Rose
N ach einiger Überlegung waren Rakkhan und ich uns einig, dass wir im Untergrund besser dran waren und den Draenir-Bunker – zumindest vorerst – als Operationsbasis nutzen würden. Abaddon und die anderen waren in Asche verwandelt worden, aber Ta’Zan hätte sie trotzdem bis nach Merinos verfolgen können. Außerdem hatten wir immer noch Araquiel.
Sein Speicherchip war zwar entfernt worden, aber seine Verbindung zur zentralen Datenbank war nicht blockiert worden, da Amane nicht die zehn Pfund Serium hatte, die sie benötigte, um ein Gerät zu konstruieren, das dem ähnelte, das sie für Douma hergestellt hatte.
Wir würden dieses Problem lösen, sobald alle unsere Teams wieder in der Basis waren. In der Zwischenzeit beobachteten wir Araquiel dabei, wie er sich von seiner Enthauptung erholte, und trafen die nötigen Vorbereitungen, um ihn in eine neue Welt einzuführen und ihm einen Neuanfang zu ermöglichen. Wir hatten bereits einige Erfahrungen mit Douma gesammelt und Amane hatte uns die erforderlichen Lehrmaterialien hinterlassen, um ihm alle Grundlagen beizubringen. Wir konnten nur hoffen, dass auch Araquiel von Natur aus eine freundliche und tugendhafte Kreatur wie Douma sein würde und nicht etwa ein Mörder.
Rakkhan blieb bei Wallah, Samael und Leah im Medizinraum und unterhielt sich, während er darauf wartete, dass Araquiels Genesungsprozess abgeschlossen war. Zu sehen, wie gut sie miteinander auskamen, war interessant. Rakkhan war Teil der alten Draenir-Generation und hatte den von Ta’Zan eingeleiteten Untergang seiner Zivilisation von Anfang an miterlebt, aber er hatte auch ihre unendliche Größe gesehen. Wallah gehörte der neuen Generation an und war ein junger Geist voller Wissensdurst. Seine sehr einfache Lebensweise resultierte aus Rakkhans Angst, die Überlebenden an äußere Elemente zu verlieren. In diesem Fall waren seine Befürchtungen begründet, aber er hatte auch verstanden, dass sein Volk kämpfen musste, um sein Überleben zu sichern.
Leah und Samael waren Produkte von Ta’Zans Brillanz, wobei trotz ihrer tierischen Merkmale auch Draenir-Blut durch ihre Adern floss. Sie stellten die Lücke zwischen den Draenir und den Vollkommenen dar, die nicht nahtlos überbrückt worden war. Für mich waren sie die Wertvollsten von allen, weil sie das Leben vor und nach der Plage miterlebt hatten. Sie waren selbst zur Besinnung gekommen, nachdem Ta’Zans sie verstoßen hatte, und sie hatten beschlossen, gegen ihn vorzugehen, ihn aufzuhalten und diejenigen zu schützen, die in ihrer Welt verwundbar waren.
Sie hörten aufmerksam zu und äußerten während des gesamten Gesprächs auch eigene Einsichten, da sie sich insbesondere in einer Sache mit Rakkhan und Wallah einig waren: Ta’Zan war toxisch. Die Skepsis der Draenir gegenüber seiner Erschaffung war kein Grund, Völkermord und biologische Kriegsführung zu begehen. Was Ta’Zan getan hatte, war unverzeihlich, und niemand wollte mit ihm assoziiert werden. Das Einvernehmen in diesem Punkt zwischen Draenir und Fehlerhaften erwies sich als positiv für unsere Sache.
Herons zwei Schutzwachen blieben immer bei mir. Sie waren angewiesen worden, mich und insbesondere Bogdana zu beschützen, und wir konnten ohne ihre Begleitung nirgendwo hingehen. Es machte mir jedoch nichts aus. Seit sie an Jax’ Seite in den Krieg auf Calliope gezogen waren, wusste ich, dass alle zehn seiner Schutzwachen mehr als zuverlässig waren. Nachdem ich in Trainingseinheiten und auf einigen diplomatischen Missionen Zeit mit ihnen verbracht hatte, musste ich zugeben, dass ich ziemlich begeistert war, dass von allen zehn Wachen ausgerechnet Hesidi und Ansid unserem Team zugeteilt wurden. Sie waren beide ruhig, aber äußerst effizient – nicht, dass die anderen das nicht waren, aber einem Mädchen sollte es ja wohl gestattet sein, Favoriten zu haben!
