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aphael und Elonora kletterten die Palme hinauf. Zuerst schnitten sie die Stromleitungen für jedes der am Stamm montierten Rot-Weiß-Lichtgeräte ab. Dann schnitten sie die Seriumschnüre durch, wobei die abgetrennten Linien ihren blauen Schimmer verloren. Mein Herz pochte voller Hoffnung, dass diese Mission erfolgreich verlaufen würde.
Hunter und ich hielten vom Fuß des Baumes Ausschau, zusammen mit Nevis, Varga, Kallisto und Cassiel. Die Draenir-Jungen standen ungefähr zehn Meter von uns entfernt und sorgten dafür, dass uns niemand überraschte.
»Was hast du auf dem Herzen?«, fragte er.
Ich dachte immer an Cassiels Verfolger und an seine Entscheidung, uns zu helfen, anstatt uns zu jagen. Hunters Augen waren auf mich gerichtet und meine Wangen brannten rosa.
»Ich denke, wir könnten mit Cassiels Ortungschip etwas Klügeres anstellen«, antwortete ich.
»Schieß los«, warf Cassiel ein. »Was ist der Plan, Hexe? Moment, du bist keine gewöhnliche Hexe«, fügte er hinzu und kniff die Augen zusammen.
»Eine Hexe hat generell nichts Gewöhnliches an sich«, murmelte ich und tat mein Bestes, um keine defensive Haltung einzunehmen. Wir hatten ihn gerade erst auf unsere Seite gebracht. Ich wollte nichts sagen, was ihn abschrecken könnte. Ich hatte meine Fähigkeit, mich in die Nesseln zu setzen, nicht auf Calliope zurückgelassen, so viel wusste ich.
»Nein, ganz sicher nicht, aber bei dir ist noch etwas anderes«, antwortete Cassiel. »Du hast deine natürliche Magie, ähnlich wie die Hexe Corrine, aber in dir brodeln noch andere Kräfte. Sie sind nicht die eines Druiden oder Dhaxanianers. Sie stammen auch nicht von Strava … Also, was ist es? Was ist das für eine Magie? Ich weiß, dass es mehr als eine Art gibt.«
Ich lächelte schwach. »Es ist nichts, dass du kennst, glaub mir.«
Auf keinen Fall würde ich Cassiel, den ich gerade erst kennengelernt hatte, von der mächtigsten Waffe erzählen, die ich gegen Ta’Zan hatte. Er hatte vielleicht meinen Tarnzauber durchbrochen und er hatte wohl auch einen Weg gefunden, um die interplanetaren Reisezauberblasen zu stören, aber es war immer noch genug in meinem Arsenal, um ihm und seinen Vollkommenen die eine oder andere Überraschung zu bereiten. Meine Verschmelzung mit dem Wort war unvollständig, sie war in Arbeit, sozusagen. Ich wollte nichts riskieren.
»Was kannst du mit dem Ortungschip machen, Kailani?«, fragte Hunter und wechselte das Thema.
Ich hätte ihn dafür küssen können, wie geschmeidig er den Übergang geschaffen hatte, aber ich hob es mir für später auf. Irgendwo in der Nähe raschelten Blätter zu unserer Rechten. Mein Kopf flog in diese Richtung. Die Draenir richteten ihre Waffen auf die Geräuschquelle – eine merkwürdige Kreatur, eine Art Hirsch mit weichem, hellbraunem Fell und riesigen grünen Augen. Ein Grinsen breitete sich auf meinen Lippen aus.
»Leute, ich brauche das Tier lebendig«, sagte ich. »Ich weiß, was zu tun ist.«
Eine Stunde später brannten die Vollkommenen, die wir getötet hatten, immer noch. Das Schöne daran, sie mit dem Draenir-Öl zu übergießen, war, dass es die Flammen stundenlang verlängerte, was es für ihren Körper schwieriger machte, sich zu regenerieren. Raphael und Elonora befanden sich in der Nähe der Baumbasis und trennten die Überreste des Kommunikationsnetzes ab, während Nevis, Kallisto und zwei der Draenir-Jungen ihnen den Rücken freihielten.
Hunter hielt mir den Rücken frei, während ich den Ortungschip chirurgisch von Cassiels Schulterblatt entfernte, nachdem ich Elonora fünf Minuten lang von ihrer Arbeit abgezogen hatte, damit sie mit ihrem Wahren Blick den Chip lokalisieren konnte.
