35
Nadia
Wochen verstrichen. Nadia sah Eddie ein paarmal unter der Woche und verbrachte die meisten Wochenenden mit ihm. Er hatte sowohl Gaby als auch Emma nur ein einziges Mal getroffen, da die beiden offenbar immer schwerer zu erreichen waren, aber sie hatten ihn gemocht und aufmunternde Dinge gesagt, und ja, Gaby hatte ihr danach eine Nachricht geschickt, um zu sagen: Er ist wundervoll, aber bevor du dich zu tief einlässt, denke ich wirklich, du solltest den Sky-Garden-Typen kennenlernen! Ehrlich!!!!!
Nadia hatte ein GIF von einer der Real Housewives of Atlanta zurückgeschickt, die den Kopf schüttelte und »Neeeiiin, danke!« sagte, und keine von ihnen hatte das Thema wieder angesprochen. Nadia wollte einfach, dass Gaby verstand, dass es ihr mit dieser Sache gut ging. Sie hatte selbst gesagt, dass Eddie ein guter Typ war. Was sollte sie denn tun? Bis in alle Ewigkeit glauben, dass gut nicht gut genug war und dass sie nach irgendetwas Wundervollem oder Weltbewegendem streben musste? Nein. Nadia war glücklich mit Eddie, der alles war, was ein Freund sein sollte. Irgendwie. Vermutlich. Okay, sie erzwang es ein klein wenig, aber was hatte sie denn für eine Wahl? Dieser Mann stand total auf sie, und sie wäre verrückt, nicht auch auf ihn zu stehen. Und sie genoss seine Gesellschaft. Ihr Herz würde ihren Verstand schon noch einholen.
Aber sie wollte ihre Freundinnen öfter sehen. Sie fragte sich, ob es ihre Schuld war, dass es ein paar Wochen her war, seit sie sich zuletzt zu einem Brunch oder Lunch oder zu Drinks getroffen hatten. Hatte sie sich so tief in die erste Zeit der Leidenschaft, der Romantik ziehen lassen und ihre Freundschaften vernachlässigt?
Sie hatte angefangen, ein bisschen später zur Arbeit zu fahren, und es vorgezogen, fünf Minuten länger mit Eddies geschmeidigem Körper an den ihren gekuschelt unter der Bettdecke zu verbringen, während sich die leuchtend grünen Blätter an den Bäumen vor ihrem Fenster an den Rändern gold verfärbten. Der September hielt Einzug. Später ins Büro zu kommen hieß oft, dass sie über Mittag durcharbeiten musste, um die Zeit nachzuholen, sodass sie nicht mit Gaby auf einen Burrito zum Markt gehen konnte. Nicht allein zu Hause zu sein hieß, dass sie nicht mit ihrem Handy in der Hand vor dem Fernseher sitzen und sich mit Emma schreiben konnte, wie ihre Tage gelaufen waren, was sie im Fernsehen sahen oder was für Dates sie kürzlich gehabt oder demnächst geplant hatten.
Nadia entschied, einen Ausgeh-Abend mit Freundinnen einzuplanen – sie wollte nicht diese Art Frau sein. Die Art, die sich wegen eines Mannes ihr ganzes Leben entgleiten ließ. Sie hatte nicht das Gefühl, gefangen zu sein oder ihr Leben einengen zu müssen, um Platz für Eddie zu schaffen. Mit ihm war es eher so, dass sie Spaß hatte, und sie genoss die gemeinsame Zeit. Sie liebte es, eine Hälfte eines Zweiergespanns zu sein. Endlich war sie mit einem Mann zusammen, der fürsorglich, großzügig und vernünftig war und der wusste, was er wollte. Es wäre seltsam, wenn sie ihn nicht oft sehen wollte, oder? Außerdem mochte sie, wer sie selbst war, wenn sie mit ihm zusammen war: Sie lachte viel und sagte geistreiche, witzige Dinge.
»Schatz«, sagte sie eines Abends in seiner Wohnung, unten in Peckham. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich den Kinoabend am Donnerstag sausen lasse?«
In weniger als einem Monat hatten sie eine Routine entwickelt, die so aussah, dass sie am Donnerstag zur Acht-Uhr-Vorstellung ins Rio in Dalston gingen, egal, welcher Film gezeigt wurde, und danach zu Fuß zu ihrer Wohnung spazierten. Sie hatten einen stillschweigenden Pakt geschlossen, dass es keine Rolle spielte, welcher Film lief – sie würden einfach hingehen. Nadia besorgte die Karten, und Eddie bezahlte das Popcorn und schüttete fröhlich noch eine Tüte Maltesers-Schokokugeln dazu – für einen garantierten Schokokick.
