45
Nadia
»Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße.«
Nadia Fielding stürmte die Rolltreppe der U-Bahn-Station hinunter. Ihre neuen Winterstiefel schlugen mit Wucht auf die Stufen. Mit dem Kaffee, den sie unsicher in der Hand hielt, der Tasche, die von ihrer Schulter rutschte, und der Baskenmütze, die seitlich von ihrem Kopf zu gleiten begann, war Nadia ein Bild des Chaos – aber sie würde einen Teufel tun und den Halb-acht-Zug nicht erwischen. Heute war ein Neuanfang in Sachen Ich-ändere-mein-Leben-Plan. Sie würde diesen verdammten Zug erwischen, sie würde einen tollen Tag haben, und sie würde eine Frau sein, die ihr eigenes Leben im Griff hatte. Die Luft war heute anders. Sie war heute anders. Die Möglichkeit des Abenteuers ihres eigenen Lebens lag ausgebreitet vor ihr. Ich werde den Typen mit der Weste wiedersehen , sagte sie sich immer wieder. Ich sehe es. Ich fühle es .
Sie erreichte den Bahnsteig und ihre übliche Stelle, bevor der Zug einfuhr, und sie war begeistert, dass sie es tat, denn erstaunlicherweise, perfekterweise – Oh mein Gott, ich kann es kaum glauben, nur dass es genau das ist, was ich visualisiert habe, dachte sie – war er da. @DannyBoy101. Der Typ von dem Kino-Event. Der Mann, den sie auf Instagram gestalkt und beschworen hatte, ihren Weg wieder zu kreuzen.
Ach du Scheiße , dachte Nadia. Er ist es wirklich! Er war noch niedlicher, als sie ihn in Erinnerung hatte. Sie war buchstäblich erst an diesem Morgen noch einmal auf seinem Instagram-Profil gewesen, nur um nachzusehen, ob er seit dem Filmabend irgendetwas hochgeladen hatte. Das hatte er nicht. Nadia war enttäuscht gewesen – sie hatte sich nach einem kleinen Häppchen aus seinem Leben gesehnt, um ihr Interesse an ihm zu beflügeln, aber seine mysteriöse Online-Existenz verriet ihr absolut nichts.
Sie holte tief Luft.
Sie sah nach links, während der Zug langsam zum Stehen kam.
Die Zugtüren öffneten sich.
@DannyBoy101 sah auf.
Ihre Blicke trafen sich.
»Hallo«, sagte er, und während Leute an ihr vorbeidrängten, um einzusteigen, ging sie langsam auf ihn zu, erleichtert, dass er sie zu erkennen schien.
»Hi.«
Sie standen da und lächelten sich an, wie sie es an dem Abend neulich getan hatten, bis die Vorwärtsbewegung des Zuges Nadia leicht stolpern ließ. @DannyBoy101 streckte reflexartig einen Arm aus, und sie ergriff ihn. Sie wartete, bis der Zug sein Tempo beschleunigt hatte, bevor sie darauf vertraute, dass sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Sein Arm war steinhart. Sie wollte nicht loslassen.
»Vollständig angezogen hätte ich dich fast nicht erkannt«, meinte sie lächelnd, und @DannyBoy101 lachte.
»Ja, die Lederweste hebe ich mir im Allgemeinen für die Zeiten auf, wenn ich nicht im Begriff bin, meinen Boss und den Boss von meinem Boss und den Ober-Ober-Boss zu treffen.«
Nadia gab sich ganz beeindruckt. »Dann ist heute ja ein großer Tag für dich.«
@DannyBoy101 schluckte, hielt ihrem Blick stand und sagte dann, ohne mit der Wimper zu zucken, mit einer Stimme, die sich ganz gewichtig und geladen und bedächtig anfühlte: »Es sieht so aus.«
Die Art, wie er es sagte, war so bedeutungsschwer, dass sie spürte, wie ihre Brustwarzen hart wurden, während ihre Wangen sich röteten. Sie lächelte, beschwor sich, sich der Gelegenheit dieses Augenblicks gewachsen zu zeigen. Sie wollte nicht schüchtern sein oder sich diese Chance entgehen lassen. Sie musste mutig sein. Sie würde sich den Namen und die Telefonnummer dieses Mannes sichern, zum Teufel mit ihren Selbstzweifeln.
