Elonora
I ch konnte meinen Augen nicht trauen.
Tränen liefen mir über die Wangen, als ich auf ihn zulief. Ich warf mich in die Arme meines Bruders und hielt ihn so fest, als würde die Welt untergehen.
Was denke ich da bloß? Die Welt geht definitiv gerade unter!
»Hey, Schwester«, sagte Varga leise in mein Ohr, als ich ihn festhielt.
Ich weinte wie ein kleines Mädchen, berührte seine Schultern, seinen Rücken, seine Brust, drückte seine Arme und umfasste sein Gesicht und küsste seine kantigen Wangen, während ich allen alten und neuen Sternen und Gottheiten dafür dankte, dass sie meinen Bruder zu mir zurückgebracht hatten.
»Du lebst … ich habe gehofft und gebetet, aber … du lebst!«, rief ich und er schloss mich noch fester in seine Arme.
»Alter … du hast keine Ahnung, wie schön es ist, dich zu sehen!«, sagte Hunter, als der Rest der Gruppe uns erreichte. »Wir waren uns nicht sicher, ob du noch lebst oder tot bist, nachdem die Flotte abgestürzt war. Verdammt, wir wussten nicht einmal, ob du da oben warst!«
Varga ließ mich nicht los, nickte Hunter jedoch freundlich zu, bevor er deutlich verwirrt die Stirn runzelte. »Sind unsere Vitalwerte nicht aufgetaucht? Sie haben uns von Harpers Schiff aus verfolgt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie unterbrechen alle drahtlosen oder sonstigen Übertragungen, nicht nur Kommunikation und Telluris. In dem Moment, als ihr Stravas Atmosphäre erreicht hattet, fielen alle wichtigen Monitore aus. Wir hatten nur die Besatzungslisten für jedes Schiff. Wir wussten nicht, ob du es geschafft hast oder nicht.«
Er lächelte sanft und drückte dann seine Lippen gegen meine Stirn. »Oh, komm schon, Schwester. Hast du wirklich gedacht, ich wäre so leicht zu töten?«
»Nein, ich dachte nur, es wäre nervig, deinen Hintern retten zu müssen!«, antwortete ich und schubste ihn spielerisch, was ihn zum Lachen brachte.
Kailani und Hunter umarmten ihn abwechselnd.
»Freut mich zu sehen, dass du hier draußen bist, aber … Varga, wir haben gesehen, wie die Vollkommenen jede einzelne Rettungskapsel abgefangen haben. Wie bist du ihnen entkommen?«, fragte Kailani.
»Ich bin ihnen nicht entkommen«, antwortete Varga mit einem Schulterzucken. »Ich wurde gefangen genommen. Ich wurde zusammen mit den anderen Gefangenen, einschließlich der Gruppe von Derek und Sofia, in eine Diamantkuppel gebracht, ein Nebengebäude von Ta’Zans Kolosseum. Ich war eine Weile dort, bis wir einige der Fehlerhaften dazu bringen konnten, uns zur Flucht zu verhelfen. Leider bin ich der Einzige, der es geschafft hat, hauptsächlich, weil wir den Plan optimiert haben, ohne dass Amal etwas davon wusste. Sie hat uns betrogen und die anderen in unserem Team zurück in die Kuppel gebracht.«
»Amal … Amanes Schwester«, keuchte Kallisto.
Varga blieb mit großen Augen stehen, als er sie ansah. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich schwören können, dass er sich bereits verguckt hatte. Nicht, dass er keinen Grund hatte, – Kallisto war trotz ihrer hybriden Eigenschaften eine wunderschöne Kreatur. Tatsächlich verliehen ihr die hellgrünen Schuppen an ihren Schultern und Oberarmen sowie die Flossen an ihrem unteren Rücken und ihren Knöcheln einen gewissen … Charme. Ihr langes schwarzes Haar fiel ihr über den Rücken, ihre großen gelben Augen waren auf meinen Bruder gerichtet.
»Ich sehe, du hast schnell neue Freunde gefunden«, murmelte Varga und ein leises Lächeln breitete sich auf seinem hübschen Gesicht aus.
Raphael räusperte sich und forderte höflich unsere Aufmerksamkeit. Jetzt, wo die Damen nicht mehr über ihn herfielen, sondern über meinen Bruder, fühlte er sich ignoriert. Sein Ego war größer, als ich gedacht hatte, aber in Raphaels Fall war es irgendwie süß.
