41
Nadia
Nadias Herz schlug doppelt so schnell wie sonst. Hatte er gelesen, was sie und Naomi getippt hatten? Sie nahm das Telefon entgegen.
»Danke«, sagte sie.
»Und das hier«, sagte er und reichte ihr die Essensgutscheine, die sie ebenfalls in der Hand gehalten hatte. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie sie ebenfalls hatte fallen lassen.
»Ah. Danke. Das ist mein Essensgutschein.« Was war denn bloß los mit ihr? Warum war sie auf einmal der langweiligste, einsilbigste Mensch auf dem Planeten? Sie musste irgendetwas Charmantes und Entwaffnendes sagen! Dieser Mann war wunderschön, mit dunklen Augen, die schelmisch funkelten. Er war genau ihr Typ, körperlich, aber es war mehr als das: Die Art, wie sie ihn, wenn auch nur eine Minute, reden gehört hatte, verriet ihr, dass er mitfühlend war. Ein guter Mann. Ein guter Mann mit guten Freunden und einem guten moralischen Kompass und … Oh Gott, er war so verdammt sexy. Diese Arme!
»VIP-Bonus?«, fragte er und zeigte auf die Tickets.
Nadia nickte. Würden sie wirklich in diesem Stil Small Talk machen? Sie musste das Gespräch in eine andere Richtung lenken, das Geplauder irgendwie für einen kleinen Flirt öffnen. Sie war erbärmlich schlecht darin, ihm die richtigen Signale zu senden. Und warum half Naomi ihr nicht, Herrgott noch mal? Sie stand einfach nur da und sah zu wie jemand, der völlig versunken in seinen Voyeurismus war.
»Na ja, das ist Naomis VIP-Bonus. Sie ist eine Instagrammerin.«
Der Mann mit der Weste lächelte sie an. »Nett«, sagte er.
Naomi war Nadias konventionell schönste Freundin. Emma und Gaby, ihre Freundinnen von zu Hause, alle Frauen, die Nadia kannte – sie alle waren auf ihre eigene Art schön. Aber der Grund, weshalb Naomis Instagram so abgehoben hatte, war, dass sie konventionell schön war, mit feinen, symmetrischen Gesichtszügen und geraden, weißen Zähnen und einer Haut, die nicht nur rein war, sondern strahlte. Dass der Typ mit der Weste den Blick nicht länger als einen Sekundenbruchteil auf Naomi ruhen ließ – tatsächlich hatte er sie kaum zur Kenntnis genommen! –, erschien Nadia ungewöhnlich, denn so selbstbewusst sie sich mit ihrem Aussehen, abgesehen von gelegentlichen Akneproblemen, im Allgemeinen auch fühlte, war sie in Naomis Nähe zufrieden, unsichtbar zu sein. Nur … für diesen Mann war sie es nicht. Dieser Mann schien ebenso gebannt von ihr zu sein wie sie von ihm. Es war, als würde ein unsichtbarer Baumwollfaden von seinem Handgelenk zu ihrem verlaufen, eine Verbindung, die knochentief ging. Die an ihnen zog.
Sie sahen sich noch immer an, und Nadia schalt sich im Stillen dafür, dass sie nicht imstande war, irgendetwas zu sagen, um ein richtiges Gespräch anzuknüpfen.
Der Mann vor ihr machte den Mund auf und holte tief Luft, schien im Begriff, sie beide aus ihrer Sprachlosigkeit zu befreien. Aber dann machte er den Mund wieder zu und brach nur in ein breites Grinsen aus, sodass Nadia ebenfalls grinste, und da standen sie und grinsten wie zwei Idioten.
Woher kenne ich ihn? , dachte Nadia. Sie fragte sich, ob das Gefühl, jemanden zu erkennen, einfach ein Teil des Gefühls noch nie da gewesener Anziehung war.
