Elonora
N evis, Raphael und ich trennten uns von unserer Gruppe und packten zwei Zermalmer und jeweils zehn zusätzliche Kapseln ein, nachdem wir den Rest bei Kailani und den anderen gelassen hatten. Der Plan war, unentdeckt zu bleiben. Also nahmen wir die meisten Rationen des Unsichtbarkeitszaubers mit, die Kailani mühsam, eine Portion nach der anderen, in kleinen Beuteln auf Algenbasis verpackt hatte, damit wir sie einfach kauen und schlucken konnten.
Wir ließen Varga zurück, der ein Wächter-Auge auf Cassiel haben sollte, während dieser den letzten Turm deaktivierte, das Befehlssystem des Kommunikationsblockers, den Ta’Zan entwickelt hatte, um uns davon abzuhalten, mit irgendjemandem zu sprechen, selbst über Telluris.
Hunter, Kailani, Kallisto und die vier Draenir blieben am Rande des Dschungels auf dem hohen, aber abgeflachten Hügel mit Blick auf das Kolosseum, und gelegentlich prüfte Varga auch unseren Fortschritt. Da unsere Kommunikationsgeräte bis jetzt immer noch nicht funktionierten, konnte nur Varga feststellen, ob es uns gut ging oder nicht.
Raphael ging mit Nevis und mir direkt dahinter durch den dichten Dschungel. Diesmal liefen wir jedoch nicht zu Fuß, sondern sprangen von Baum zu Baum, kletterten auf Äste und hinterließen so wenig Spuren wie möglich auf dem Boden.
»Vollkommene patrouillieren in den Gebieten rund um das Kolosseum«, sagte Raphael und sprang zum nächsten Baum.
Diese Methode des Versteckspiels belastete meine Muskeln, aber nicht genug, um mich zu ermüden. Allerdings fiel es mir schwer, meinen Blick von Nevis abzuwenden. Er war groß und schlank, aber seine Muskeln waren straff und fest, und seine Beweglichkeit nahm mir den Atem, als er von einem Ast baumelte und dann zum nächsten aufstieg wie einer der langarmigen Primaten, die wir durch die Bäume hatten schwingen sehen. Er wirkte wie eine steife, geradezu starre Person, war aber eher leichtfüßig – es war, gelinde gesagt, beeindruckend, ihm zuzusehen. Verdammt, manchmal musste auch ich mich etwas mehr anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten!
»Was ist mit den verstoßenen Fehlerhaften?«, fragte ich.
»Niemand bleibt auf dieser Insel«, antwortete Raphael. »Die Vollkommenen haben sie alle vertrieben.«
»Warum patrouillieren sie dann auch auf dem Boden?«, grunzte Nevis, als er sich an einem gewundenen Ast hochzog und sich dort für ein paar Sekunden niederließ und darauf wartete, dass ich aufholte.
»Euretwegen. Nun, unseretwegen.« Raphael kicherte.
»Also erwartet Ta’Zan uns«, schloss ich.
»Sagen wir einfach, er schließt die Möglichkeit nicht aus, dass zumindest einige von uns versuchen, näher an das Kolosseum heranzukommen und die Gefangenen irgendwie zu befreien«, erklärte Raphael. »Inzwischen weiß er wahrscheinlich, dass ich auch mit euch zusammenarbeite und dass er Douma verloren hat. Ich denke, er wird die Sicherheit verstärken, je näher wir ihm kommen.«
»Vielleicht sollten wir dann den Unsichtbarkeitszauber verwenden«, schlug Nevis vor.
Raphael nickte. »Gib uns noch fünfhundert Meter. Soweit ich mich erinnere, halten diese kleinen Packungen Magie jeweils nur zwei, vielleicht drei Stunden an.«
»Das ist richtig, ja«, antwortete ich. »Es wäre sinnvoll, sparsam damit umzugehen und die meisten von ihnen für die Zeit vor Ort sowie für den Weg nach draußen aufzubewahren.«
Mein Herz pochte, meine Sinne waren geschärft und meine Muskeln angespannt. So weit hatte ich mich noch nie in feindliches Gebiet vorgewagt. Das erste Kolosseum, das ich gesehen hatte, als wir Kallisto kennengelernt hatten, befand sich mehr am Rande der besetzten Inseln, näher an Noagh als an diesem Ort. Ich hörte jedes einzelne Geräusch, jedes Knistern und Knallen, jedes raschelnde Blatt und jeden brechenden Zweig. Ich achtete auf jedes Flackern und jeden Schatten, der durch den Wald um uns herum huschte oder flatterte.
