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Daniel
Daniel stand in der Warteschlange, die sich um das Feld erstreckte, zum ersten Mal in dieser Saison in seine Winterjacke gepackt. Die ersten Novembertage bedeuteten, dass der Winter offiziell vor der Tür stand. Daniel blies in seine Hände, rieb sie aneinander, um sie zu wärmen, und zog sich seinen marineblauen Cashmereschal ein bisschen höher um den Hals.
»Verdammt«, sagte er. »Ich schätze, vor uns sind bestimmt dreihundert Leute.«
Jeremy verdrehte die Augen und schlug ihm verspielt auf die Schulter. »Oh Mann, bleib entspannt, wir werden noch früh genug drin sein. Trink deinen Saft aus.«
Daniel schüttelte seine leere Dose, zum Zeichen, dass er es bereits getan hatte.
Ihre Gruppe – Daniel, Jeremy und Sabrina, außerdem Sam und Rashida – stand für ein interaktives Kino-Event mit einem Romeo-und-Julia
-Thema auf einem überdachten Parkplatz nahe White City an. Unter ihren Jacken, die sie drinnen in Schließfächern verstauen würden, war jeder entsprechend der ihm zugewiesenen Figur kostümiert. Sie würden vier Stunden lang durch einen Set schlendern, der genauso gestaltet war wie in dem Film, und mit Schauspielern interagieren, die sich unter die Gäste mischten, Szenen aus dem Film nachspielten und allen das Gefühl gaben, ebenfalls ein Teil der Fantasiewelt zu sein.
Schließlich würden sie es sich gemütlich machen, um den Film anzusehen, umgeben von Tausenden Teelichtern, zusammengekuschelt unter Decken. Daniel war letztes Jahr bei dem interaktiven Blade-Runner
-Event gewesen, das von demselben Unternehmen veranstaltet wurde, und es hatte ihn völlig umgehauen. Er war völlig aus dem Häuschen, wieder hier zu sein. Er hatte hohe Erwartungen an den Abend – trotz der langen Schlange vor dem Einlass.
»Hier«, sagte Jeremys Partnerin, Sabrina. »Nimm noch einen Gin in a Tin.« Sie reichte ihm eine M&S-Dose, die er dankbar entgegennahm.
»Gin in a Tin«, sagte Daniel. »Wer hätte das gedacht!«
»Wir!«, riefen Rashida und Sabrina im Chor und stießen lachend mit ihren Dosen an. Es war schön, wie gut sie sich verstanden und ebenso angeregt miteinander plauderten wie mit den Männern in ihrer Gruppe. Die Frauen und Freundinnen der Unikumpel waren unabhängig von ihren Männern Freundinnen geworden.
»Säuferinnen«, ermahnte Sam sie lächelnd.
Daniel hatte sich in letzter Zeit in sein Schicksal gefügt – meistens hing er entweder nach der Arbeit mit Romeo oder, wenn er konnte, den Pärchen von der Uni ab. Er sah Lorenzo nicht oft, abgesehen von einem gelegentlichen fünfminütigen Toastfrühstück vor der Arbeit, bei dem sich beide angestrengt bemühten, das Gespräch leicht zu halten. Er war hauptsächlich der ständige Anstandswauwau, das ewige fünfte Rad am Wagen. Jede Frau, die er kannte (sogar seine Mutter!), hatte angeboten, ihn mit jemandem bekannt zu machen, aber Daniel hatte, nach nur drei Tagen bei den Guardian
-Seelenverwandten, entschieden, sich eine Dating-Pause zu gönnen. Dort war er mit Frauen konfrontiert worden, die die Körpergröße ihres Wunschpartners in ihren Bios angaben oder eine Liste von Persönlichkeitserfordernissen hatten, die so lang war, dass Daniel die Augen verdrehte, wenn er auch nur versuchte, sie alle durchzugehen.
