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Nadia
Nadia spazierte Arm in Arm mit Naomi, einer ehemaligen Arbeitskollegin, über das Gelände. Naomi hatte die Welt der Naturwissenschaften inzwischen verlassen, um eine professionelle Instagrammerin mit fast 300000 Followern zu werden. Sie führte eine Vorzeigebeziehung mit Callum, der jetzt offiziell ihr »Instagram-Ehemann« war und sie für Uploads fotografierte, für die sie bis zu achttausend Pfund verlangen konnte. Nadia dachte an die 133 Follower auf ihrem eigenen Account und fragte sich, wie viel sie verlangen könnte. Dreißig Pence vielleicht? Aber sie durfte nicht allzu neidisch sein – schließlich waren es Naomis Follower, denen sie kostenlose Tickets zu einem Event wie dem heute Abend zu verdanken hatte. Nadia hätte das Geld dafür sowieso ausgegeben, aber es war so viel netter, als VIP eingeladen zu sein.
Rings um sie schlenderten Leute, die als Montagues oder Capulets verkleidet waren, umher, und die Schauspieler, die zwischen ihnen platziert waren, rezitierten Texte und führten Rap-Battles auf und trugen ganz allgemein zu der Atmosphäre bei. Es war wie ein interaktives Theater-Event, wo im nächsten Moment alles passieren konnte. Nadia war begeistert, dabei zu sein. Sie hatte sich zurückgezogen seit ihrer Trennung von Eddie, war zur Arbeit und zu ihren Fitnesskursen gegangen und hatte zu Hause auf dem Sofa viel gelesen. Sie war nicht allzu traurig wegen der Trennung, sie waren schließlich nur ein paar Wochen zusammen gewesen. Aber die Einsamkeit machte ihr zu schaffen.
Denn sie hatte nicht nur Eddie verloren. Nachdem sie Gaby und Emma zusammen gesehen hatte, hatte Nadia entschieden, abzuwarten, dass die beiden ihr die Neuigkeit mitteilten. Nur dass sie das bis jetzt nicht getan hatten. Nadia meldete sich nicht bei ihnen, und abgesehen von einer flüchtigen und distanzierten Nachricht von Emma einmal die Woche hörte sie eigentlich nichts von ihnen. Gaby schien es auch in der Arbeit immer eilig zu haben, daher hatte Nadia sich gezwungen, sich bei ihrer alten Arbeitsfreundin zu melden, die sie seit einer Weile nicht mehr gesehen hatte. Sie nahm an, dass Emma und Gaby zu ihrer eigenen Zeit damit herausrücken würden, was mit ihnen war, und Nadia würde einfach geduldig warten müssen. Auf dem Sofa. Zu Hause. Allein.
Naomi und Nadia tauschten sich über die Neuigkeiten in ihrem Leben aus, während sie gingen: Naomis Markendeals und ihr Unternehmen und die Schwierigkeiten dabei, mit ihrem Ehemann zusammenzuarbeiten.
»Er treibt mich in den Wahnsinn!«, sagte sie. »Wir sind jeden Tag fast den ganzen Tag zusammen. Aber dann nimmt er sich den Nachmittag frei, um ins Fitnessstudio zu gehen, oder fährt die Küste hinunter, um seinen Bruder zu besuchen, und ich vermisse ihn schrecklich.« Sie lachte über ihre Zwangslage. »Ich glaube, es ist nicht gesund, so viel Zeit zusammen zu verbringen, aber ich bin einfach so verrückt nach ihm wie eh und je!«
Nadia lächelte. Tatsächlich war sie neidisch darauf, mit welcher Leichtigkeit Naomi von ihrer Liebe zu Callum sprach. Aber es war mehr als das: Sie hatte Respekt. Einen richtig tiefen Respekt vor ihm und dem, was die beiden zusammen hatten.
»Bist du zurzeit mit jemandem zusammen?«, fragte Naomi, und gleich darauf ergänzte sie: »Ich weiß, das ist die schlimmste Frage der Welt.«
Nadia lächelte. »Das ist es, aber du darfst sie ruhig stellen. Und die Antwort ist Nein. Ich war mit jemandem zusammen, einem Typen … Wir haben uns in einer Bar kennengelernt, als ich, um genau zu sein, von einem anderen Date versetzt wurde, ich Ärmste.« Sie verdrehte pseudotheatralisch die Augen. »Und er war so toll. Aber …«
»Aber nicht der eine?«, vermutete Naomi.