Das Extrahieren des kleinen Geräts war viel einfacher als das Entfernen eines Speicherchips, da keine empfindlichen und dünnen Drähte durchgeschnitten werden mussten, ohne das Nervensystem zu beeinträchtigen. Die anderen beiden Draenir-Jungen hielten den hellbraunen Hirsch an Ort und Stelle – sie hatten einen ziemlichen Sprint hinter sich gebracht, um das Tier lebend zu fangen.
Ich implantierte den kleinen Chip in den Oberschenkel des Hirsches, nachdem ich das Tier mit einer Prise Sumpfhexenpulver bewusstlos gemacht hatte. Ein paar Minuten nachdem ich fertig war, sprang er auf und raste in den Dschungel.
Cassiel stöhnte von dem Schmerz des Einschnitts, aber seine Wunde hatte bereits aufgehört zu bluten. In weniger als einer Stunde würde alles vollständig geheilt sein. Als Elonora und Raphael von der Palme herunterkamen, waren wir bereit, zum nächsten Kommunikationsturm überzugehen.
»Wie liegen wir in der Zeit?«, fragte Elonora.
Hunter sah auf die Uhr. »Eine Stunde und zweiunddreißig Minuten«, antwortete er.
Elonora und Raphael wechselten Blicke und lächelten uns dann an. »Ich denke, wir werden es beim nächsten Mal besser machen. Ich kenne mich jetzt mit Kabeln und Stromkreisen aus«, sagte Elonora.
»Dann beeilen wir uns«, sagte Nevis und die Temperatur um uns herum sank leicht. »Wir müssen uns bewegen.«
Cassiel kicherte. »Es ist gut, dass mein Ortungschip schon woanders ist.«
»Kluger Schachzug, Kailani«, sagte Elonora zu mir und zwinkerte ihm zu.
»Dann lass uns loslegen«, antwortete Raphael. »Die Zeit rennt uns davon.«
»Das tut sie immer«, murmelte ich.
Aber das hielt uns nicht auf. Wir wanderten mit Raphael und Cassiel an unserer Seite durch den Wald und ließen die brennenden Körper der Vollkommenen zurück. Kallisto war praktisch sprachlos, in wahrer Ehrfurcht vor beiden Vollkommenen. Ich konnte es ihr nicht verübeln, denn sie waren beide wunderschön, groß und schneidig. Außerdem hatte sie Varga an ihrer Seite – eine ebensolche Augenweide mit einem selbstbewussten Grinsen. Zusammen rasten wir über die knorrigen Baumwurzeln, die sich auf den weniger ausgetretenen Pfaden aus dem Boden schlängelten.
Als wir das Ufer erreichten, war ich an der Reihe, alle auf die nächste Insel zu teleportieren. Wir wiederholten den Zyklus mehrmals, bis wir den zweiten Kommunikationsturm erreichten. Cassiel und Raphael kümmerten sich um die Vollkommenen, sodass wir einige Zermalmer-Kapseln einsparen konnten. Varga und der Rest unseres Teams gossen Öl über die Leichen und zündeten sie an, während Elonora Raphael bei den Kommunikationskreisen half.
Es war ein Routineprozess, bis wir am letzten Turm ankamen – dem zentralen Pol, dem letzten Punkt auf unserer Liste, bevor wir das Kolosseum infiltrieren wollten. Am Rande eines Dschungels auf einem Hügel machten wir eine Pause, nur eine halbe Meile vom letzten Turm entfernt. Hinter den Bäumen konnte ich Ta’Zans Kolosseum aus tiefen Schichten grüner und gelber Baumkronen, die im blassorangenen Licht der Morgendämmerung zitterten, aufsteigen sehen.
Als Elonora ihre Kapuze hochzog und ihre Tagesbrille aufsetzte, ließ ich mich am Waldrand nieder, um die ganze Aussicht zu genießen.
Das Diamantkolosseum glänzte wie ein gigantisches Juwel und jede Facette dieses majestätischen Konstrukts wurde allmählich von der Morgensonne geküsst. Die brennende Sonne stieg über den Horizont hinaus und die ganze Welt schien gleichzeitig zu erwachen. In der Ferne und über dem Kolosseum blitzten Vollkommene auf und hinterließen schwache weiße Streifen am Himmel. Vögel sangen in den Bäumen und begrüßten den neuen Tag.