Nadia spürte undeutlich die Neugier der Leute um sie herum. Die Londoner U-Bahn war berüchtigt für ihre Unfreundlichkeit. Im Laufe der Jahre waren mehrere Kampagnen, typischerweise von Auswärtigen, entwickelt worden, um zu Plaudereien und einem Lächeln zu ermuntern, unter anderem – aber nicht nur – Sticker, auf denen in den roten, weißen und blauen Farben der Londoner Verkehrsbetriebe (angeblich jedoch nicht von ihnen ausgegeben) »Sprich mit mir!« stand, Straßenmusiker, die die Leute aufforderten, mitzusingen, und amerikanische Touristen, die versuchten, mit Einheimischen ins Gespräch zu kommen, nur um auf eisiges Schweigen und einen betonten Sitzplatzwechsel zu stoßen. Aber – die Londoner hatten ein Gespür für Romantik. Sie liebten eine »U-Bahn-Begegnung«. Nadia war sich sicher, dass eine junge Frau sogar ihre Kopfhörer abgenommen hatte, um ihnen genauer zuzuhören.
»Wo steigst du aus?«, fragte Nadia schließlich. Ihre Stimme klang ein wenig schrill, aber wenigstens hatte sie überhaupt etwas gesagt.
»Irgendwo da drin ist ein Witz versteckt«, lächelte @DannyBoy101.
»Sehr komisch.«
»Ich versuche mein Bestes.«
»Ich bin sicher, du musst es gar nicht versuchen.«
Noch ein geladenes Schweigen trat ein. Nadia wusste ohne den Schatten eines Zweifels, dass er dasselbe fühlte wie sie. Anders konnte es gar nicht sein. Sie konnte nicht erklären, was passierte, aber sie wusste, verstand stillschweigend, dass dieser Typ irgendetwas atemberaubend Bedeutungsvolles für sie sein würde.
Der Zug verlangsamte sein Tempo, als sie sich London Bridge näherten.
»Hier steige ich aus«, sagte @DannyBoy101.
»Oh, ich auch«, sagte Nadia.
@DannyBoy101 streckte eine Hand aus, um Nadia den Vortritt zu lassen, und sie gingen nebeneinanderher in dem Meer von Menschen zur Rolltreppe, die Nadia als Erste betrat. Sie wandte sich um, und da sie eine Stufe höher stand, war sie jetzt auf Augenhöhe mit @DannyBoy101. Sie war ihm so nah, dass sie ihn riechen konnte: Nelken und Sandelholz und vielleicht auch Zeder. Er hatte einen winzigen roten Blutfleck seitlich am Gesicht, unten am Kiefer. Nadia nahm an, dass er vom Rasieren war, da seine Stoppeln ganz kurz rasiert waren. Sie konnte sein Mundwasser riechen. Pfefferminz.
Nadia fragte sich, ob sie ihn schon einmal gesehen hatte – vor dem Kino-Event. Sie musste ihn im Zug gesehen haben, wenn er auch hier in der Gegend arbeitete – auch wenn sie zugeben musste, dass sie im Allgemeinen die Nase in ihr Handy gesteckt hatte. @DannyBoy101 sah sie an, beugte sich ein klein wenig vor, und sie schloss fast die Augen und reckte das Kinn, um seinen Kuss zu empfangen, aber dann sagte er mit todernster Miene: »Du starrst mich an.«
Sie lachte schallend auf.
»Oh, Entschuldigung.« Sie hielt sich eine Hand vors Gesicht, dann wagte sie ihn wieder anzusehen, forschte in seinen Augen. Eine greifbare Spannung knisterte zwischen ihnen.
»Es ist nur …«, begann sie, aber er unterbrach sie.
»Pass auf!«, sagte er und zeigte in die Richtung. Er hielt sie am Ellbogen fest und drehte sie eben noch rechtzeitig herum, damit sie sehen konnte, dass sie das obere Ende der Rolltreppe erreicht hatten. Einen Augenblick später, und sie wäre auf dem Boden gelandet und hätte zweifellos eine zweistellige Zahl von Pendlern mitgerissen. Sie gingen nebeneinanderher, und sie spürte es wieder: die Anziehung. Frag mich, ob ich vor der Arbeit noch einen Kaffee will, beschwor sie ihn im Stillen. Sie vergaß, dass sie durchaus imstande war, ihn zu fragen, ob er einen Kaffee wollte. Frag mich, ob wir uns wiedersehen können .
»Na ja«, sagte @DannyBoy101, als sie den Ausgang erreichten. »Ich muss in die Richtung. Zu Converge.« Er zeigte nach links.
»Und ich in die Richtung«, sagte Nadia und zeigte nach rechts. »Zu Rainforest.«
Frag ihn nach seiner Nummer, dachte Nadia. Na los, sei kein Feigling!