Muss eigenes Haus, eigenen Wagen, eigenen Freundeskreis haben und mit einer selbstbewussten Frau umgehen können, die ihren Platz in der Welt kennt
, schrieb eine von ihnen. Ich will Kinder haben und keinen Mann daten, der selbst noch ein Kind ist!!!!
, schrieb eine andere. Er hatte in Michelle Obamas Autobiografie geblättert und die Passagen gelesen, in denen sie schilderte, wie sie Barack kennengelernt hatte. Er war ein vollständig ausgeformter Charakter, er wusste genau, wer er war, als er an sie herantrat. Irgendwie verstand Daniel, was diese Frauen meinten: Sie alle wollten auch ihren Barack. Einen Mann, der keine Frau suchte, die ihn bemutterte, nahm Daniel an, der sich von einer Frau mit eigenem Geld und einem eigenen Leben nicht entmännlicht fühlen würde. Das verstand er. Daniel schätzte eine starke Frau – seine Mutter war eine –, und er wusste, wie viel in einer Welt, die noch immer von Männern geprägt war, erforderlich war, um Großes zu erreichen und sich Gehör zu verschaffen … Aber in einer Beziehung wollte er eine Partnerin, eine Frau, mit der er etwas aufbauen konnte, keine, die ihr eigenes Ding bereits aufgebaut hatte und enttäuscht war, dass er es noch nicht getan hatte. Nach dem, was er über eine Liebe im Stil von Barack und Michelle wusste, bedeutete sie etwas Zartes und Sanftes hinter geschlossenen Türen.
Aber keine dieser Bios sagte ausdrücklich, dass Beziehungen im Privaten aus alltäglichen Gesten von Freundlichkeit und Respekt bestanden, und bis Daniel eine Frau traf, die sich nach absoluter Erfüllung anfühlte, die wusste, dass es kein Angriff gegen ihren Feminismus war, eine Tasse Tee für sie beide zu machen, die so für ihn eintreten würde, wie er für sie einzutreten versprach – na ja, so lange war es ihm recht, ein Teil der Beziehungen seiner Freunde zu sein. Er war im Begriff, seinen sechsmonatigen Vertrag bei Converge zu beenden, musste nur noch die letzten Details festzurren, und er würde, mit dem Geld aus der Lebensversicherung seines Dads, bald eine Dreizimmerwohnung in Stamford Hill anzahlen können, die er gefunden hatte. Seine Mutter hatte darauf bestanden, dass er das Geld annahm. Sie brauchte es nicht, sagte sie. Vielleicht würde er sich im neuen Jahr wieder zu Dates verabreden. Vermutlich würde er es tun. Er wusste, dass er sich der Liebe zeigen musste, wenn die Liebe ihn finden sollte. Aber im Augenblick war er erschöpft. Nach der Sache mit seinem Dad und dem Durcheinander mit Nadia und der Zeitung brauchte er Zeit, um sich zu sammeln.
»Fast geschafft!«, sagte Rashida, als sie sich nach einer knappen Dreiviertelstunde langsam dem Eingang näherten.
»Sind wir bereit?«, fragte Sam, und die beiden Paare und Daniel versammelten sich an der letzten Tür zu dem Ort, an dem sie ihren Abend verbringen würden.
»Wir sind bereit«, antwortete Daniel, der das Schlusslicht bildete.
Sie drängten durch die Tür in den überdachten Bereich des Parkplatzes, der so riesig war, dass es ihnen allen den Atem verschlug.
»Hier entlang, meine lieben Freunde, aber Eile mit Weile«, begrüßte sie eine Frau mit einer schwarzen Perücke und einem Quasten-BH. »Lernen Sie zunächst meinen Onkel kennen, der Ihnen alles erklären wird.«
Daniel war restlos begeistert. Bei dem Blade-Runner-
Event hatten es die Veranstalter von der Decke eines Flughafen-Hangars regnen lassen, und vor der Filmvorführung hingen alle Figuren kopfüber von der Decke und spielten eine Kampfszene nach. Solches Zeug war der Grund, weshalb er London liebte. Groß angelegte, massive, lächerlich eindrucksvolle Events an einem x-beliebigen Abend unter der Woche. Und ja, es kostete hundert Pfund pro Ticket, aber gottverdammt, es gab dort ein Riesenrad – ein Riesenrad! Drinnen! – und eine alte Bühne, die genauso gestaltet war wie die in dem Film.
