Sofia
D erek und ich waren die ersten Gefangenen, denen Isda Nahrung anbot. Sie reichte uns Blutflaschen sowie Wasser und gab den Nicht-Vampiren in unserer Gruppe gekochtes Essen. Die anderen umringten Isda schnell und versperrten den Vollkommenen-Wachen die Sicht auf sie, als sie tiefer in die Menge eintauchte.
»Isda, was ist passiert? Bist du in Ordnung?«, fragte ich und umfasste sanft ihr Handgelenk.
Sie blieb stehen und sah uns verängstigt an. »Ich ... ich weiß nicht«, antwortete sie mit zitternder Stimme.
»Was ist mit Monos und den anderen?«, flüsterte Derek und runzelte besorgt die Stirn. »Geht es ihnen gut?«
»Ich glaube nicht. Ich habe sie seit ein paar Stunden nicht mehr gesehen. Seit gestern Abend, um genau zu sein. Seit dem Aufstand«, sagte Isda. »Sie wurden mit Sicherheit gefangen genommen und eingesperrt.«
»Aber du bist hier«, murmelte Claudia. »Wie kommt das?«
»Ich weiß es nicht!«, sagte Isda sichtlich alarmiert. »Amal muss gewusst haben, was ich getan habe. Sie wusste, dass ich einen von euch auf einem anderen Weg hinausgeschmuggelt habe. Sie hatte detaillierte Informationen über alles, was wir getan haben. Doch aus irgendeinem Grund hat sie mich nicht verraten. Ich schwöre, dass ich mir das selbst nicht erklären kann.«
»Also wusste Amal, dass Varga einen anderen Fluchtweg benutzt«, murmelte ich.
»Sie muss es gewusst haben. Sie wusste so viel über unseren Plan, selbst wann und wo wir die Kämpfe anzetteln würden. Einer unserer Leute hat es ihr sicher verraten. Wir haben eine undichte Stelle in unseren Reihen. Monos und ich hatten Zweifel an ihrer Absicht, uns zu helfen, weshalb wir viele Details unter Verschluss gehalten haben. Trotzdem hat sie irgendwie von ihnen erfahren. Sie muss von meinem Auftrag mit Varga gewusst haben«, erklärte Isda.
Mir wurde übel. Einerseits war es großartig, Isda hier zu sehen. Gleichzeitig fragte ich mich, ob ihre Anwesenheit hier Teil von TaʼZans neuem Plan war, uns zu manipulieren. Schließlich wäre dies weder sein erster noch sein letzter Versuch, uns zu täuschen.
»Nun, wir sind froh zu sehen, dass es dir gut geht«, sagte ich und lächelte herzlich. »Hat TaʼZan seit gestern Abend mit dir gesprochen?«
Sie nickte. »Ja. Er klang ganz normal und schien überhaupt nicht böse auf mich zu sein. Ich habe gezittert wie Espenlaub, war schweißnass und konnte kaum atmen, aber er war sehr ruhig. Er sagte nur, ich solle mir für heute Morgen andere Fehlerhafte suchen, die mir bei der Essensausgabe helfen, weil die anderen nicht mehr zur Verfügung stünden. Ich hatte nicht den Mut, ihn nach Details zu fragen.«
»Nein, es war gut, dass du nicht nachgefragt hast«, sagte Derek. »Wenn er dich nicht verdächtigt, gibt es keinen Grund, ihn auf dich aufmerksam zu machen.«
»Wenn Amal ihm nichts von dir erzählt hat, wirft das ganz neue Fragen auf.« Claudia seufzte, schürzte die Lippen und verschränkte die Arme. Sie setzte sich auf ihr Bett und lehnte das Essen ab, aber Yuri war klug genug, ihr eine Portion für später beiseitezustellen. Früher oder später würde der Hunger zuschlagen. »Zunächst einmal: Warum hat sie TaʼZan nicht von dir erzählt?«
Isda blinzelte mehrmals, als würde sie sich diese Frage zum ersten Mal stellen.