»Du bist also aus Ta’Zans Kolosseum geflohen«, sagte Raphael und sah Varga finster an. »Wie denn dass? Die Sicherheitsmaßnahmen in diesem Gebäude gehen weit über die Fähigkeiten eines Fremden hinaus.«
»Die Fehlerhaften haben uns geholfen, das habe ich doch schon gesagt«, antwortete Varga. »Insbesondere Isda.«
»Sie ist immer noch da«, murmelte Kallisto und lenkte Vargas Aufmerksamkeit erneut auf sich.
»Du kennst sie?«, fragte er.
Sie lächelte und die Aura meines Bruders flammte in einer Million Farben auf. Ich hatte das schon früher bei ihm gesehen – wann immer er eine Frau traf, die seine Sinne erregte. Tatsächlich hatte ich das gleiche Phänomen bei Nevis beobachtet, als wir uns zum ersten Mal ansahen. So musste dieser sagenumwobene »Funke« zwischen Menschen im emotionalen Spektrum aussehen.
»Ja. Wir haben lange zusammen gearbeitet und gelebt, das war vor dem großen Schlaf«, sagte Kallisto. »Sie ist eine gute Seele. Vielleicht zu gut für diese Welt, wenn du mich fragst. Der stärkste meiner Brüder schubste sie herum, wenn niemand hinschaute, und sie sagte nie etwas. Sie liebt uns alle, auch diejenigen von uns, die ihr Unrecht zufügten.«
»Ihre fortgeschritteneren Brüder hat sie aber nicht mehr so lieb.« Varga kicherte. »Die Vollkommenen sind viel zu brutal für die Fehlerhaften, die immer noch Ta’Zan dienen. Deshalb rebellierten einige von ihnen, einschließlich Isda. Wir hatten einen Plan. Derek, Sofia und noch ein paar mehr von den Gründern wollten zusammen mit mir und Heath fliehen und euch finden.«
»Aber was ist passiert?«, fragte ich.
»Wir hatten alles geplant. Die Fehlerhaften führten ein Ablenkungsmanöver durch, während Amal uns aus der Diamantkuppel holte, in der Ta’Zan alle Gefangenen festhält. Sie befindet sich auf der Südwestseite des Kolosseums. Man kann sie nicht verfehlen, sie ist verdammt groß«, sagte Varga. »Wir konnten entkommen, aber sobald wir die Zellen verlassen hatten, hat Isda mich von der Gruppe getrennt … und es war gut, dass sie das getan hat, weil die anderen es nicht geschafft haben. Wir hatten zwar schon den Verdacht gehegt, dass uns jemand sabotieren könnte, aber es war trotzdem großer Mist, als es tatsächlich passierte.«
»Was ist mit Derek und den anderen?«, fragte ich. »Sind sie okay?«
Varga nickte. »Ta’Zan wird sie nicht verletzen. Er braucht ihr genetisches Material. Sie sind höchstwahrscheinlich wieder in der Kuppel.«
»Wie kommst du dann hierher?«, fragte Hunter. »Wie hast du uns gefunden?«
Varga verschränkte die Arme und hob stolz das Kinn.
»Isda hat mich mehr oder weniger geführt. Sie gab mir diesen coolen schwarzen Staub, um meine Spuren vor den Vollkommenen zu verbergen, und sagte mir, ich solle immer nach Osten gehen und dass ich euch hier finden würde«, sagte er. »Für eine Weile habe ich genau das getan, aber mir wurde klar, dass ich mehr als nur eine relative Richtung brauchte, um zu dir zu gelangen, Schwester«, fügte er mit einem warmen, brüderlichen Lächeln hinzu. »Also fing ich an, mich an Vollkommene heranzuschleichen und sie zu belauschen. Dank dieser schicken Dinger habe ich den Klatsch aus einer Entfernung von bis zu einer Meile gehört.« Er kicherte und zeigte auf seine Ohren.
»Und sie haben dich hierhergeführt?«, fragte Raphael, immer noch im Unklaren darüber, wie mein brillanter Bruder den richtigen Weg zu uns gefunden hatte.
»Nun, nicht genau. Aber ihr wurdet hier und da gesichtet. Je tiefer ich in den Wald kam, desto mehr Fehlerhafte traf ich auch. Einige von ihnen versuchten mich zu jagen und mich zurück zu Ta’Zan zu bringen, aber ich konnte sie ziemlich schnell abschütteln. Ein paar habe ich gefoltert. Ich bin nicht stolz darauf, aber es war effektiv. Vor ein paar Stunden hat einer von ihnen dich gesehen, Lenny«, sagte er zu mir. »Zusammen mit deinem Team. Er sagte, er habe Abstand gehalten, weil Raphael bei euch war. Danach habe ich meinen Wahren Blick eingesetzt, bis ich dich von der anderen Seite dieser Insel entdeckte.«
»Und jetzt bist du hier«, seufzte ich und wieder schossen mir Tränen in die Augen.