Ich konnte sehen, warum Ta’Zan diese Insel für sein Kolosseum ausgewählt hatte. Die Strände waren schmal und felsig, von dicken, schroffen Felsschichten unterbrochen, perfekt für das ungezähmte Meer in dieser Gegend, das wild an die Ufer schlug. Der Wald war tief, mit hohen und knorrigen Bäumen, die sich verzweigten und eine dichte Krone über dem Wald webten, die das Sonnenlicht blockierte. Auch in diesen Gegenden gab es viele Raubtiere – von der großen Art, wie türkisfarbene Tiger und Bären mit blauem Rücken, eine Vielzahl von riesigen, giftigen Schlangen und tödlichen Insekten. Letztere waren mir am unangenehmsten, weil man sie erst sehen konnte, wenn es zu spät war.
Zugegeben, da ich ein Vampir bin, konnten sie mich nicht töten, aber ein einziger Biss von einer grünen Springspinne reichte aus, um mich für ein paar Stunden auszuschalten. Nevis hatte nicht so viel Glück. Dieselben Kreaturen könnten für ihn tatsächlich tödlich sein. Aber die feindliche Fauna war zu diesem Zeitpunkt unsere geringste Sorge.
Versteckt in einer der Baumkronen hielten wir alle ein paar Minuten inne. Wir hatten alle die Stimmen gehört, also warteten wir leise, während sie an uns vorbeiliefen. Raphael hatte uns etwas von seinem krassen schwarzen Mineralstaub gegeben, um uns alle halbe Stunde damit abzureiben und unseren Geruch zu verbergen. Die Vollkommenen waren immer noch die Alpha-Raubtiere von Strava und ihr Geruchssinn war scharf. Diesmal war es sehr knapp, aber wir konnten nicht umkehren.
Unser Ziel war jetzt weniger als sechshundert Meter entfernt.
Vier Vollkommene gingen zu unserer Linken über die Lichtung – ein kleiner Fleck mit grünem Gras, der den ganzen Tag über in goldenen Sonnenschein getaucht war.
»Ich sage dir, wenn er sie nicht bis zum Ende des Tages fängt, wird Vater in den höheren Kreisen an Ansehen verlieren«, sagte einer der Vollkommenen.
Ich blickte sofort zu Raphael. Er runzelte die Stirn und wusste genau, wovon sie sprachen. Hoffnung flammte in seiner Aura auf. Ich hatte das Gefühl, dass dieses Gespräch für uns von größtem Interesse war, deshalb spitzte ich die Ohren.
»Er hat sie jetzt so oft entkommen lassen. Ich habe gehört, dass Abaddon ebenfalls eine Enttäuschung war«, sagte der zweite Vollkommene.
»Das ist eine Untertreibung!«, antwortete der Dritte und verdrehte die Augen. »Dieser Typ ist ein Tier ohne jegliche Vernunft, er hat überhaupt keine Selbstbeherrschung, da hilft auch die gute Nase nicht mehr.«
Der vierte Vollkommene kicherte. »Alle wissen, dass er sich von Douma den Kopf hat abhacken lassen.«
»Jetzt haben die Fremden auch Raphael auf ihrer Seite«, seufzte der erste. »Ich weiß nicht, wo das alles enden wird, das schwöre ich.«
»Warum sollten sich unsere Leute ihnen anschließen? Ich verstehe das nicht. Sie sind doch nichts als nerviges Ungeziefer, Schwächlinge, denen eine Lektion erteilt werden muss«, sagte der Zweite.
Das brachte mein Blut zum Kochen und ich hätte nichts lieber getan, als seine Existenz mit meiner Waffe in die Vergessenheit zu befördern und ihm genau zu zeigen, was für ein nerviges Ungeziefer ich war. Raphaels Grinsen fiel mir jedoch auf. Das Gespräch der Vollkommenen schien ihm zu gefallen. Es musste etwas bedeuten, vielleicht war es sogar etwas Positives für uns.