»Aber nicht der eine«, bestätigte Nadia. Sie seufzte. »Meinst du, ich bin zu wählerisch?«
Naomi zeigte in die Richtung des VIP-Bereichs und sagte geistesabwesend: »Suchen wir uns dort drüben einen Platz.«
»Okay«, sagte Nadia.
»Ob ich glaube, dass du zu wählerisch bist …? Ach, ich weiß nicht. Das kannst nur du wissen. Ich weiß, dass viele Frauen, und vermutlich auch viele Männer, sich verlieben, selbst nachdem sie verheiratet sind, weißt du? Für manche Leute kommt es wie ein Blitz aus heiterem Himmel, wenn sie sich begegnen, und für andere ist es mehr Arbeit.«
Nadia nickte, während sie sich von einem Concierge Bohnensäcke und Decken und kleine Tüten mit Gratisproben aushändigen ließen.
»Ich glaube nicht, dass eines richtiger ist als das andere«, meinte Naomi. »Du musst einfach selbst sehen, was für dich klappt.«
Sie setzten sich, und Nadia spähte in die Geschenktüte: Darin waren etwas Kokoswasser und eine Handvoll Lindt-Schokoladenkugeln.
»Bist du für einen Burger zu haben?«, fragte sie.
Naomi lächelte. »Für einen Burger bin ich immer zu haben.«
Sie standen auf und sahen hinüber zu dem Imbissbereich, wo sich vor jedem Stand eine kleine Schlange gebildet hatte. »Da drüben, nehme ich an«, sagte Nadia. Und um die Diskussion über ihr Liebesleben abzuschließen, fügte sie hinzu: »Und ich verstehe, was du sagst. Ich denke, im Moment bin ich allein besser dran, bis ich es irgendwann nicht mehr sein werde. Mit mir selbst zufrieden, aber bereit für Romantik, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Oder irgendetwas anderes.«
»Oder irgendetwas anderes«, lächelte Naomi.
Sie schlenderten hinüber zu dem Burgerstand, bewunderten auf dem Weg die Kostüme der Leute und wurden fast in ein Wortgefecht in Shakespeare-Englisch gezogen, wo sich eine Gruppe um Romeos Mutter und Julias Amme versammelt hatte. Die Atmosphäre war aufgeladen, es war ein spektakuläres Event.
Die beiden Frauen stellten sich hinter zwei dunkelhaarigen Männern in die Schlange – einer trug ein Hawaiihemd und der andere eine schwarze Lederweste mit nichts darunter – und warteten darauf, ihr Essen zu bestellen. Naomi registrierte die Männer, bevor Nadia es tat, und wackelte mit den Augenbrauen, um anzudeuten, dass sie sie attraktiv fand. Eine Art Oh, là, là in ihre Richtung. Nadia kniff verwirrt das Gesicht zusammen, und dann, sobald sie verstand, was Naomi meinte, beugte sie sich vor, um die beiden besser begutachten zu können.
»Und die Sache ist die«, sagte der Typ in der Weste in diesem Augenblick, »es ist eher eine Art Kommentar zum performativen Gender, glaube ich, so wie es immer Mädchen gegen Jungen heißt, sogar. Das ist so heteronormativ! Das heißt, die Mädchen fangen an, sich stärker herauszuputzen, und die Typen fangen an, sich mehr aufzuplustern. Es einfach nur zu beobachten, ist faszinierend.«
Nadia reckte den Kopf noch ein bisschen weiter vor. Redete er von der Lustvilla? Und was noch wichtiger war, redete er von der Lustvilla mit einer hochgestochenen Gender-Analyse?