Jetzt, wo alle ihre Jacken ausgezogen hatten, war leichter zu erkennen, wer wer war: die Montagues, in Blau gekleidet, wurden alle auf die andere Seite des Geländes geschickt, und Daniel und seine Freunde trugen, als Capulets, schwarz und rot geblümte Kleidung. Daniel selbst trug eine schwarze Lederweste mit nichts darunter und schwarze Jeans.
»Ich glaub’s nicht«, sagte Jeremy. »Alles klar, Iron Man?«
Daniel sah an sich herunter.
»Kein Wunder, dass dir kalt war!«, sagte Sabrina. »Du bist ja halb nackt!«
Sam zog die Augenbrauen hoch. »Ehrlich gesagt, wenn ich solche Muckis hätte, würde ich sie auch zur Schau tragen!«, sagte er. »Du hast ganz schön trainiert, Bruder!«
Daniel spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg. Zugegeben, es war ein etwas extrovertiertes Outfit, aber es war ihm unangenehm, dass seine ganzen Freunde ihn anstarrten.
»Na ja«, meinte er schüchtern, »ich war ein paarmal im Fitnessstudio.« Rashida legte beschützerisch einen Arm um ihn und sagte: »Du siehst toll aus, Süßer. Komm mit.«
Sie wurden in einen anderen Raum geführt, wo jeder seine mitgebrachte Maske aufsetzen musste, bevor sie eine originalgetreue Nachbildung des Maskenballs aus dem Film betreten durften – bis hin zu dem Aquarium, wo Leonardo DiCaprio Claire Danes zum ersten Mal begegnet und sie sich zwischen dreißig Zentimetern Salzwasser und mehreren schlanken gelben Fischen hindurch beäugen. Daniel verweilte bei dem Aquarium, während er sich fragte, wie es wohl wäre, die Liebe seines Lebens durch das Wasser auf der anderen Seite zu sehen. Er glaubte, dass die Liebe kommen würde. Eines Tages. Irgendwann.
Daniel und seine Freunde schlenderten ein paar Stunden über das Gelände. Sie sahen bei einem Rap-Battle zwischen den verfeindeten Häusern und einer choreografierten Schlägerei zu, die in der Nähe der Bühne ausbrach, wo später ein Gospelchor im Halbkreis stehen und »Everybody’s Free« singen und nicht einmal Jeremy sich einen Witz erlauben würde, sondern alle nur ehrfürchtig und beeindruckt dastehen würden.
»Wollen wir uns vielleicht einen Platz für den Film suchen?«, schlug einer von ihnen schließlich vor, und alle waren sich einig, dass sie besser gehen und sich überlegen sollten, wo sie sitzen wollten, da die Vorführung bald beginnen würde.
»Okay, macht es euch hier gemütlich«, sagte Daniel, nachdem sie ihren Platz ausgewählt hatten, »und ich gehe und hole Snacks. Was will jeder?«
»Seht euch diese feinen Pinkel dort drüben an«, sagte Jeremy, der gar nicht registriert hatte, dass Daniel etwas gesagt hatte. Stattdessen wies er mit einem Nicken zum VIP-Bereich. »Diese Schnösel mit ihren Bohnensäcken und Decken.«
Daniel wandte sich in die Richtung um, in die Jeremy sah, und nahm die Atmosphäre in sich auf: Es machte ihm nichts aus, dass er kein VIP drüben in dem abgesperrten Bereich war. Er wusste, dass diese Tickets fast das Doppelte dessen kosteten, was er bezahlt hatte. Es gab genug Platz für alle, und ein Gefühl von Kameradschaft lag in der Luft.