»Ich bin schon ganz aufgeregt wegen dieses Films«, sagte er schließlich, und darüber musste Nadia lachen. Diese Schlichtheit. Er wies mit dem Daumen zu der riesigen Leinwand am anderen Ende des Platzes. »Ich kann mich noch erinnern, wie ich ihn das erste Mal gesehen habe. Vor Leonardo DiCaprio habe ich nie verstanden, warum Shakespeare so gut war.«
»Ist Liebe ein zartes Ding?« , zitierte Nadia. »Sie ist zu rau, zu wild, zu tobend; und sie sticht wie Dorn.«
Der Mann nickte beeindruckt. Er verstand die Anspielung und antwortete selbst mit einem Zitat: »So grenzenlos ist meine Huld, die Liebe so tief ja wie das Meer.«
»Oh. Scheiße. An mehr kann ich mich nicht erinnern«, lachte Nadia. Das war’s. Sie hatten es geknackt. Das hier war der Einstieg, den sie verzweifelt gesucht hatte. Er lachte ebenfalls. Nadia konnte spüren, wie sich ihr Atem in ihrer Brust hob und senkte, und kaute nervös auf ihrer Unterlippe.
»Nadia?«
Es war eine Stimme, die Nadia erkannte. Sie wandte sich um.
»Eddie!«, sagte sie, schockiert, aber glücklich.
»Wie geht’s dir?« Eddie öffnete die Arme zu einer Umarmung. So war er seit dem Abend gewesen, an dem sie ihn kennengelernt hatte: offen, warm, liebevoll, herzlich.
Nadia wandte sich an Naomi: »Naomi, das ist der Typ, von dem ich dir eben erzählt habe. Eddie, das ist meine Freundin Naomi.« Sie hielt eine Sekunde inne, sah zu der Stelle, wo vor nicht einmal zehn Sekunden die Typen vor ihnen gestanden hatten. Sie könnte sie eigentlich auch bekannt machen. Aber jetzt waren sie weiter vorn, am Imbissstand, und bestellten ihr Essen. Nadia hatte gar nicht mitbekommen, dass sie das vordere Ende der Schlange erreicht hatten.
»Wie geht es dir?«, fragte Eddie noch einmal. »Das ist Alya, meine Freundin. Alya, Schatz, das ist Nadia.«
Alya streckte die Hand aus. »Ich habe schon viel von dir gehört«, sagte sie lächelnd.
»Ach ja?«, meinte Nadia.
Eddie lachte. »Nur Gutes, Nadia, keine Sorge.« Er wandte sich an Naomi. »Deine Freundin hat mir ein klein wenig das Herz gebrochen«, sagte er. »Aber dann habe ich Alya kennengelernt und begriffen, warum es nie mit irgendeiner anderen geklappt hat.«
Eddie lächelte seine Freundin an, legte wieder den Arm um sie und zog sie nah an sich. Er beschwichtigte sie. Steckte sein Revier ab. Stellte seine Loyalitäten klar. Nadia freute sich aufrichtig, ihn so glücklich zu sehen, und sie sagte es ihm. Es war leichter, ihn mit einer anderen zu sehen, als zu denken, dass sie ihn in irgendeiner Weise verletzt hatte und er noch immer litt. Es entlastete sie.
»Danke, Nadia«, sagte er, und dann ergänzte er: »Na ja, wir sollten jetzt wohl besser gehen. Ich glaube, der Film fängt gleich an.«
Nadia nickte.
»Hat mich gefreut, euch kennenzulernen«, sagte Naomi. Während Eddie und Alya sich entfernten, fragte sie: »Der Typ, der nicht ganz genug war?«
Nadia nickte. »O ja.«
Sie wandte sich um, hielt wieder nach dem Typen mit der Weste Ausschau, aber als sie ihn neben dem Imbissstand suchte, wo er noch vor ein paar Sekunden gewesen war, war er nicht da.
»Ah!«, wandte sie sich an Naomi. »Dieser Typ! Wohin ist er verschwunden?«
Naomi folgte Nadias Blickrichtung und zuckte die Schultern. »Oh, Scheiße, ich weiß es nicht!«, sagte sie. »Er ist so auf dich abgefahren!«
»Ich bin so auf ihn abgefahren!«
»Das konnte ich sehen. Es war, als würdest du mit den Augen Sex mit ihm haben.«
Nadia gab ihrer Freundin einen Klaps auf den Arm.
»Wir werden ihn finden. So groß ist das hier nicht. Vielleicht wird er ja wiederkommen.«
Nadia sah sich wieder auf dem Gelände um.
»Ich hoffe es«, meinte sie, und Naomi zog sie am Handgelenk vor zum Tresen des Imbissstands. »Er war … wow.«