»Ich werde hier unten noch verrückt«, murmelte Bogdana und zeichnete mit ihren Zeigefingern imaginäre Kreise auf einen Glastisch.
Die anderen Draenir hatten sich in den anderen Kammern des Bunkers niedergelassen, ihre Nahrungsreserven für den Tag vorbereitet und ihre Waffen gereinigt. Während wir warteten, konnten wir nicht viel tun – unsere eigentliche Arbeit würde beginnen, sobald Araquiel aufwachte. Ich suchte die Karte auf dem Tablet nach einem anderen sicheren Ort auf Merinos und Umgebung ab, hauptsächlich, weil ich nicht wusste, ob wir hier noch viel länger sicher wären. Ohne einen gesunden Araquiel könnten wir allerdings nirgendwo hingehen. Andernfalls hätte er uns verlangsamt.
»Araquiel wird in ein paar Stunden wach sein«, sagte ich. »Dann haben wir alle Hände voll zu tun.«
Bogdana schüttelte den Kopf. »Das reicht mir nicht. Ich bin aus einem bestimmten Grund hierhergekommen«, antwortete sie. »Ich muss meinen Teil dazu beitragen.«
»Es ist nicht sicher da draußen«, murmelte Hesidi. »Wir haben vereinbart, uns bis zum Einbruch der Dunkelheit von der Oberfläche fernzuhalten. Wir haben diesen schwarzen Mineralstaub über das gesamte Lager verteilt. Wir haben alles andere niedergebrannt. Wir können nicht da draußen sein, wenn Vollkommene auftauchen.«
»Wir müssen ja nicht alle da oben sein«, gab Bogdana zurück.
»Was willst du tun? Die Hermessi kontaktieren?«, fragte ich und Bogdana nickte. »Wir werden es tun, wenn die Luft dort oben definitiv rein ist.«
Bogdana stand vom Tisch auf und verließ den Raum. »Ich kann nicht so lange warten. Ich gehe zum Fluss.«
»Warte, Bogdana, nein!«, rief ich ihr nach, aber sie hörte nicht auf mich.
Ich stöhnte frustriert und bedeutete Hesidi, mit mir zu kommen, und Ansid, zurückzubleiben.
»Meine Befehle waren eindeutig!«, protestierte Ansid.
»Ich weiß, aber ich brauche dich bei den Draenir, nur für den Fall«, antwortete ich.
Es gefiel ihm nicht, aber er tat, worum ich ihn bat, und ging zu Rakkhan und den anderen in Araquiels Zimmer. Ich rannte durch den schmalen Korridor und die Leiter hinauf zur Oberfläche, Bogdana hinterher, die es bereits nach draußen geschafft hatte.
»Bogdana, warte!«, schrie ich.
Als Hesidi und ich oben ankamen, stand Bogdana dort ganz still und starrte auf das ehemalige Lager. Alle Zelte waren entfernt worden und alles war auseinandergenommen und in mehreren Haufen tiefer im Dschungel verbrannt worden. Die Flammen wurden mit mehreren Draenir-Substanzen kontrolliert – Brandschutzmittel in flüssiger und kristalliner Form, die verstreut waren, um ihre Ausbreitung zu verhindern.
Außer uns war niemand da draußen. Die Stille war schon fast gruselig.
Insekten zirpten in den Bäumen und Vögel trällerten melodiös in der Dunkelheit der Nacht. In der Ferne hörte ich Wasser rauschen – es kam von dem Fluss, an dem Draven und sein Team ursprünglich gelandet waren. Echos von Überschallknallen erklangen über mir, aber ich maß ihnen nicht zu viel Bedeutung bei. Die Vollkommenen waren zu weit weg, um uns sehen zu können oder eine Bedrohung darzustellen. Und der schwarze Mineralstaub verbarg unsere Spuren.
»Was ist los?«, fragte ich Bogdana.
Sie antwortete nicht sofort, aber als sie es tat, spürte ich die Veränderung in ihrer Stimme. »Ich muss ans Wasser.«
»Warum?«, fragte ich.
Sie sah mich über die Schulter an. Da war etwas an ihren bernsteinfarbenen Augen, das mich schaudern ließ – eine transzendierende Kälte, die ich nie zuvor in ihr gesehen hatte. Vielleicht war sie auch schon immer da gewesen, aber ich hatte sie gerade erst bemerkt.