»Hier bin ich«, antwortete er. Eine Bewegung hinter mir fiel ihm auf. »Du weißt, dass dieser Kerl dich anhimmelt, nicht wahr?«, fragte er unverblümt und zeigte mit dem Finger auf Nevis, dessen Atem ich spüren konnte, weil er meinen Nacken kitzelte.
Ich erstarrte und meine Wangen brannten. Meine Augen waren gefährlich nahe daran, aus ihren Höhlen zu springen, als ich meinem Bruder einen entsetzten Blick zuwarf. So war Varga – in einem Moment der liebevolle, wunderbare Bruder, und im nächsten Moment ein hirnloser Idiot, der mit beiden Füßen ins Fettnäpfchen tritt …
Ich drehte langsam meinen Kopf und warf Nevis einen kurzen Blick über die Schulter zu. Unsere Augen trafen sich und für einen Moment stand die Zeit still. Nevis war wütend und verlegen und eindeutig unsicher, wie er sich herausreden konnte, da uns jetzt alle anstarrten und die Hälfte von ihnen genauso grinste wie mein Bruder.
Dies war, gelinde gesagt, ein unangenehmer Moment.
»Ich bin Nevis, Prinz der Dhaxanianer und Verbündeter der GAÜS«, sagte Nevis in seiner formellen Art, das Eis zu brechen.
»Ich bin Varga, Prinz von Nimmerstrom und ewig nerviger Bruder«, antwortete Varga und schüttelte Nevis die Hand. Frost breitete sich von Nevis’ Fingern aus und erstreckte sich in Vargas Unterarm, bis mein Bruder quietschte.
»Ich glaube, er hat den Wink verstanden«, murmelte ich und warf Nevis einen warnenden Blick zu.
Er grinste und zog dann seine Hand zurück. Der Frost schmolz und zurück blieb Vargas Arm, wieder frei und rot von der Kälte. Mein Bruder lachte und kratzte sich im Nacken.
»Ich habe dir ja gesagt, dass Menschen viel zu simpel für dich sind«, sagte er zu mir. »Es ist schön zu sehen, dass du dich in Bezug auf Liebhaber verbessert hast.«
Kailani schnaubte vor Lachen.
»Er ist nicht mein Liebhaber!«, erwiderte ich und ballte die Fäuste. »Ich schwöre, Varga, ich wünsche mir jetzt schon, du wärst nie aus dieser Diamantkuppel entkommen!«
»Du bist immer noch eine schreckliche Lügnerin.« Er kicherte und umarmte mich erneut.
Ich ließ mich von ihm festhalten, trotz allem dankbar, dass er hier bei uns war. »Was ist mit Grandma und Grandpa? Geht es ihnen gut?«, fragte ich.
»Oh ja. Grandma Claudia ist so temperamentvoll wie immer. Sie hat diesem Typen, Abaddon, eine kolumbianische Krawatte verpasst.«
Diesmal lachten wir beide. Aber mein Bruder wurde schnell wieder ernst, packte meine Schultern und schob mich zurück, um mich von Kopf bis Fuß zu mustern.
»Was?«, murmelte ich.
»Ich bin froh zu sehen, dass es dir gut geht. Ta’Zan hat Abaddon auf euch angesetzt«, sagte er.
Raphael seufzte und stützte die Hände in die Hüften. »Ja, du brauchst dir keine Sorgen mehr um ihn zu machen«, antwortete er.
»Was meinst du damit?«, fragte Varga.
»Er meint das hier.« Einer der Draenir, die uns begleiteten, trat vor und hielt seine Waffe hoch, damit mein Bruder sie sehen konnte.
»Und wer bist du?«, fragte Varga und wurde mit jeder Sekunde verwirrter.
»Ah, du hast so viel verpasst, was wir in der Zwischenzeit alles gemacht haben«, sagte ich kichernd. »Diese vier jungen Burschen sind Draenir, mein lieber Bruder. Einige haben diese schreckliche Plage tatsächlich überlebt, von der wir dachten, sie hätte alle ausgelöscht. Raphael hat uns geholfen, sie zu finden.«
»Raphael bin ich«, antwortete Raphael und hob eine Hand. »Vollkommener. Abtrünniger Sohn von Ta’Zan. Und so weiter und so fort.«
»Oh ja, ich habe von dir gehört. Die Vollkommenen hassen und lieben dich gleichzeitig. Die Fehlerhaften haben Angst vor dir. Du bist jetzt schon eine lebende Legende und weniger als einen Monat alt. Ich bin beeindruckt«, sagte Varga.