Im Inneren erledigten Vollkommene wahrscheinlich ihre Aufgaben. Einige Fehlerhafte waren vermutlich in einer der größeren Hallen beschäftigt, die Raphael erwähnt hatte, und arbeiteten an Ta’Zans Raumschiffen. Wir mussten dort hineinkommen und ihre Arbeit zerstören. Wahrscheinlich würden wir diese Fehlerhaften auch mitnehmen müssen. Wir konnten sie nicht einfach von vorn anfangen lassen. Ta’Zan musste so weit wie möglich verlangsamt werden, während wir seine Leute zusammentrommelten und sie gegen ihn wandten.
Es klang in der Theorie schon kompliziert – und die Ausführung war noch schlimmer. Wir hatten es mit einem gefährlichen Feind zu tun. Mit tausenden von ihnen, um genau zu sein. Alle wurden von Ta’Zan geschult und indoktriniert, diejenigen zu verachten und zu zerstören, die sie für minderwertig hielten. Wir verfolgten unseren Plan jedoch weiter und kämpften noch härter und waren nicht bereit, uns zu ergeben oder aufzugeben. Ich starrte eine Weile auf das Kolosseum. Es war unsere größte Herausforderung, es bedeutete jede Menge Schwierigkeiten und den möglichen Tod. Mein Magen drehte sich um, als ich über all die Möglichkeiten nachdachte, wie diese Mission schieflaufen könnte.
Dann bemerkte ich etwas anderes. Die Kuppel war von unserer Position aus ebenfalls sichtbar – jetzt, wo die Sonne aufging, war sie noch besser zu sehen. Mein Herz schmerzte, als ich versuchte, durch die Kristallplatten hindurchzuspähen, und mich fragte, was meine Großeltern dort taten.
Hunter saß neben mir, ruhig und respektvoll, während ich die Gebäude betrachtete.
»Sie sind da drin, weißt du?«, murmelte ich, ohne den Blick von der Kuppel abzuwenden.
»Ja. Ich kann es kaum erwarten, Mom und Dad wiederzusehen«, antwortete er.
»Wir bringen sie hier raus, Hunter. Meine Großeltern … Aiden, Kailyn … Derek, Sofia … alle.«
»Da hast du verdammt recht, Kailani. Und danach werden wir Ta’Zan in den Hintern treten, ihn in ein dunkles Loch stecken und dann mit unserem Leben weitermachen«, sagte Hunter lächelnd. »Apropos, was ist dein Lieblingsessen?«
Ich musste kichern. »Die italienische Küche ist für mich die einzig wahre.«
»Perfekt. Ich kenne das beste Restaurant in Hawaii. Sie machen eine Mörder-Lasagne und holen ihre Weine direkt aus der Toskana.«
»Oooh, Träume werden wahr«, witzelte ich und kicherte wie ein junges Mädchen.
Hunter drückte sanft einen Kuss auf meine Wange. Ich stockte und schmolz fast dahin, als er dort verweilte und seine Lippen gegen meine Haut drückte. Sein heißer Atem ließ mich schwindlig werden und ich befürchtete, dass ich ihn nicht mehr spüren würde, wenn ich mich bewegte.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir uns für ein Date verabreden sollten«, sagte Hunter.
Ich drehte meinen Kopf zu ihm und verlor mich fast in seinen blauen Augen. »Das gehört normalerweise dazu, nicht wahr?«
»Es ist das Einzige, was wir bisher nie getan haben«, antwortete er. »Und angesichts der Tatsache, dass wir es eindeutig schon vor langer, langer Zeit hätten tun sollen, scheint es, dass wir eine beträchtliche Anzahl von Dates nachholen müssen, nicht wahr?«
Ich lachte. »Absolut. Aber zuerst töten wir den genialen Bösewicht hier und hindern die Vollkommenen daran, uns zu töten, oder?«
Diesmal küsste er mich auf die Lippen. Mein Herz machte einen Freudensprung und die ganze Welt fühlte sich für einen Moment besser an.
Beim erneuten Betrachten des Diamantkolosseums schien dies keine so unmögliche Aufgabe mehr zu sein. Es war keine Todesfalle. Es war nur eine verdammt große Herausforderung.
Mit Hunter an meiner Seite und mit Elonora und Nevis und Rose und Ben und allen anderen, die sich uns auf dieser wahnsinnigen Mission angeschlossen hatten … hatte ich das Gefühl, dass wir bessere Chancen hatten.
Wir schaffen das schon
, dachte ich, den Blick auf das Diamantkolosseum gerichtet.
Wir schaffen das
.