»Raphael ist nicht dumm. Und wir alle wissen, dass Douma eine unserer Klügsten ist. Es muss einen Grund geben, warum sie beschlossen haben, die Fremden vor Vater zu schützen«, sagte der vierte Vollkommene.
»Vielleicht haben sie ihnen die Köpfe abgeschnitten und die Speicherchips entfernt«, mutmaßte der Zweite und löste damit Schock und Ekel bei seinen Gefährten aus. Er zuckte mit den Schultern angesichts ihres entsetzten Stöhnens. »Was? Sie haben Amane dabei! Diese kleine Schlange weiß alles über uns!«
»Trotzdem können wir uns nicht so leicht gegen Vater wenden. Komm schon!«, antwortete der erste Vollkommene. »Er hat uns alles beigebracht, das ist richtig, aber es muss etwas in uns sein, ein Körnchen Loyalität, das von Anfang an existierte und das man nicht einfach auslöschen kann. Ich weigere mich, das zu glauben.«
»Wie du willst«, sagte der Zweite. »Die Fremden sind zu gefährlich, um draußen in der Wildnis gelassen zu werden. Vater hat Cassiel ausgesandt, um sie zu holen. Wenn er es auch nicht schafft, dann weiß ich nicht, was wir tun sollen.«
Der dritte Vollkommene lachte leicht. »Der verbesserte Vollkommene. Als ob wir nicht gut genug wären! Bist du damit einverstanden? Hast du gesehen, wie er ihn uns vorgeführt und ihn die nächste Stufe unserer Entwicklung genannt hat? Unserer Entwicklung! Wir entwickeln uns nirgendwohin weiter! Er schafft gerade einen verbesserten Vollkommenen. Bevor du dich versiehst, werden wir wie die Fehlerhaften rausgeworfen.«
»Mach dich nicht lächerlich«, zischte der Erste. »Vater liebt uns. Er würde so etwas niemals tun. Ich glaube, er hat Cassiel nur geschaffen, um die Fremden zu fangen.«
Ihre Stimmen wurden gedämpfter, als sie sich von uns entfernten, aber ich konnte immer noch Fetzen ihrer Unterhaltung hören. Die Hälfte von ihnen war wütend über unsere Beharrlichkeit, ihnen immer wieder zu entwischen, und sie hatten ihr Vertrauen in Araquiel und Abaddon verloren und waren auch Cassiel gegenüber skeptisch. Die anderen beiden waren eher über Cassiels Rolle in dieser Vollkommenen-Gesellschaft und um ihren eigenen Status besorgt, falls Ta’Zan beschloss, mehr von seiner Sorte herzustellen.
Der Keim der Zwietracht schien auf mysteriösen Ebenen zu wirken, und ich musste darüber lächeln. Die Vollkommenen – oder zumindest einige von ihnen – davon zu überzeugen, mit uns und nicht gegen uns zu arbeiten, schien kein unmögliches Unterfangen mehr zu sein. Vielleicht mussten wir ihnen nicht die Köpfe abschneiden und ihre Speicherchips herausreißen, damit sie uns zuhörten. Vielleicht mussten wir nur dieses Feuer nähren, das Cassiels Schöpfung entzündet hatte.
»Ta’Zan hat einen großen Fehler gemacht, als er Cassiel erschuf«, murmelte Nevis und starrte verständnislos auf die kleine Lichtung. Die Vollkommenen waren verschwunden und sie hatten uns überhaupt nicht gespürt. Das musste man diesem schwarzen Mineralstaub lassen: Er funktionierte definitiv.
»Er hat auch einen großen Fehler gemacht, als er die Vollkommenen kreierte«, antwortete Raphael. »Er hätte bei seinen Fehlerhaften bleiben sollen. Er hätte den Rest seines Lebens auf einer abgelegenen Insel verbringen und die Draenir in Frieden und am Leben lassen sollen. Er hat etwas begonnen, das er niemals rückgängig machen kann, das garantiere ich.«
Raphael klang wütend. Seine Aura brannte hell und rot.
»Warum sagst du das?«, fragte ich.
»Sobald wir die Meinung der Vollkommenen geändert haben, wird er die größte Enttäuschung seines Lebens erleiden. Er muss die harte Wahrheit schlucken. Er ist kein Gott. Und er kann uns nicht kontrollieren. Dafür werde ich sorgen.« Raphael seufzte.
