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Nadia
»Also dann. Ihr beide, bei dem Burritoladen, um halb eins. Keine Ausreden. Ich muss mit euch reden.«
Nadia drückte auf »Senden«, schickte ihre Sprachnachricht an eine neue Gruppe, die sie für sich, Emma und Gaby eingerichtet hatte. Beide antworteten prompt.
Emma: Okay x
Gaby: Okay!!!!!!
Nadia nahm den Blumenstrauß mit nach unten, als sie in ihre frühe Mittagspause ging. Sie wollte ihn nicht zurücklassen. Sie wollte ihn bei sich haben, als Beweis für die Romanze, die sich vor ihr entfaltete. Sie waren von einem absolut seltsamen Mann gebracht worden, der sie ihr mit den Worten überreicht hatte: »Oh, verstehe. Jetzt verstehe ich, was die ganze Aufregung sollte.« Und dann war er verschwunden. Zwischen den Blumen steckte eine Karte. Heute Abend?,
stand darauf. Ich schicke dir später einen Hinweis, wo …
Sie war aufgeregt. Sie war völlig aus dem Häuschen. Sie wollte angeben – und zwar vor ihren besten Freundinnen. Es war ihr egal, was mit den beiden passiert war oder noch immer passierte. Sie vermisste ihre Freundinnen und musste diese Freude, die sie erlebte, in Echtzeit mit ihnen teilen.
»Oh mein Gott, für wen sind die denn?«, rief Emma und sprang auf, um Nadia zu umarmen. Sie hatte sich die Haare schneiden lassen und trug mehr Eyeliner als sonst. Es stand ihr gut.
»Sie sind wunderschön!«, sagte Gaby und stand ebenfalls auf, um Nadia einen Kuss zu geben. Sie hatten bereits eine Sitznische ausgewählt und beide auf derselben Seite Platz genommen, sodass Nadia auf die Bank ihnen gegenüber rutschen musste und beide ansah – und von beiden angesehen wurde.
»Das sind meine. Von dem U-Bahn-Typen.«
Gaby kniff die Augen zusammen. »Er weiß schon jetzt, wo du arbeitest?«
»Ich muss es ihm heute Morgen gesagt haben, als wir uns unterhalten haben«, antwortete Nadia. »Und ich meine, wenn du ›Nadia‹ und ›Rainforest‹ googelst, muss mein Nachname auftauchen. Mein Gott, ich habe ihn doch selbst auf dem verdammten Instagram gefunden. Ich glaube, in Zeiten des Internets ist es nicht schwer, etwas über andere Leute herauszufinden.«
»Oh mein Gott!«, sagte Emma.
»Ich weiß«, erwiderte Nadia. »Es ist sehr süß.« Die drei schwiegen einen Moment, und keine von ihnen wusste, wohin sie das Gespräch als Nächstes steuern sollte. Nadia wollte nicht über den U-Bahn-Typen reden, bevor sie wusste, dass alles okay war.
»Hört mal, gibt es irgendetwas, was ihr zwei mir sagen wollt?«
Sie sahen sich an. Ihr Blickkontakt dauerte einen Sekundenbruchteil zu lange und machte deutlich, dass es tatsächlich etwas gab, was gesagt werden musste, aber das wusste Nadia ohnehin schon. Es war nur die Frage, wer das Wort ergreifen und es sagen würde.
»Ja«, antwortete Emma. Sie legte eine Hand auf Gabys. »Flipp jetzt nicht aus, aber …« Sie sah Gaby an. Gaby sah sie an. Beide lächelten. Nadia hatte das Gefühl, etwas sehr Intimes zwischen den beiden zu beobachten.
Gaby ergriff das Wort, wandte sich wieder zu Nadia um. »Na ja, du weißt ja, dass wir uns auf Anhieb verstanden haben, als du uns letztes Jahr miteinander bekannt gemacht hast.« Sie sah wieder zurück zu Emma.
Emma nahm den Faden auf: »Und es war wirklich toll, dass ich deine beste Arbeitsfreundin mochte.« Emma sah von Nadia zu Gaby, und Nadia spürte es wieder – dieses Gefühl, als ob sie, nur mit einem einzigen Blick, einen wirklich intimen Moment zwischen den beiden beobachtete.
»Und ich war so froh, deine beste Arbeitsfreundin zu sein, nachdem du einen so tollen Geschmack an besten Freundinnen im richtigen Leben bewiesen hattest«, warf Gaby ein.
»Aber wir hatten fast von Anfang an das Gefühl, es ist …«, fuhr Emma fort.
»Mehr«, ergänzte Gaby und warf wieder einen verstohlenen Blick auf Emma, die sie aufmunternd anlächelte.
»Mehr«, wiederholte Emma.
Nadia nickte, und die beiden lösten ihre Blicke mühsam voneinander, um sie wieder anzusehen.
»Das heißt, ihr … seid zusammen?«, fragte Nadia in einem Versuch, die beiden zu bewegen, die Worte laut auszusprechen.
Die beiden strahlten.