Einen Moment lang beobachtete er ein Paar, offensichtlich bei einem Date. Die beiden knutschten auf ihrer Decke und zogen dabei ihre Schuhe aus. Der Typ kam Daniel seltsam bekannt vor. Er war groß, mit einem breiten Lächeln und leuchtend roten Haaren. Daniel beobachtete, wie der Mann seiner Begleiterin ein riesiges Paar Wollsocken reichte, und das Mädchen legte den Kopf in den Nacken und lachte. Der Mann flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr und legte ihr dabei einen Arm um die Schulter, und diese Geste erinnerte Daniel prompt an den Morgen, nachdem er Nadia hätte treffen sollen, als sie mit ihrem Freund in der U-Bahn war. Der Typ hatte die gleiche Entspanntheit, die gleiche Unbefangenheit mit Intimität und körperlicher Berührung. Und dann fiel bei ihm der Groschen: Er war
es! Das war der Freund! Das Bild von ihm, wie er ihre Wochenendpläne an Nadias Nacken herunterrasselte, während seine Hand auf ihrem Bein lag, hatte sich in Daniels Kopf eingebrannt. Er war sich sicher, dass es derselbe Typ war. Hundertprozentig. Die beiden bauten ihre Snacks und Getränke links und rechts von sich auf, und dann kuschelten sie sich unter einer zweiten Decke aneinander, in ihren Socken, und plauderten, als wäre niemand sonst in der Nähe.
»Das sind vielleicht zwei Turteltauben da drüben, was?«, meinte Sabrina.
Daniel kam zu sich. »Hä? Oh. Ja. Ehrlich gesagt glaube ich, den Typen kenne ich.«
»Willst du Hallo sagen?«, fragte Sabrina.
Daniel schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, so gut kenne ich ihn nicht«, antwortete er. Ehrlich gesagt kannte Daniel ihn überhaupt nicht. Aber. Wenn er recht hatte – und er war sich ziemlich sicher, dass er recht hatte –, wenn das Nadias Freund war, dann war er eindeutig nicht mit Nadia hier. Hieß das, dass sie sich getrennt hatten? Daniel war sich nicht sicher, ob das eine Rolle spielte. Das Einzige, was er sich – und Romeo – versprochen hatte, war, dass er Nadia, wenn er sie sehen sollte, ansprechen würde. Aber er hatte sie nicht gesehen. Sie war nicht in seinem Zug oder auf dem Bahnsteig gewesen, hatte sich nicht durch das Gewühl anderer Pendler gekämpft. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Tatsächlich hatte er seit ein paar Wochen nicht mehr an sie gedacht. Er hatte sogar aufgehört, die Zeitung zu lesen, weil er immer nur sofort zu der Missed-Connections
-Rubrik vorgeblättert hatte, halb hoffend, sie hätte ihm geschrieben. Das hatte sie natürlich nie getan, warum sollte sie? In seinem Kopf begannen sich die Gedanken zu drehen, genau wie früher: War es überhaupt sie gewesen, die ihm zurückgeschrieben hatte? Was hatte er sich bei diesem ganzen Unsinn überhaupt gedacht? Es war beschämend. Er musste nach der Sache mit seinem Dad ein bisschen wirr im Kopf gewesen sein, sich so an die seltsamsten Dinge zu klammern.
»Erde an Daniel?«, sagte Sam. »Hallo?«
Daniel wandte sich um und sah ihn an.
»Hä?«
»Die Snacks, Daniel. Zweimal Popcorn, vier Pulled-Pork-Burger und ein paar Bier.«
»Und etwas Süßes!«, ergänzte Rashida. »Falls sie Revels oder Buttons oder so haben.«
Jeremy stand von der Picknickdecke auf, wo er es sich gemütlich gemacht hatte. »Ich komme mit, Kumpel. Du kannst das alles ja gar nicht tragen.«
Während sie zu den Imbissständen gingen, warf Daniel über die Schulter einen Blick zurück. Ich bin sicher, das ist er
, dachte er.