Ich erkannte in diesem Moment, dass er umso entschlossener wurde, etwas zu verändern und Ta’Zans Mission zum Scheitern zu bringen, je mehr Zeit er mit uns verbrachte. Und ich konnte Raphael nur allzu gut verstehen. Auch wenn er nie die Wahl gehabt hatte, waren all diese Vollkommenen dennoch sein Volk, seine Brüder und Schwestern auf dieser Welt. Sie hatten eine faire Chance verdient, ihr Leben zu leben, aber zuerst musste ihre Meinung geändert werden.
Als wir die Fünfhundert-Meter-Marke erreichten, verbrauchten wir die erste Runde der Unsichtbarkeitszauber-Rationen. Jeder Beutel enthielt eine rote Granatlinse, ähnlich der, die unsere Leute auf Neraka verwendet hatten, um Personen, die den Unsichtbarkeitszauber benutzt hatten, weiterhin sehen zu können. Selbst mit Lumis verbessertem Zauber funktionierten die Linsen, sodass wir uns weiterhin sahen, auch wenn wir für alle anderen unsichtbar waren.
Das Diamantkolosseum erhob sich jetzt majestätisch vor uns. Millionen klarer Facetten brachen das Sonnenlicht in unzählige scherbenförmige Farbreflexionen. Vollkommenen-Wachen patrouillierten oben – ich konnte sie jetzt deutlich sehen.
Sie trugen keine Waffen. Sie brauchten sie nicht. Ihre Krallen, ihre Geschwindigkeit und ihre Stärke sowie ihre gestohlenen genetisch übernatürlichen Fähigkeiten waren mehr als genug, um Feinde bei Bedarf zu vernichten. Wir hatten ihre Fähigkeiten mehr als einmal mit voller Wucht zu spüren bekommen.
Als ich in das Gebäude blickte, konnte ich ungefähr tausend von ihnen herumlaufen sehen. Sie hatten ihre eigenen Zimmer und gemeinsamen Wohnräume, Schulungs- und Lernräume, Labors und Lagerräume sowie alles andere, was sie für ein bequemes Leben hier brauchten. Ich hielt den Atem an, als ich mit meinem Wahren Blick direkt in die Kuppel sah, die sich gegenüber von der Stelle, an der wir angehalten hatten, sanft erhob.
»Nevis. Sie sind da drin«, flüsterte ich. Meine Sicht verschwamm, Tränen schossen mir in die Augen. Ich konnte sie alle so deutlich erkennen. »Grandma Claudia … Grandpa Yuri … Derek und Sofia, Xavier und Vivienne … alle. Oh, Jovi und Anjani auch! Dmitri wird wieder aufatmen können, wenn wir es ihm sagen.«
»Ist einer meiner Leute da drin?«, fragte er mit gerunzelter Stirn und leiser Stimme.
Ich nickte. »Ich zähle … zwanzig, aber es könnte noch mehr geben. Es sind eine Menge Leute, weißt du«, antwortete ich. »Genau wie wir vermutet haben. Ungefähr sechshundert.«
»Das sind viele für einen Ausbruch«, murmelte Raphael und hob eine Augenbraue.
»Wir müssen klug vorgehen«, sagte ich grinsend.
»Uns muss etwas Geniales einfallen«, gab Raphael zurück.
Ich zwinkerte ihm zu. »Ich vertraue darauf, dass du einen brillanten Plan hast.«
Die Temperatur sank wieder. Ich musste mich noch mit dieser Dynamik zwischen Nevis und mir auseinandersetzen, in der Raphael immer noch das dritte Rad am Wagen war. Nevis gefiel es offensichtlich nicht, dass Raphael und ich uns so gut verstanden, und er mochte das Augenzwinkern und das Lächeln nicht – obwohl das alles harmlos war. Ich hatte dem Vollkommenen bereits klargemacht, dass zwischen uns nichts laufen würde, allerdings hatte ich Nevis bisher noch nicht davon erzählt.
»Siehst du ihre Shuttles?«, fragte Nevis und wechselte das Thema.
»Richtig, das Wichtigste zuerst. Heute befreien wir niemanden«, grummelte Raphael.