»Die Träume, die die Elfen hier auf Strava hatten und in denen die Hermessi eine Rolle spielten, traten immer in der Nähe des Wassers auf. Insbesondere die Höhlenepisode mit Douma, von der du mir erzählt hast. Etwas daran sagt mir, dass der Wasser-Hermessi stärker ist als die anderen«, erklärte Bogdana. »Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht genau warum, aber ich kann spüren, wie das Wasser an mir zieht. Der Fluss ruft nach mir.«
»Kontaktieren dich die Hermessi vielleicht?« Ich seufzte und versuchte zu begreifen, was Bogdana mir erzählte.
»Wir werden es nicht erfahren, wenn wir nicht etwas ausprobieren«, sagte Bogdana.
Diesmal donnerte einer der Überschallknalle etwas zu nahe, um noch ignoriert zu werden, und sowohl Hesidi als auch ich runzelten die Stirn.
»Wie wäre es, wenn wir wieder runtergehen und später am Nachmittag dem Ruf des Flusses folgen?«, grummelte Hesidi, packte mit beiden Händen den Zermalmer und hielt ihn dicht an seine Brust.
Ich hatte Bowie in der Tasche – der kleine Tech-Ball war ohne die Kommunikation wenig nützlich gewesen, aber er war trotzdem voller dienlicher Informationen über Strava. Diesmal trug ich ihn bei mir, falls wir wieder eine Verbindung hätten, sobald Elonora und ihr Team mit den Kommunikationstürmen fertig waren.
Bogdana schritt durch das leere Lager und ging direkt zum Fluss. Hesidi und ich folgten ihr, wenngleich nur zögerlich. Bogdana schien die Aussicht, dass Vollkommene uns finden könnten, überhaupt nicht zu stören. Sie bewegte sich leichtfüßig durch den Wald, als würde das Wasser sie tatsächlich rufen.
»Sind wir sicher, dass wir das Richtige tun?«, fragte mich Hesidi leise.
»Wir sind uns über vieles nicht sicher, fürchte ich. Aber wenn eine unserer Elfen so entschlossen ist, die Hermessi zu kontaktieren, wie können wir sie dann aufhalten?«, antwortete ich mit einem halben Lächeln.
Als wir den Fluss erreichten, wurde alles noch seltsamer. Bogdana watete ins Wasser.
»Ich könnte ihr Bewusstsein beeinflussen«, sagte Hesidi.
Doch ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich möchte sehen, was sie tut. Außerdem hat sie recht. Dafür haben wir sie schließlich hergebracht. Es wird für uns hier draußen niemals absolut sicher sein.«
Die alte Elfin ging weiter, bis das Wasser ihr zur Brust reichte. Trotz der starken Strömung wankte sie nicht. Stattdessen nutzte sie ihre Elementar-Fähigkeit und manipulierte das Wasser, sodass es sich in Richtung Flussmitte bewegte. Trotz der Tiefe stand Bogdana ganz ruhig da und ihr Oberkörper befand sich über der Oberfläche. Dann schloss sie die Augen und ließ sich auf dem Rücken treiben.
Die Strömung erfasste sie jedoch nicht. Sie floss an ihr vorbei, das kristallklare Wasser streichelte ihre Seiten. Das sich verdunkelnde Mondlicht warf seinen bläulichen Ton über alles, begleitet von einer Milliarde funkelnder Sterne. Hesidi und ich blieben am Ufer stehen und beobachteten sie aufmerksam. Die Sonne würde bald aufgehen.
»Sollten Vollkommene auftauchen, werden wir sie eliminieren, ohne Fragen zu stellen«, flüsterte ich. »Was auch immer Bogdana tut, es ist wichtig. Ich habe das im Gefühl. Wir müssen Unterbrechungen vermeiden.«
Hesidi nickte. »Ja. Ich fühle es auch. Hier geschieht etwas Seltsames.«
Die Haare in meinem Nacken stellten sich wie elektrisiert auf. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Mein Atem ging unregelmäßig. Es war, als würde uns die Schwerkraft stärker nach unten ziehen, und wir mussten uns anstrengen, um ihr zu widerstehen. Die Luft fühlte sich dicht und aufgeladen an, während Bogdana auf dem Wasser trieb, ohne abzudriften.
Ich schnappte nach Luft, als Blasen an die Oberfläche kamen und Dampf zum Mond aufstieg. Der Fluss kochte! Bogdana schien das nichts auszumachen, aber ich machte mir trotzdem
Sorgen um ihr Wohlergehen. Wir kannten die Hermessi nicht gut genug, um ihnen in irgendeiner Form zu vertrauen.
