich. Er war sich nicht sicher, was es eigentlich zu reden gab. Im Grunde gab es nichts, was er wirklich sagen wollte.
»Ich weiß, der Abend neulich war dumm«, sagte Lorenzo, während er verlegen neben dem Tisch verharrte. »Das … das weiß ich. Ich war ein Idiot.« Daniel hörte zu. Er war ein Idiot, ja. Es war gut, dass er das verstand. »Und ich habe Becky geschrieben, und sie ist natürlich …«
Er ließ den Satz unvollendet. Daniel hatte fast Mitleid mit ihm. Fast.
»Sie hat mir gesagt, ich soll ihr nicht wieder schreiben. Was, ähm, du weißt.« Und dann bebte seine Unterlippe, und er brach in Tränen aus. Ein erwachsener Mann in den Dreißigern mit einem blauen Fleck im Gesicht und einem Glas Rotwein in der Hand stieß ein leises, kehliges Geräusch aus, wie ein Tier in einer Falle. »Oh Mann, ich weiß nicht, was passiert ist«, sagte er. Er wischte sich die Augen und versuchte, sich zusammenzureißen. »Wir hatten schon mal Sex, und ich dachte, sie hätte Lust dazu. Aber sie hat gesagt …«
Er brach ab.
Daniels Entschlossenheit, wütend zu bleiben, wankte – aber nur ein klein wenig.
»Ehrlich gesagt fehlen mir ein bisschen die Worte, Mann.« Daniel nahm einen Schluck von seinem Wein, wählte seine Worte mit Bedacht. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so bist. So … pervers.«
Lorenzo nickte mit zerknirschter Miene. »Wirst du die Polizei verständigen?«
»Die Polizei?«
»Um mich anzuzeigen.« Daniel dachte, er meinte die Schlägerei, was er natürlich nicht tun würde, da ihn selbst dabei ebenso viel Schuld traf. Aber dann fuhr Lorenzo fort: »Um anzuzeigen, was ich Becky angetan habe.«
Daniel machte den Mund auf und wieder zu, und dann entschied er sich zu sagen: »Nein. Natürlich nicht. Streng genommen ist ja nichts passiert, Mann. Aber was, wenn ich nicht da gewesen wäre? Du weißt schon. Das ist es, was …« Jetzt war es Daniel, dem es schwerfiel, einen zusammenhängenden Gedanken zu Ende zu führen. Er wünschte, er wäre am Samstagabend überhaupt nicht ausgegangen. Er wünschte, er wäre zu Hause geblieben, wie er es ursprünglich vorhatte. Er wollte Lorenzo nicht die Grundregeln der Einwilligung erklären müssen.
Lorenzo nickte. »Ich weiß. Ich fühle mich schlecht deswegen. Denn wenn du nicht … Ich meine, ich habe nicht gedacht, dass ich irgendetwas Falsches tue. Aber Becky sagt, ich hätte es besser wissen müssen. Ihre Nachricht war ziemlich brutal. Sie hat sich nicht zurückgehalten. Und sie hat recht. Und es ist mir wirklich verdammt peinlich.«
»Ich will ja nicht wie dein Dad oder so klingen, aber ich muss sagen, ich bin schwer enttäuscht von dir.«
»Ich weiß.«
Lorenzo setzte sich in den Sessel am anderen Ende des Zimmers. Daniel trank. Lorenzo starrte auf den Boden.
»So schwer ist das doch nicht, oder? Sie muss nicht Nein sagen, damit es kein Ja ist.«
»Ich weiß«, sagte Lorenzo kopfschüttelnd. »Jetzt weiß ich das.«
Daniel wusste nicht, wie er das Gespräch beenden sollte. Er war einfach so sauer, dass sein Mitbewohner so dumm sein konnte.
Ah, das ist interessant , dachte er bei sich. Du hast ihn Mitbewohner und nicht Freund genannt .
Und einfach so hatte Daniel emotionalen Abstand zwischen sich und Lorenzo gebracht.
»Ich richte den Tisch«, sagte Daniel schließlich. »Danke fürs Kochen.«