Ich konzentrierte mich wieder auf das Kolosseum und zoomte zu den Forschungslabors auf der Westseite des Gebäudes. Es waren bereits vier Raumschiffe im Bau, aber ihre Unterseiten waren noch offen und eine Vielzahl von Drähten und Schaltkreisen hing heraus. Die ganze Halle war leer – wahrscheinlich, weil es noch früh am Morgen war. Ich nahm an, dass die Fehlerhaften-Ingenieure erst später kämen. Ich nahm so viele Details wie möglich auf, da ich wusste, dass mein Wahrer Blick mir möglicherweise nicht so gut dienen würde, sobald ich mich im Kolosseum befand. Die Art und Weise, wie die Diamantwände geschnitten waren, beeinträchtigte ihn irgendwie – daran erinnerte ich mich noch von meinem ersten Besuch im Kolosseum in der Nähe von Noagh.
»Dies ist der ideale Moment, um zuzuschlagen«, sagte ich. »Es ist niemand da und sie haben vier Schiffe, die darauf warten, zerstört zu werden.«
Raphael grinste. »Im westlichen Sektor, richtig?«
»Mm-hm.«
»Siehst du auch einen Computer in dieser Halle?«, fragte er.
Ich nahm mir Zeit und überprüfte jeden sichtbaren Zentimeter dieses Ortes, bis ich es entdeckte – ein Computersystem, das den größten Teil einer Wand mit Verarbeitungseinheiten, mehreren Glastastaturen und Dutzenden von Bildschirmen bedeckte.
Ich nickte erneut.
»Gut«, sagte Raphael. »Dorthin gehen wir. Jetzt ist es Zeit, runterzugehen.«
Wir sprangen vom Baum und landeten auf einer dünnen Schicht Laub. Hinter uns, ungefähr fünfzig Meter entfernt, patrouillierten Vollkommene. Vor uns befanden sich noch mehr von ihnen, die in Vierergruppen über die fünfhundert Meter Dschungel, die noch vor uns lagen, verteilt waren.
Wir rasten durch den Wald und liefen im Zickzack zum Kolosseum, um nicht auf Vollkommene zu stoßen. Ich hatte meinen Wahren Blick dauerhaft aktiviert und steuerte Raphael entweder nach links oder rechts, um ohne direkten Kontakt zu den Vollkommenen zum Kolosseum zu gelangen.
Einige von ihnen hörten Zweige unter unseren Stiefeln brechen, aber sie konnten uns nicht sehen. Andere nahmen einen schwachen Geruch wahr und versuchten, uns zu suchen, aber wir bewegten uns zu schnell und waren unsichtbar. Sie hatten keine Chance.
Als wir eine der Hintertüren des westlichen Teils des Kolosseums erreichten, wimmelte es im Dschungel vor frustrierten Vollkommenen, die uns unerbittlich verfolgten. Raphael streute noch etwas von seinem schwarzen Mineralstaub durch die Tür, nur um sicherzugehen.
»Ich kann dieses Zeug nicht so verschwenden«, flüsterte er. »Es ist schwer zu beschaffen.«
»Okay, was jetzt?«, fragte ich.
»Folgt mir«, antwortete er, stieß dann die schmale Diamanttür auf und ging hinein.
Wir folgten ihm, als er uns ins Erdgeschoss des Kolosseums führte. Der Anblick, der sich uns bot, war atemberaubend. Der Diamantbau sah von außen schon unglaublich aus, war aber von innen geradezu erhaben. Gebrochenes Sonnenlicht ließ alles in einem ätherischen Schimmer erstrahlen, der sich überall im Gebäude verstreute und in vielen verschiedenen Farben flackerte. Es war ein optisches Spektakel.
»Wow«, hauchte ich und bemerkte gleichzeitig etwas anderes mit meinem Wahren Blick.
Ich blieb eine Sekunde lang stehen und schaute durch eine der Wände. Ich konnte alles ganz deutlich erkennen. Dann kam mir ein Gedanke und ich entfernte meine rote Granatlinse. Wie ich vermutet hatte, war mein Wahrer Blick wieder fehlerhaft.
»Was ist?«, flüsterte Nevis, während Raphael nervös die Arme verschränkte, um seine Ungeduld auszudrücken.