Eddie steckte den Kopf aus der Küche, wo er das Abendessen kochte. »Ob es mir etwas ausmacht?«, fragte er ungläubig. »Warum sollte es mir etwas ausmachen?«
Nadia lächelte. »Ich nehme an, ich dachte, du würdest mich vielleicht zu sehr vermissen«, sagte sie.
Eddie warf sich das Geschirrtuch über die Schulter, trat auf sie zu und beugte sich über das Sofa, um ihr einen Kuss zu geben.
»Na ja, natürlich werde ich dich vermissen«, sagte er. »Aber ich nehme an, du wirst dich mit deinen Freundinnen treffen, oder?«
»Genau«, antwortete Nadia. »Ich will sehen, ob Emma Zeit hat.«
»Perfekt«, meinte Eddie. »Dann werde ich vielleicht mit den Jungs ausgehen.«
Nadia schnappte sich ihr Handy und schrieb Emma eine Nachricht:
Nadia: HALLO! Hast du diese Woche Zeit zum Dinner?
Emma schrieb prompt zurück. Das war eines der Dinge, die Nadia mit am meisten an ihr mochte und nun so frustrierend fand. Denn in letzter Zeit hatte Emma immer erst nach achtundvierzig Stunden geantwortet.
Emma: An wann hast du gedacht?
Nadia: Donnerstag?
Emma: Ah, ich bin von Dienstag bis Freitag nicht in der Stadt.
Nadia: Beruflich?
Emma: Ja! Also … Freitag? Samstag?
Nadia: Ja! Am Samstagabend muss ich zu Marys Geburtstag, aber ansonsten gern.
Emma: Ist vorgemerkt. Wie läuft’s mit dem Rotschopf?
Nadia: Nenn ihn nicht so! Außerdem, würdest du mich hassen, wenn ich sage, wie schön es ist, mit jemandem so oft etwas zu unternehmen?
Emma: Warum sollte ich dich dafür hassen? Es ist nett, jemanden für gemeinsame Unternehmungen zu haben! … Ich meine, du magst ihn doch auch, oder?
Eddie rief aus der Küche: »Fünf-Minuten-Warnung, Schatz! Fisch Wellington mit Sauce hollandaise ist gleich fertig!«
»Ich decke den Tisch!«, rief Nadia zurück.
Nadia: Natürlich mag ich ihn! Er tischt in diesem Moment, während ich schreibe, selbst gekochten Fisch Wellington auf.
Emma: Okay, na dann, lasst es euch schmecken, und ich gebe dir diese Woche Bescheid, was das Wochenende angeht, okay?
Nadia: Okay!!
Am nächsten Tag in der Arbeit achtete Nadia darauf, sich auch wieder bei Gaby zu melden, um sie nach einem Treffen zu fragen.
Nadia: Kaffee in der Lobby in fünf Minuten?
Gaby: Oh, Süße! Ich bin diese Woche in meinem Jahresurlaub!
Nadia: Was??!!!!
Gaby: Ich hatte noch Urlaub aufzubrauchen, bevor das nächste große Projekt anfängt und ich ohne Erlaubnis nicht einmal atmen darf. Ich bin zu Hause!
Nadia: Verdammt. Ich brauche eine Vorwarnung bei diesen Dingen!
Gaby: Lol.
Nadia: Bist du für Drinks da? Dinner?
Gaby: An manchen Tagen ja! Am Wochenende bin ich da.
Nadia: Oh. Okay, cool. Ja, das Wochenende passt! Bleibst du die ganze Woche zu Hause?
Gaby: Ich werde für ein paar Tage rausfahren, ein bisschen an die frische Luft, vielleicht ans Meer. Wollen wir ins Bellanger zum Brunch? Sonntag?
Nadia: Gern. Ich werde einen Tisch reservieren, damit wir draußen sitzen können, falls es dann noch warm ist. Ich liebe diesen Sommer, der kein Ende nimmt.
Gaby: Perfekt! Danke!
Nadia: Genieß deine Auszeit. Ich werde dich vermissen!
Gaby: ☺ ☺ ☺
Am nächsten Morgen fühlte sich Nadia niedergeschlagen. Es war wirklich schön, mit jemandem zusammen zu sein, aber sie wollte etwas trinken gehen und Lippenstift auftragen und mit ihrer Clique Spaß haben. Sie vermisste es, sich auf einen Drink zu treffen, aus dem zwei Flaschen wurden, ihr fehlten die verkaterten Brunchvormittage und die Emmas Kolumne dienenden Restaurantbesuche. Trotzdem, immerhin hatte sie jemanden, mit dem sie ihre Zeit verbringen konnte. Eddie erschien pünktlich, rief wie versprochen an, und sie hatten guten Sex.