»Das kann nichts Gutes bedeuten«, murmelte Hesidi, die Augen fest auf Bogdana gerichtet.
Eine Bewegung am Himmel über uns erfüllte mich mit Furcht. »Schlimmer kann es nicht werden«, sagte ich.
Sechs Lichtpunkte kamen auf uns zu und kreuzten den Himmel wie Blitze, die auf uns herabschossen. Vollkommene. Sie hatten uns entdeckt. Hesidi und ich bereiteten unsere Waffen vor und richteten sie auf die ankommenden Feinde.
Zu diesem Zeitpunkt war es zu spät, um die Unsichtbarkeitspaste zu verwenden. Außerdem hatte Bogdana mich überrumpelt, als sie den Bunker so schnell verlassen hatte, und ich hatte keine Gelegenheit gehabt, mir noch etwas von der Paste zu schnappen, als ich ihr hinterherlief.
»Je weniger Lärm wir machen, desto besser«, fügte ich hinzu und zielte auf den Blitz, der die Gruppe anzuführen schien. Wer auch immer es war, er oder sie würde in einer Sekunde Asche sein.
Keiner von uns kam jedoch zum Schuss. Arme aus Wasser schossen aus dem Fluss, lang, geschmeidig und entschlossen, alle Vollkommenen zu vernichten. Ich hörte einen von ihnen aufschreien, als einer der Arme gegen ihn schlug, ihn dann ganz verschluckte und in den Fluss saugte.
Auch die anderen hatten keine Chance. Einer nach dem anderen wurden sie im kochenden Fluss gefangen und ertranken, während Bogdana still und scheinbar ungestört darin trieb.
»Ich bin schockiert«, krächzte Hesidi. »Was zum Teufel ist hier gerade passiert?«
Ein paar Sekunden vergingen in absoluter Stille, während wir zusahen, wie die Körper der Vollkommenen weiter den Fluss hinuntergezogen und vom wütenden Wasser in Richtung Meer gebracht wurden. Dies war das Werk eines Hermessis. Es war wie bei Doumas Ertrinken, nur um ein Vielfaches ungeheuerlicher.
»Der Wasser-Hermessi«, brachte ich hervor. »Er ist Bogdanas Ruf gefolgt, denke ich.«
»Was wird mit ihnen passieren?«, fragte Hesidi.
Ich konnte Bogdana nicht aus den Augen lassen. Die Vollkommenen waren längst verschwunden, vom Strom mitgerissen und wahrscheinlich in den Ozean geworfen worden. Weniger als eine Sekunde später hörten wir beide das Wasser grollen und stöhnen, kilometerweit von uns entfernt. Ich konnte nicht sagen wie, aber ich wusste tief in meinem Herzen, dass das, was ich hörte, der Ozean war, wütend und wogend, als er die Vollkommenen weiter von uns wegtrieb.
»Sie werden weit weg sein, wenn wir hier fertig sind«, sagte ich.
»Du hast da so ein Gefühl, oder?«, sagte er in Anlehnung an das, was ich vorher gesagt hatte. Ich musste kichern.
»Ja. Ja, genau.«
»Vielleicht hast du auch eine Verbindung zu den Hermessi«, antwortete er.
»Schon möglich. Oder vielleicht habe ich in diesem Leben einfach nur genug erlebt, um etwas Seltsames zu erkennen, wenn ich es sehe. Es spricht mich wahrscheinlich auf eine besondere Weise an.« Ich seufzte und konzentrierte mich wieder auf Bogdana. »Sie bewegt sich nicht.«
»Aber sie ertrinkt auch nicht.«
Die Wasserarme waren verschwunden, aber der Fluss sprudelte und toste immer noch über die großen Felsen in Richtung Meer. Ein Schauer lief mir den Rücken hinab. Was ich gerade gesehen hatte, schockierte mich nicht mehr, aber es machte mir schon Angst. Ich lebte lange genug, um zu wissen, dass die Natur mehr als beängstigend sein konnte, wenn sie ein entsprechendes Ventil fand.
In diesem Fall schien sie nur einen Fluss und eine Elfin gebraucht zu haben, die alt und vertrauensvoll genug war, um die pure, reine Kraft der Hermessi zu kanalisieren. Bevor ich meinen Gedanken zu Ende denken konnte, erstarrte ich beim Anblick von Bogdana, die unter dem Wasser verschwand.
»Mist«, hauchte ich.