»Ich glaube, die rote Linse hilft meinem Wahren Blick hier drinnen«, murmelte ich, setzte die Linse wieder auf und versuchte erneut, durch die Wand zu schauen. Es funktionierte! »Ich hatte keine Probleme, von außen nach innen zu schauen, aber hier drinnen klappt es nicht so gut.«
»Und der rote Granat behebt das«, sagte Nevis.
Ich nickte ihm kurz zu, bevor Raphael sich räusperte, um uns daran zu erinnern, dass wir noch einiges zu erledigen hatten. Wir folgten ihm tiefer ins Kolosseum.
Die Vollkommenen trugen weiße, seidige Tuniken, ähnlich denen, die wir bei Araquiel und seinem Team gesehen hatten. Die Outfits der Soldaten wurden von Metallplatten und Manschetten vervollständigt, sowie von juwelenbesetzten Armbändern, die die Ränge innerhalb der Vollkommenen-Armee zu signalisieren schienen. Soweit ich es beurteilen konnte, hatten sich die Hierarchien deutlich weiterentwickelt. Es gab jetzt mehr von ihnen. Ordnung, Rollen und Verantwortlichkeiten waren eine Voraussetzung für jede funktionierende Gesellschaft.
Die Fehlerhaften trugen hellgelbe seidene Tuniken. Sie machten einen mürrischen Eindruck und hielten den Blick auf den Boden gerichtet, während sie ihre täglichen Aufgaben verrichteten – sie reinigten die Diamantoberflächen, einschließlich der Wände und Böden, lieferten Lebensmittel und Vorräte in verschiedene Räume des Kolosseums und bedienten die Vollkommenen, so wie es von ihnen verlangt wurde.
Niemand bemerkte, dass wir dort waren, und ich erlaubte mir, etwas aufzuatmen. Dieser Unsichtbarkeitszauber war unser einziger Vorteil und ich betete zum gesamten Universum, dass Ta’Zan unser Geheimnis niemals entdecken möge. Meine Nerven waren weit über ihre normalen Grenzen hinaus angespannt und es würde nicht einfacher werden, je weiter wir uns voranbewegten.
Ganz im Gegenteil.
Wir hielten uns nah bei Raphael, als wir einen der Hauptflure überquerten und diversen Gruppen von Vollkommenen und Fehlerhaften auswichen. Raphael führte uns durch eine Reihe von Korridoren tiefer in den westlichen Teil, bis wir die Flughalle erreichten, die durch riesige, transparente Doppeltüren sichtbar war. Die Diamantwände verzerrten alles andere, aber mein Wahrer Blick enthüllte mir alles.
Es war niemand in der Halle. Nur vier Raumschiffe, ein riesiger Computer und viele Maschinen, strategisch günstig platziert.
Raphael ging zur Seite der Doppeltür und zeigte auf eine computergesteuerte Zugangsklappe. Ta’Zan hatte gelernt, seine wichtigsten Bereiche abzusichern, höchstwahrscheinlich nach dem Fluchtversuch der Gefangenen. Er hatte endlich erkannt, dass Wachen nicht genug waren, um jemanden in oder aus einem Raum herauszuhalten.
»Sie haben ihre Sicherheitsvorkehrungen verschärft«, murmelte er.
»Zugangsportale«, antwortete ich. »Es gibt wahrscheinlich einen Code. Ohne ihn können wir nicht hinein.«
»Ich nehme nicht an, dass du ihn weißt«, sagte Nevis zu Raphael, der ein Kichern unterdrückte.
»Ich fürchte, das ist nach meiner Zeit geschehen. Aber andererseits gibt es immer noch Option B«, murmelte er und machte sich bereit, auf das Bedienfeld einzuschlagen.
»Warte!«, zischte ich.