»Ich bin mir nicht sicher. Ich wage es nicht, mit Amal darüber zu sprechen«, antwortete sie. »Was ist, wenn ich falsch liege und sie nichts von mir wusste und ich nur deshalb nicht bei den anderen im Gefängnis bin? Wenn ich sie frage, wird sie herausfinden, dass ich involviert war, und mich verraten.«
»Nein, das ist schon okay, Isda. Mach dir darüber keine Sorgen«, sagte Derek mit zusammengepressten Zähnen und harter Miene. Die jahrzehntelange Erfahrung im Kampf gegen das Böse hatten ein paar feine Fältchen in seine Augenwinkel gezeichnet, aber davon abgesehen war er immer noch der attraktive, tapfere junge Mann, in den ich mich verliebt hatte. Ich kannte jeden seiner Gesichtsausdrücke und dieser hier bedeutete, dass er einen Plan hatte. »Verhalte dich unauffällig und verrichte deine Arbeit wie gewohnt. Wir kümmern uns um Amal.«
Isda runzelte die Stirn. »Was meinst du damit, dass ihr euch um Amal kümmert?«, fragte sie.
»Nun, sie wird früher oder später dafür zur Verantwortung gezogen werden, was mit ihren fehlerhaften Geschwistern passiert ist«, antwortete Derek. »Ich muss sie nur daran erinnern. Was sie getan hat, ist unverzeihlich. Zum Glück haben Monos und du uns beschützt. Euer Misstrauen ihr gegenüber hat Varga gerettet«, fügte er hinzu und zischte dann leise, als sein Halsband zu brennen begann.
»Wir werden nicht aufgeben«, sagte Lucas zähneknirschend. Der Gedanke an eine Rebellion reizte sein Halsband, aber er hatte eine gewisse Schmerztoleranz entwickelt, ähnlich wie der Rest von uns. Doch auch sein Körper hatte Grenzen und er stand kurz vor einem Stromschlag.
Marion drückte seine Schulter. »Liebling, ganz ruhig.«
»Ja«, antwortete er und nickte Isda schwach zu. »Unser Kampf ist noch nicht vorbei. Wir geben nicht auf. Wir fangen gerade erst an.«
Isda lächelte, anscheinend ermutigt von unserer immer noch optimistischen Haltung. Es brauchte schon mehr als einen vereitelten Fluchtversuch, um uns zu Fall zu bringen. Immerhin hatten wir es so weit geschafft. Wir würden nicht aufhören, nicht, wo wir doch gerade erst begonnen hatten, TaʼZans Grenzen und Schwächen ausfindig zu machen. Solange es einen Hoffnungsschimmer gab, hatten wir auch die Kraft, weiterzumachen.
Das Geräusch der sich wieder öffnenden Türen überraschte uns. Isdas Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie den Kopf wandte und TaʼZan in Begleitung von zwei Vollkommenen-Wachen hereinkommen sah. Er sah so finster aus wie am Vorabend, als wir ihn zuletzt gesehen hatten. Es gefiel TaʼZan definitiv nicht, dass seine Gefangenen zu fliehen versucht hatten.
»Mach deine Arbeit«, flüsterte Derek Isda zu. »Ignorier uns.«
Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie schob den Wagen weg und bewegte sich durch die Menge, um allen Gefangenen auf unserer Seite der Diamantkuppel Essen und Wasser zu geben. Derek und ich blieben nah beieinander und sahen, wie TaʼZan auf uns zukam. Die Hände hatte er wie üblich hinter dem Rücken verschränkt.
»TaʼZan. Ich hatte nicht erwartet, dich so bald wiederzusehen«, sagte Derek und streckte sein Kinn vor.
»Ich möchte euch etwas zeigen. Derek, Sofia, bitte kommt mit mir«, antwortete TaʼZan.
Sein Ton war scharf und schneidend wie ein heißes Messer. Das war keine Bitte. Das war ein Befehl, und wir hatten keine andere Wahl, als ihm zu gehorchen. Mein Blut gefror und meine Finger gruben sich in Dereks Arm.
Das bedeutete nichts Gutes.