Sein Freund, der in dem Hemd, erwiderte: »Ich verstehe, was du meinst, ja. Na ja, okay. Du weißt schon. Ich will ja nicht schwul klingen oder so, aber man muss die Leute einfach so nehmen, wie sie sind, oder? Ich meine, ich bin wirklich nicht … natürlich nicht.« Der Typ hob die Hände, wie um zu beweisen, dass er nicht das Wort »schwul« in ihnen hielt. »Aber es wäre schon ziemlich cool, zuzusehen, wie zwei Männer sich auf Anhieb verstehen. Ich meine, wenn sie emotional sind und das alles.«
»Genau!«, sagte der Typ in der Weste. »Ich meine, manchmal fühle ich es irgendwie. Als Dad im Sommer gestorben ist und ich das Gefühl hatte, so tapfer sein zu müssen, um nicht, du weißt schon, wie eine Riesenschwuchtel oder schwach oder so dazustehen. Mir gefällt, dass es immer mehr akzeptiert wird, dass Typen Gefühle haben. Mein Mitbewohner ist ein Idiot, aber kürzlich habe ich mich mit diesem Typen von der Arbeit angefreundet, und er macht sich nicht immer über alles lustig wie Lorenzo. Er ist einfach … eine nettere Gesellschaft.«
»Ja, Mann, das ist hart«, erwiderte sein Freund. »Diese Sache mit Lorenzo. Ich habe ihn ja noch nie leiden können, und nach dem, was du mir erzählt hast …«
»Ja«, meinte der Typ in der Lederweste und reckte den Hals, um zu sehen, ob sich die Schlange überhaupt weiterbewegte.
Nadias Neugier war geweckt. Wer waren diese beiden Männer, die so wortgewandt und schön über ihre Gefühle redeten? Und über die beste Show im Fernsehen? Der Typ in der Weste drehte sich leicht, um seinen Freund an der Schulter zu berühren.
»Wie geht’s dir denn eigentlich?«, fragte er. »Das mit deinem Opa tut mir wirklich so leid. Ich weiß, wie nah ihr euch standet.« Der Typ im Hemd schien überrumpelt davon, und auf einmal hatte er Tränen in den Augen. Auch Naomi lauschte gebannt, hielt sich einen Finger an jedes Auge und glitt damit über ihr Gesicht, als wollte sie Nadia zu verstehen geben: Er weint . Nadia konnte sehen, wie sich seine ganzen Nackenhaare aufstellten. Der Gute.
»Seine Zeit war gekommen«, meinte der Typ. »Aber verdammt, ich vermisse ihn, weißt du?«
»Wenn du je reden willst …«, sagte der Typ mit der Weste, und Nadia dachte bei sich: Natürlich will er reden! Er bittet jetzt darum, zu reden! Tu es jetzt! Er wird dich nicht noch einmal bitten!
Die Schlange für die Pulled-Pork-Burger rückte vor ihnen langsam weiter. Nachdem der Typ mit der Weste abgeschätzt hatte, dass sie noch mindestens fünf Minuten anstehen würden, sagte er: »Was ist deine Lieblingserinnerung an ihn?«
Nadias Herz explodierte. Was für ein Mann. Wunderschöne Arme, imstande, über seine Gefühle zu reden, und auch schlau …
Ihr wurde bewusst, dass Naomi irgendwie nickte, als wollte sie sagen: Sprich ihn an! Aber Nadia konnte diesen zärtlichen Moment nicht unterbrechen. Der Typ hatte aufgehört zu weinen und sagte jetzt irgendetwas darüber, wie sein Opa oft richtig schlimm furzte, aber immer dem Hund die Schuld gab, selbst nachdem der Hund gestorben war. »Ich würde alles geben, um ihn jetzt hier zu haben. Er war ein echt anständiger Kerl!«
Die Schlange schob sich langsam vorwärts. Nadia zückte ihr Handy und tippte in eine leere Notiz: Ich bin in diese Männer vor uns verliebt!!!!! Oh mein Gott!!!
Sie reichte das Handy Naomi, die es las und zurücktippte: Mehr Männer von der Sorte, bitte! Schöne, offene Herzen. Ich bin ganz heiß darauf.
Nadia lachte schallend auf, während sie es las, sodass sich die Männer vor ihnen umwandten, und der Mann in der Weste stieß dabei mit dem Ellbogen gegen die Ecke ihres iPhones und riss es zu Boden. Ohne zu überlegen, bückte sich Nadia instinktiv, um es aufzuheben, aber in diesem Moment tat der Mann in der Weste dasselbe und murmelte in einem näselnden Londoner Tonfall: »Oh verdammt, es tut mir so leid. Ich bin so ein tollpatschiger Idiot!«
Und dort, wo sie beide kauerten, er mit ihrem Telefon und den beiden Essensgutscheinen in der Hand, die mit dem Telefon zu Boden geflattert waren, trafen sich ihre Blicke.
Nadia war wie vom Blitz getroffen. Dieser Schock. Jede Zelle ihres Körpers war elektrisiert.
»Hi«, sagte sie zu ihm.
»Hi«, erwiderte er lächelnd.