Er erstarrte und sah mich verwirrt an. »Was?«
»Warte«, wiederholte ich und schob ihn beiseite. »Lass uns warten und keinen Aufruhr verursachen. Es ist Morgen, wahrscheinlich kurz vor Arbeitsbeginn. Einer der Fehlerhaften, der für diese Halle verantwortlich ist, muss bald vorbeikommen und die Türen öffnen. Ich könnte versuchen, das Bedienfeld zu deaktivieren, aber das würde zu lange dauern.«
»Wie würdest du das überhaupt anstellen? Du kennst Magi-Tech nicht«, sagte Raphael.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich kenne den Magie-Teil nicht, aber ich verstehe genug von dem Tech-Teil, um zu wissen, dass sich dort Drähte befinden, die ich durchschneiden könnte, um das Türsystem zu deaktivieren. Wir könnten dann versuchen, sie aufzubrechen.«
Raphael stöhnte. »Ich warte lieber auf einen der Fehlerhaften. Oder vorzugsweise auf alle. Wir müssen sie sowieso erledigen. Es wird uns mehr Zeit verschaffen, wenn Ta’Zan von vorn anfangen muss, einschließlich der Zeit, die es braucht, bis andere Vollkommene verstehen lernen, wie Raumfahrt funktioniert.«
»Wir töten niemanden!«, flüsterte ich. »Wir können sie mitnehmen, ob sie mitkommen wollen oder nicht!«
»Meine Güte, du machst das komplizierter, als es sein muss. Wir führen hier Krieg, Lenny. Wir haben keine Zeit, um alle zu verschonen, denen wir begegnen.«
»Wir müssen uns die Zeit aber nehmen«, warf Nevis ein. »Wenn wir jemanden auf unsere Seite bringen wollen, sollten wir es zumindest versuchen.«
Raphael dachte einen Moment darüber nach, verschränkte dann die Arme und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Diamantwand, die direkt neben dem Bedienfeld stand.
»Gut«, grummelte er.
Es dauerte nicht lange, bis der erste Fehlerhafte auftauchte. Ungefähr zehn Minuten nachdem wir uns an der Doppeltür niedergelassen hatten, erreichte einer der Ingenieure mit einem computergesteuerten Glastablet den Gang. Die Vollkommenen, die an ihm vorbeikamen, grinsten ihn spöttisch an und einige machten ein paar Witze über sein türkisfarbenes Fell, aber den Fehlerhaften schien das nicht zu interessieren. Er war zu sehr damit beschäftigt, etwas auf seinem Tablet zu lesen.
Wir hielten den Atem an, als der Fehlerhafte an der Zugangsklappe stehenblieb und einen sechsstelligen Code eingab. Die Türen glitten zur Seite und er ging hindurch. Wir folgten ihm blitzschnell und erhielten schließlich Zugang zur Halle.
Sobald die Türen hinter uns geschlossen waren, breiteten wir uns in der Halle aus. Nevis blieb an der Tür stehen, seine Waffe im Anschlag und entsichert. Ich blieb eine Weile an dem Fehlerhaften kleben und beobachtete ihn, als er mit der Inspektion der vier Schiffe begann. Raphael ging direkt zum Computer – soweit ich sehen konnte, hatte er alle Kenntnisse, die er brauchte, um das System von innen zu sabotieren.
Ich drückte den Lauf der Waffe gegen den Nacken des Fehlerhaften, gerade als er vor dem vierten Schiff anhielt. Er stockte und seine Aura explodierte fast gelb vor Angst.
»Beweg dich nicht und sprich nicht, wenn ich es dir nicht sage«, sagte ich mit fester Stimme. »Wenn du auch nur daran denkst, dich zu wehren, werde ich nicht zögern, dich zu töten.«
»Was … was willst du?«, jammerte er.
»Deine Kooperation. Wenn du uns hilfst, wirst du weiterleben. Drücke ich mich klar genug aus?«, fragte ich.
Er nickte. »Bitte tu mir nicht weh. Ich werde dir helfen. Du bist eine der Fremden, oder?«
»Ja. Ihr habt meine Großeltern in dieser Diamantkuppel gefangen und ich bin hier, um sicherzustellen, dass ihr nicht mehr von unseren Leuten gefangen nehmt oder tötet«, antwortete ich.
Raphael fluchte leise. »Die Baupläne sind gesperrt«, sagte er. »Ich brauche sie.«
»Vier, fünf, sieben, sieben, vier, zwei«, antwortete der Fehlerhafte.
Raphael tippte den Code ein und erhielt Zugriff auf alle Dateien, die er brauchte. »Gut Fehlerhafter. Ich werde alles löschen, aber zuerst muss ich sehen, wer diesem Programm zugewiesen wurde«, murmelte er und las die Dateien durch.