Hunter trat zu uns und konzentrierte sich wieder auf die aktuelle Situation.
»Ich sag euch was. Sobald wir diesen Auftrag beendet haben und zum nächsten Kommunikationsturm übergehen, werden wir über alles sprechen.« Er seufzte. »Aber jetzt würde ich nichts lieber tun, als hier rauszukommen, bevor mehr Vollkommene auftauchen und ihnen klar wird, was wir hier treiben.«
»Was treiben wir denn genau?«, fragte Varga.
Raphael zeigte auf den Kommunikationsturm. »Es gibt zehn davon rund um Ta’Zans Archipel. Wir deaktivieren sie, einen nach dem anderen. Es sind diese Türme, die
alle eure Mitteilungen blockieren, und es wird lange dauern, bis sie wieder in Betrieb sind, wenn wir sie einmal zerstört haben. Also sei jetzt ein guter Bruder und leiste Lenny hier Gesellschaft, während ich dort hinauf gehe und anfange, die Arbeit meines Vaters zu sabotieren.«
Wir zogen uns von der Palme zurück, während Raphael ihre Basis erreichte und sich darauf vorbereitete, hinaufzusteigen und die Schaltkreise mit einem kleinen Messer zu durchtrennen. Wir drehten uns zu den umliegenden Wäldern um, aber der Anblick, der uns erwartete, presste mir sofort die Luft aus den Lungen.
Ein Vollkommener stand einfach da, am Rand der Lichtung, mit verschränkten Armen an eine der Palmen gelehnt, und sah uns an. Ein Anflug von Belustigung erhellte sein Gesicht. Seine Augen – ein blaues und ein grünes – schienen im Mondlicht zu leuchten.
»Lauschen ist unhöflich«, sagte Nevis brüsk, als er seine Waffe hob und auf den Vollkommenen richtete.
Raphael schnaubte. »Du weißt wahrscheinlich inzwischen, dass es dir nicht so gut bekommen wird, uns anzugreifen.«
»Oh, Mist«, keuchte Varga und erkannte anscheinend den Eindringling, der ihn nun schlitzohrig angrinste.
»Du kennst ihn?«, hauchte ich.
»Cassiel …«, brachte Varga mit großen Augen hervor.
Die Aura meines Bruders nahm einen besorgniserregenden Gelbton an. Der zitrusfarbige Hauch von Panik. Etwas an Cassiel flößte Varga Angst ein und das beunruhigte mich. Trotzdem richteten wir alle unsere Waffen auf ihn und stellten die seitlichen Schalter auf Zermalmer-Kapseln ein.
Ich brauchte nur einen Schuss, um ihn zu erledigen und meinen Bruder zu beschützen. Er hatte in der Vergangenheit so viel für mich getan. Dies war das Mindeste, was ich tun konnte.
»Ich nehme an, an diesem Trottel ist etwas Besonderes, das dich so nervös macht?«, fragte Raphael Varga, ohne Cassiel aus den Augen zu lassen. Der Vollkommene stand still da, sagte nichts und hörte uns einfach zu.
»Er ist ein verbesserter Vollkommener«, sagte Varga. »Frisch aus dem Labor. Ta’Zan sagt, dass er den Vollkommenen, die er bisher erschaffen hat, weit überlegen ist.«
»Ta’Zan kann meinetwegen in der Hölle verrotten«, zischte Raphael. »Und dieser da kann sich den vorherigen Exemplaren im permanenten Tod anschließen!«
Cassiel kicherte. »Du warst so leicht zu verfolgen, Varga. Der Staub, den du von Isda bekommen hast, ist praktisch nutzlos, wenn ich dich verfolge. Aber ich kann dem armen Mädchen keine Schuld geben. Sie konnte es nicht wissen.«
»Du bist mir gefolgt«, schloss Varga mit zittriger Stimme.
»Ich wollte mich erst viel später offenbaren, aber ich dachte, ihr habt hier gerade einen so schönen Moment … ich konnte nicht anders, als ihn zu ruinieren.«
Ich trat vorwärts, mein Finger legte sich auf den Abzug.
»Ich würde gern sehen, wie du es versuchst«, sagte ich.
Und ich meinte es ernst. Wir waren einfach schon zu weit gekommen. Es gab nicht genug verbesserte Vollkommene auf der Welt, um uns von dem abzuhalten, was wir uns vorgenommen hatten. Zum Teufel noch mal, es gab nicht einmal genug reguläre Vollkommene. Ganze Armeen könnten auf uns herabsteigen, und ich würde immer noch einen Ausweg finden. Wir hatten genug durchgemacht.
Dieser Wahnsinn musste ein Ende haben.