Hesidi war bereit, hineinzuspringen und ihr nachzuschwimmen, als sie ein paar Meter von uns entfernt an die Oberfläche zurückkehrte. Bogdana war bei Bewusstsein und atmete schwer, als sie zu uns zurückwatete. Sobald sie das Ufer betrat, zitterte sie wie Espenlaub.
Ich packte sie an den Schultern und musterte sie von Kopf bis Fuß. »Geht es dir gut?«
»Ich … ich glaube schon«, murmelte sie und wischte sich dann mit bloßen Handflächen das Wasser aus dem Gesicht.
»Wie machst du das?«, fragte Hesidi aufrichtig neugierig.
Bogdana hingegen schien verwirrt zu sein. »Wie mache ich was?«
Jetzt war Hesidi an der Reihe, verwirrt zu gucken. Stirnrunzelnd sah ich Bogdana an. »Die ganze Wassersache. Du warst mittendrin.«
»Was für eine Wassersache?«, fragte Bogdana und blinzelte, als sie versuchte, sich zu erinnern.
»Bogdana, was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?«, fragte ich und beschloss, von vorn zu beginnen.
Sie dachte eine Weile darüber nach und starrte mich dann ein paar Sekunden an.
»Wir waren am Fluss und ich wollte hineingehen. Ich meine, ich persönlich wollte nicht hineingehen. Aber ich konnte fühlen … wie mich das Wasser anzog. Der Fluss wollte, dass ich hineingehe«, sagte sie.
»Also erinnerst du dich nicht daran, dass das Wasser um dich herum praktisch gekocht hat?« Ich schnappte nach Luft.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, sobald ich ins Wasser ging, wurde alles zu einem bunten Dunst. Ich konnte nichts hören. Ich glaube, ich habe irgendwann das Bewusstsein verloren. Ich hatte den gleichen Traum, den Ben und Vesta beschrieben haben. Jeder, den ich kannte, jeder, den ich nicht kannte, sie waren alle da. Und die Erde verschluckte sie. Sie spaltete sich Schicht für Schicht auf und fraß uns alle auf. Ich denke definitiv, dass dies das Werk der Hermessi war.«
»Was du nicht sagst!«, rief Hesidi.
Bogdana konnte sich nicht erinnern, was gerade passiert war. Und das war nicht einmal der seltsamste Teil dieses ganzen Zwischenfalls.
»Bogdana, du bist in den Fluss gegangen und in der Mitte getrieben. Das Wasser kochte, Dampf stieg auf«, sagte ich. »Sekunden später kamen Vollkommene hier angeflogen, die uns wahrscheinlich von weitem bemerkt hatten. Wir hielten unsere Waffen bereit, um sie zu vernichten, aber dann ließ der Fluss Arme aus Wasser wachsen und zog sie alle zu sich hinunter. Ich denke, er hat sie weit, weit weggerissen.«
Die alte Elfin konnte das Ausmaß dieses Ereignisses nicht vollständig begreifen.
»Arme aus Wasser?«, murmelte sie und zog eine Augenbraue hoch.
»Oh ja. Arme. Richtige Arme«, sagte Hesidi.
Trotz seines schwarzen Militärhaarschnitts und seines markanten Kinns war sein Gesicht, in dem seine grünen Augen verwirrt dreinblickten, zum Brüllen komisch. Der Mara war von Kopf bis Fuß mit Tätowierungen bedeckt, von seinem Nacken bis zu seinen Handgelenken und Knöcheln, die größtenteils von seiner schwarzen Tunikauniform aus Leder verdeckt wurden. Er war ein netter Kerl mit ernsthaftem Gesichtsausdruck, der dem Maragebieter der Weißen Stadt diente. Er hatte schon viele seltsame Dinge gesehen, doch eine Kreatur wie Bogdana und ihre Beziehung zu den Hermessi schaffte es immer noch, ihn in Staunen zu versetzen.
»Hah«, witzelte Bogdana. »Wer hätte das gedacht? Das ist interessant.«
»Ja, so könnte man es wohl nennen«, grummelte ich, erschüttert von neuen Überschallknallen, die sich uns näherten.
Merinos sollte angesichts der rauen Klimabedingungen schwer zu erreichen sein. Unsere Anwesenheit hier blieb jedoch nicht länger unbemerkt. Ich hatte das Gefühl, dass Araquiels Verschwinden noch mehr von seinen Leuten anziehen würde. Unseren Standort zu verlegen war eindeutig die bessere Option.