Ich warf einen Blick über meine Schulter. Nevis stand leise an der Tür, seine eisblauen Augen waren auf mich gerichtet. Ich wusste doch, dass ich einen kalten Schauer auf meinem Rücken gespürt hatte … offensichtlich aus gutem Grund. Wann immer er mich ansah, spürte ich es am ganzen Körper. Wir starrten uns eine Weile an, bis der Fehlerhaften-Ingenieur mich aus meinen Gedanken riss.
»Warum kann ich dich nicht sehen?«, fragte er und betrachtete sein verschwommenes Spiegelbild auf der Seite des vierten Raumschiffs.
»Ich bin unsichtbar«, antwortete ich. »So haben wir es unentdeckt hier hereingeschafft.«
»Was für eine Technologie ist das?«, fragte der Fehlerhafte atemlos.
»Es ist Magie, mein pelziger Freund!«, witzelte Raphael und blickte auf die Computerbildschirme. »Oh … das ist nicht gut …«, fügte er stirnrunzelnd hinzu.
»Was? Was ist es?«, fragte ich. Alarmglocken läuteten in meinem Hinterkopf.
»Wir werden damit nicht allzu viel Zeit gewinnen«, antwortete Raphael, »selbst wenn wir die Ingenieure mitnehmen. Es gibt eine, die wir nicht anfassen können.«
»Amal«, nickte der Fehlerhafte. »Ja. Ihr könnt mich und meine vier Kollegen töten, aber Amal … niemand kommt an sie heran. Sie überwacht das Projekt und inspiziert jeden Mittag unsere Fortschritte. Sie wird bei ihrem Besuch immer von Vollkommenen begleitet.«
»Wir wollen dich nicht töten«, murmelte ich in das Ohr des Fehlerhaften und sah dann Raphael an. »Lösch alles. Jede einzelne Datei und jeden Datenstring. Dann werden wir die Schiffe zerstören und die Ingenieure mitnehmen«, fügte ich hinzu und konzentrierte mich wieder auf den Fehlerhaften. »Bitte sag mir, dass die anderen vier vor Amal hier sein werden. Das Universum schuldet uns so viel.«
Er nickte. »Sie müssten jetzt jede Minute kommen.«
»Gut. Du kommst mit uns«, antwortete ich.
Er schien die Entscheidung für einen Moment zu verarbeiten, während Raphael alle Daten über die Raumschiffe löschte – Entwürfe, Messungen und Berechnungen, physikalische und chemische Formeln, Projektionen und Sterndaten, alles, woran die Fehlerhaften gearbeitet hatten, um vier kleinere Versionen unserer Raumschiffe zu bauen.
»Auf der rechten Seite der Tür befindet sich unter der Zugangsklappe ein Schalter«, sagte der Fehlerhafte. »Dreh ihn nach oben. Er wird den Blick in die Halle für Außenstehende verdecken. Wir benutzen ihn die ganze Zeit, wenn wir hier sind. Niemand wird etwas ahnen und kein unbefugtes Personal darf eintreten.«
»Das ist praktisch«, sagte Nevis und drückte dann wie angewiesen den Schalter.
Die Diamantwände verdunkelten sich und verdeckten die Sicht vollständig. Wir alle hörten, wie ein zweites Schloss an den Türen aktiviert wurde.
»Dies ist insbesondere für die Ingenieure eine Sicherheitsmaßnahme«, antwortete der Fehlerhafte. »Wir verwenden sie, wenn wir streng geheime Arbeiten ausführen müssen. Vater hat das klargemacht: Er möchte nicht, dass jemand sieht, was wir hier tun. Ich halte das für richtig, wenn auch aus anderen Gründen. Unser Wissen über diese Raumschiffe ist wahrscheinlich das Einzige, was die Vollkommenen und sogar Vater selbst davon abhält, uns zu töten.«
»Hör zu, wenn du uns hilfst, verspreche ich dir, dass niemand je wieder versuchen wird, dich zu töten oder dein Leben zu ruinieren«, sagte ich zu ihm.
Und ich meinte es ernst.
Ta’Zans Scharade hatte viel zu lange gedauert. Es war Zeit, sein Imperium zu Fall zu bringen, einen Diamanten nach dem anderen.