Sie verbrachten die Sonntage zusammen, gingen auf den Markt und kauften Zutaten, mit denen Eddie umzugehen wusste: Er verwöhnte sie mit pochiertem Kabeljau in Pistazien-Parmesan-Kruste und mit selbst gemachtem Sahneeis. Oft kochte er doppelte Portionen, damit sie den Rest in einer Tupperdose einfrieren und unter der Woche essen konnte.
Sie hatte einen befriedigten Sextrieb, einen Kühlschrank voller Essen und Gesellschaft in der Zeit, in der die Abende länger wurden.
Sie konnte sich glücklich schätzen.
Sie liebte die Liebe, und was sie hatte, würde sicher dorthin führen. Es wäre gierig, sich mehr zu wünschen, als sie hatte. Und doch …
Das Labor war an diesem Morgen leer, und da sie allein war, ging sie auf Twitter und tippte in die Suchzeile: #Unserestation.
Sie tat es nicht oft, aber hin und wieder rief sie sich gern in Erinnerung, dass diese ganze Briefe-in-der-Zeitung-Geschichte tatsächlich passiert war und dass andere Leute sie beide nicht nur gesehen hatten, sondern so gerührt von ihnen waren, dass sie einen speziellen Hashtag verwendet hatten, um über sie zu reden. Niemand hatte etwas geschrieben, seit sie das letzte Mal nachgesehen hatte. Es war @Your_London_Gal, die geschrieben hatte: Ich kann nicht glauben, dass der #Unserestation-Typ nicht aufgetaucht ist, um sie um Verzeihung zu bitten! Ich an ihrer Stelle würde ihm nicht zurückschreiben. Ausgeschlossen. Dabei habe ich mir wirklich ein Happy End für die beiden gewünscht!
Als sie diese Zeilen zum ersten Mal gelesen hatte, war Nadia dankbar für die Unterstützung. Sie fühlte sich in ihrer Entscheidung bestätigt. Aber als sie es jetzt wieder las, verspürte sie einen Anflug von Reue.
Nein , dachte sie. Das hat er nicht verdient. Sie zwang sich, sich auf den Mann zu konzentrieren, den sie hatte, und schalt sich dafür, dass sie kurz schwach geworden war und nach dem Hashtag gesucht hatte. Zweifel waren die Art des Egos, uns kleinzuhalten, sagte sie sich. Sie zwang sich zu glauben, dass sie Eddie gestatten durfte, sie glücklich zu machen.
Heute Abend zu dir oder zu mir? , schrieb sie ihm, in dem Wissen, dass ihr Terminkalender in dieser Woche völlig frei war, und froh, dass Eddie sie von der Arbeit abholen und zu einem Abenteuer entführen würde. Sie dachte nie an den U-Bahn-Typen, wenn sie zusammen waren – nicht mehr. Nur wenn Eddie außer Sicht war, schlich sich der U-Bahn-Typ mitunter in ihre Gedanken.
Zu dir, schrieb Eddie zurück. Soll ich dich nach der Arbeit abholen?
Sie schickte drei Liebesherzen zurück und rief dann die Notizen-App in ihrem Handy auf. Sie sah sich an, was sie vor einer Woche entworfen hatte:
U-Bahn-Typ: Okay, ich verzeihe dir, jetzt, wo ich dich dazu gebracht habe, darüber nachzudenken, wie du mich zum Narren gehalten hast, indem du mich in einer Bar hast warten lassen, die du offenbar bereits verlassen hattest. Betrachte mich als wütend und sehr versöhnlich. Ich werde dir gestatten, es wiedergutzumachen, auf welche Art auch immer du es für angebracht hältst. Die Frau mit den Kaffeeflecken x
Sie wägte zum x-ten Mal das Für und Wider davon ab, es abzuschicken.
Für: Sie könnte den U-Bahn-Typen tatsächlich treffen.
Wider: Es wäre ein entsetzlicher Verrat an Eddie, der immer wundervoll zu ihr war.
Für: Wenn der U-Bahn-Typ nicht antwortete, würde das für sie endgültig einen Schlussstrich unter diese ganze Geschichte ziehen und sie könnte sich richtig auf Eddie einlassen und den U-Bahn-Typen ein für alle Mal vergessen.
Wider: Wenn sie es abschickte und er antwortete, würde sie in Zugzwang kommen, und da sich ihre Freundinnen in letzter Zeit so rarmachten, würde sie nicht garantieren können, dass sie die richtige Entscheidung traf, da sie niemanden hatte, mit dem sie das alles ausloten könnte.
Sie stieß einen langen, leisen Seufzer aus.
Sie schickte die Nachricht nicht ab.