»Ich bin wirklich fassungslos … ich wusste nicht, dass ich das tun kann …«, sagte Bogdana, die immer noch nicht ganz in der Realität angekommen war, während ihr Blick auf einem Baum in der Ferne verweilte.
»Ich bezweifle, dass du es getan hast«, antwortete ich. »Dies war wie beim Vorfall mit Douma. Das Wasser hatte plötzlich ein Eigenleben. Es hat die Vollkommenen fast mühelos getötet. Dann kehrte es einfach in seinen normalen Zustand zurück. Aber bevor die Vollkommenen überhaupt auftauchten, reagierte der Fluss bereits auf deine Anwesenheit. Wenn irgendjemand von uns Zweifel an deiner Verbindung zu den Hermessi hatte … nun, glaub mir, das hier dürfte jegliche Zweifel ausräumen. Du bist definitiv unsere beste Verbindung zu den Hermessi, und du musst weiter daran arbeiten, bis wir sie dazu bringen, mit uns zu sprechen.«
»Wie Ramin es mit Harper gemacht hat, nicht wahr?« Bogdana seufzte.
Ich nickte. »Ja. Genau so.«
»Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, Rose. Ich werde versuchen, mich daran zu erinnern, was passiert ist. Oder zumindest, ob ich während dieser … Trance etwas gehört habe, weil ich kein besseres Wort dafür finde. Es ist jedoch gut zu wissen, dass mein und Lumis Verdacht bestätigt wurde. Die Elemente sind hier auf Strava definitiv mächtig. Vielleicht haben wir Erfolg«, antwortete Bogdana und wandte sich wieder dem Fluss zu.
Dies war der richtige Moment, um das zu tun, worüber Hesidi und ich bereits gesprochen hatten, lange bevor wir den Bunker verlassen hatten. Ich gab ihm einen unauffälligen Schubs. Sein Mundwinkel zuckte und er trat einen Schritt vor, um sich direkt neben Bogdana zu stellen.
Seine Augen nahmen einen bernsteinfarbenen Glanz an, ein schwaches Funkeln, als er eine Hand auf Bogdanas Schulter legte und sanft drückte, was sie dazu veranlasste, ihn anzusehen. Ein Blick genügte, um ihre volle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ob sie wollte oder nicht. Bogdanas Bewusstsein stand nun unter dem Einfluss eines mächtigen Mara, dessen Sumpfhexentattoos nicht nur die Fähigkeiten des Gebieters, sondern auch seine eigenen verstärkten.
Lumi und ich hatten uns zuvor darauf geeinigt, zu versuchen, in Bogdanas Bewusstsein einzudringen. Wir waren überzeugt, dass Bogdana immer noch etwas verschwieg – ob die Informationen nützlich waren oder nicht, würden wir nicht wissen, wenn sie es uns nicht sagte. Da sie frisch aus der Hermessi-Trance zurückgekehrt war, war Bogdanas Geist verletzlich.
Sie stand still, während Hesidi ihren Blick festhielt.
»Bogdana, es gibt etwas, das du uns über deine Zeit hier auf Strava nicht erzählt hast«, sagte er mit unheimlich schroffer und leiser Stimme. Alle Maras klangen anders, während sie in jemandes Bewusstsein eindrangen, aber keiner ließ mein Blut so gerinnen wie Hesidi.
»Ich habe die Wahrheit gesagt …«, flüsterte Bogdana, ihre Augen leer und ihre Miene ausdruckslos.
»Nein, das hast du nicht. Nicht die ganze Wahrheit«, antwortete Hesidi. »Erzähl mir alles, Bogdana. Du hast etwas ausgelassen. Ich muss wissen, was es ist.«
Sie nickte langsam. Aber was aus ihrem Mund kam, haute mich fast um.
Wir hatten bereits alle Hände voll zu tun, da es eindeutig an der Zeit war, unser Lager zu verlegen. Die Vollkommenen würden den Bunker früher oder später entdecken und das konnten wir nicht riskieren – nicht mit nur ein paar Draenir, zwei Schutzwachen, zwei Fehlerhaften und einer alten Elfin zu unserer Verteidigung. Die anderen hatten immerhin Ortungszauber mitgenommen, um uns zu finden.
Mit unserem neuen Wissen über Bogdana konnten wir sie nicht mehr aus den Augen lassen. Vor allem konnten wir sie unter keinen Umständen an Ta’Zan oder die Vollkommenen verlieren. Bogdana was das entscheidende Element in diesem Kampf, nicht nur wegen ihrer Verbindung zu den Hermessi.