»Na ja …«, meinte @DannyBoy101.
»Na ja …«, meinte Nadia.
Komm schon! , dachte sie.
»Hast du …«, sagte Nadia in dem Moment, in dem @DannyBoy101 sagte: »Ich dachte, vielleicht …«
Sie lachten.
Sie bestand darauf, dass er zuerst sprach. Er bestand darauf, dass sie zuerst sprach. Sie redeten übereinander hinweg, und dann sagte keiner von ihnen etwas, und Nadia entschied, dass sie ihn fragen würde – sie würde ihm sagen, dass sie sich einen Kaffee holen würde und dass er mitkommen sollte und –
»Ich würde dich gern fragen, ob du einen Kaffee trinken gehen willst«, sagte er schließlich.
»Ich habe eben dasselbe gedacht!«, sagte Nadia. »Ja! Kennst du Pete’s Kaffeewagen gleich um die Ecke? Er macht tollen Kaffee, ich glaube, es liegt an der Mischung, die er hat, irgendwas mit Arabica-Bohnen und Robusta? Seine Haselnuss-Milchkaffees sind unwiderstehlich. Unwiderstehlich!«
»Ich wollte eben sagen«, nahm @DannyBoy101 einen neuen Anlauf, »ich würde dich gern fragen, ob du einen Kaffee trinken gehen willst, aber ich habe dieses Meeting, das große. Mit den ganzen wichtigen Leuten.«
Nadia kam sich wie ein absoluter Vollidiot vor. Sicher nicht. Sie hatte das hier doch sicher nicht missverstanden. Sicher nicht!
»Dein Meeting, ja. Geh. Geh und mach Eindruck.« Sie lachte hohl und verlegen auf, und dann kam sie sich noch idiotischer vor. »Viel Glück.«
»Kann ich, ähm, kann ich vielleicht deine Nummer haben?«, fragte er und hielt ihr sein Handy hin. »Würdest du sie hier eingeben? Ich würde dich gern einladen. Zu einem Date. Wenn du willst.«
Nadia spürte, wie sie von Erleichterung durchflutet wurde. »Sehr gern«, strahlte sie, nahm sein iPhone und tippte ihre Nummer unter dem Namen »Girl on the Train« ein.
»Okay«, sagte er, als sie ihm das Telefon wiedergab.
»Schick mir eine Nachricht«, sagte sie.
Er nickte. »Mache ich.«
Er ging los und drehte sich nicht einmal, sondern zweimal um, um ihr ein breites Grinsen zuzuwerfen. Er lief fast gegen einen Mann mit einer Aktentasche. Darüber musste Nadia lachen. Sie stand da und sah ihm nach, wie er sich mit einem kleinen Wink entfernte, und Schmetterlinge tänzelten in ihrem Bauch. Sie fühlte sich, als wäre die ganze U-Bahn-Fahrt eine Achterbahn gewesen, die immer höher und höher zum Gipfel hinaufführte, und der Moment, in dem sie jetzt schwebte, war der Moment vor dem freien Fall, wenn auf einmal alles verschwommen und schnell wurde und sie die Kontrolle verlor.
Ihr Telefon summte. Unbekannte Nummer.
Ich bin froh, dass wir unsere Station heute nicht verpasst haben , lautete die Nachricht. Sie nahm an, dass sie von @DannyBoy101 war, aber Nadia verstand nicht. Ihre Station verpasst? Hä? Warum hätten sie ihre Station verpassen sollen?
Sie wälzte den Gedanken hin und her, versuchte, ihn zu analysieren. Ihre Station .
Woher wusste er, dass sie dieselbe Station hatten? War es das, was er meinte? Dass sie im Zug hätten weiterreden und ihre Station verpassen können?
Ich bin froh, dass wir unsere Station nicht verpasst haben .
War es eine Redensart, die sie nicht kannte? Etwa in dem Sinn, dass man, wenn man jemanden traf, der einem gefiel, an seiner Station ausstieg?
Nein. Das klang nicht richtig.
Ich bin froh, dass wir unsere Station nicht verpasst haben.
Unsere Station nicht verpasst haben.
Unsere Station.
Der Twitter-Hashtag.
#Unserestation
Unsere Station verpasst? , dachte Nadia. Warum sollten wir …
»Ach du großer Gott!«, sagte sie in ihr Handy und drückte für Emma auf die Aufnahmetaste. »Ich glaube, ich habe ihn eben getroffen. Den U-Bahn-Typen! Ich glaube, ich habe ihn eben getroffen! Verdammt, ruf mich an!«