»Wir hätten es dir sagen sollen«, sagte Gaby. »Es war nur alles so …« Emma führte ihren Satz zu Ende. »Unbekannt. Und am Anfang hätte es nichts sein können, aber dann …« »Wurde es etwas«, ergänzte Gaby. »Und inzwischen fühlte es sich schon so an, als ob wir es beschützen müssten. Ihm eine Chance geben mussten, zu wachsen.«
»Wir wollten es dir nicht sagen, bevor wir uns sicher waren«, sagte Emma, und an der Art, wie die beiden die Gedanken und Worte der jeweils anderen zu Ende führten, erfasste Nadia auf einmal die Tiefe ihrer Beziehung. Sie begriff, dass sie zwei Hälften voneinander waren, und sie wunderte sich, dass sie davor noch nie gesehen hatte, wie perfekt eine Verbindung sein konnte. »Ich hätte es fast getan, beim Soho Farmhouse. Da hast du mich so oft gefragt, was los sei, und …«
Gaby warf ein: »An dem Wochenende hatten wir unseren ersten Streit. Falls sie eine miese Gesellschaft war, war es meine Schuld.« Sie zwinkerte Emma verspielt zu.
»Ihr hättet mir vertrauen können …«, meinte Nadia.
»Wir vertrauen dir ja!«, sagte Emma. »Aber es ist alles so langsam passiert. Ich glaube, wir wussten irgendwie gar nicht, dass wir eine Grenze überschritten hatten, bis …«
»… bis wir wirklich eine Grenze überschritten hatten.«
»Wir wollten es dir ja sagen.«
»Letztlich.«
»Aber es war auch so, na ja, du weißt schon. Was, wenn es ein Fehler gewesen wäre?«
»Woher wisst ihr denn, dass es keiner ist?«, fragte Nadia. Und dann ergänzte sie prompt: »Entschuldigung, ich habe es nicht so gemeint, wie es klingt.« Das hatte sie wirklich nicht. Es war ein Reflex, eine Altlast ihrer Romantik-Skepsis. Sie war einfach froh, dass sie ihr jetzt alles erzählten. Dass alles offen heraus war.
Gaby sagte: »Na ja. Um es klarzustellen. Ich bin lesbisch. Ich glaube, ich war es schon immer, aber erst als Emma daherkam, ist es mir wirklich klar geworden.«
»Und ich … ich bin bi oder pansexuell? Ich weiß es nicht. Ist ja auch egal. Ich … stehe einfach auf Gaby. Entschuldigung.«
Die drei lachten.
Gaby sagte: »Und ich will nie wieder auch nur an einen nackten Mann denken. Ich habe das Licht gesehen, und, Süße, es ist weiblich.«
Nadia streckte eine Hand über den Tisch und legte sie auf ihre beiden. »Ich bin froh, dass ich es jetzt weiß«, sagte sie. »Ich bin froh, dass ihr aufhören könnt, es vor mir zu verheimlichen. Ich habe euch gesehen, wisst ihr, an dem einen Abend in Soho. Ich habe es gewusst, Leute. Ich weiß es schon seit einer ganzen Weile.«
Gaby und Emma nickten. »Wir dachten uns schon, dass du es dir denken kannst«, sagte Emma. »Und sobald wir wussten, dass du es wusstest, aber nicht von uns erfahren hattest, wussten wir nicht, wie wir es zur Sprache bringen sollten. Es tut mir leid.«
»Mir tut es auch leid«, warf Gaby ein. »Ich habe dich vermisst!«
»Ich dich auch!«
»Ich euch auch!«, sagte Nadia. Sie fühlte sich prompt leichter. Sie hasste es, dass die beiden Geheimnisse gehabt hatten – und dass sie selbst Geheimnisse gehabt hatte. Sie wollte, dass alles offen heraus war. »Okay, okay, also los jetzt. Was werden wir wegen dieses geheimnisvollen Mannes unternehmen?«
»Wie sieht er denn aus?«, fragte Emma.
»Oh, na ja, ehrlich gesagt kann ich euch ein Foto zeigen!«, sagte Nadia. »Ich habe sein Instagram-Profil gefunden, bevor er mich heute angesprochen hat. Ich habe das Gefühl, es sollte alles passieren, auf eine seltsame Weise.«
Nadia entsperrte ihr Handy und tippte sein Instagram-Handle ein.
»Nein.
Das gibt’s ja nicht!« Gaby riss ihr das Telefon aus der Hand. »Weißt du, wer das ist?«
»Der U-Bahn-Typ!«
»Na ja, der U-Bahn-Typ ist auch der niedliche Typ, mit dem ich dich auf der Sommerparty verkuppeln wollte! Daniel Weissman!«
»Das ist der Typ, den du in der Arbeit kennengelernt hast?«
»Das ist er!«
»Der Typ, den du in der Arbeit kennengelernt hast, ist der U-Bahn-Typ, der auch der Typ mit der Weste vom Secret Cinema ist? Das ist ja … verrückt! Ich habe ihn so oft verpasst … Unsere Wege müssen sich monatelang fast gekreuzt haben. Wow.«
»Na ja, Süße, lass dir von mir sagen: Er ist entzückend. Habe ich nicht gesagt, ich kenne den perfekten Mann für dich? Daniel Weissman! Ich glaub’s nicht!«
»Na ja, ich habe heute Abend ein Date mit ihm. Ich weiß noch nicht, wo, ich glaube, er wird mir die Details schicken. Endlich werden wir uns auf diesen Drink treffen.«
»Kein Notfallanruf nötig, nehme ich an?«
Nadia schüttelte den Kopf. »Kein Notfallanruf nötig.«