S
o weit, so gut, zumindest von unserer Seite aus.
Ich hielt mich jedoch in Alarmbereitschaft. In der Gegend wimmelte es nur so von Vollkommenen und wir liefen jederzeit Gefahr, entdeckt zu werden. Varga überflog erneut das Kolosseum und suchte wie besessen nach seiner Schwester. Jetzt, wo er sie wiedergefunden hatte, würde er sie nicht mehr aus den Augen lassen. Niemals.
»Sie sind im westlichen Teil«, murmelte er von dem stabilen Ast, auf den er geklettert war, um eine bessere Sicht zu haben. »Sie haben es gerade in die Flughalle geschafft. Ich zähle vier Schiffe, unsere drei Leute und einen Fehlerhaften«, fügte er hinzu und kicherte dann leise. »Meine Schwester ist knallhart. Sie hat eine Waffe auf den Kerl gerichtet.«
»Wie um alles in der Welt kannst du sie sehen, wenn sie unsichtbar ist?«, fragte Kallisto.
Varga drehte den Kopf, damit wir die rote Linse bemerkten, die er über sein rechtes Auge gelegt hatte. Hunter grinste ihn verschmitzt an.
»Mann, ich liebe Lumi jetzt noch mehr als vorher«, sagte er.
»Gut zu sehen, dass es zumindest einen von uns gibt, dem diese Frau keine Furcht einflößt«, murmelte Varga und brachte mich zum Lachen.
»Was hast du für ein Problem mit Lumi?«, fragte ich.
Varga zuckte die Achseln. »Ich habe kein Problem mit ihr. Aber ich werde mich in ihrer Nähe wahrscheinlich immer ein wenig unwohl fühlen, egal was sie sagt oder tut.«
»Warum?«, fragte Hunter.
»Ich weiß nicht, Mann. Sie hat etwas an sich. Vielleicht ist es die Tatsache, dass sie seit über zehntausend Jahren lebt. Oder die Art und Weise, wie sie es geschafft hat, Jahrtausende zu überleben, während sie in einem nerakianischen Keller eingesperrt war und ihre Seele allmählich von Dämonen und Maras gefressen wurde, um sich dann ruckzuck wieder zu erholen und die Magie der Sumpfhexen bis zu dem Punkt wiederherzustellen, an dem sie sogar eine Auszubildende aufgenommen hat«, fügte er hinzu und zeigte auf mich. »Oder vielleicht sind es ihre Augen. Sie sind so … komisch. Versteh mich nicht falsch, ich schätze sie, aber ich finde sie trotzdem gruselig.«
Ich schüttelte den Kopf, amüsiert über Vargas Aussage. »Du kennst sie eindeutig nicht so gut wie ich. Sie mag herzlos und kalt wirken, ist es aber nicht. Die Zeit, die sie in nerakianischer Gefangenschaft verbracht hat, hat sie geprägt. Das ist alles.«
»Okay, ich weiß immer noch nicht, wie du Elonora mit ihrem Unsichtbarkeitszauber von hier aus sehen kannst«, stöhnte Kallisto und kratzte sich an den Schuppen in ihrem Nacken.
»Mit dem roten Granat können wir jeden sehen, der den Unsichtbarkeitszauber benutzt«, erklärte ich ihr. »Wir haben viele von diesen Linsen im Hilfspaket von Calliope erhalten. Es ist ein kleiner Fehler in der Magie der Sumpfhexen, nehme ich an. Die Mineralzusammensetzung des roten Granats enthält etwas, das den Unsichtbarkeitszauber umgeht. Wir haben es mit allen bekannten Versionen des Zaubers versucht – der alten, der Version der Nerakianer und dieser aktualisierten Ladung von Lumi.«
Kallisto hielt inne und starrte Varga eine Weile an. »Magie ist etwas Unglaubliches«, flüsterte sie. »Ich kenne die Alchemie nur von Magi-Tech und sie ist bei Weitem nicht so komplex wie das, was ihr mir bisher gezeigt habt.«
»Und doch ist etwas drin, das es geschafft hat, unseren Tarnzauber zu umgehen«, murmelte ich.
Hunter seufzte. »Ganz zu schweigen vom interplanetaren Zauber. Sie müssen einen Weg gefunden haben, sie abzufangen, wenn wir Dravens Nachrichten nicht erhalten haben.«
»Äh … Leute? Ich glaub, es gibt Ärger«, rief Varga plötzlich und blickte in die entgegengesetzte Richtung.
Ich sprang sofort auf die Füße, weil ich mir bereits denken konnte, wovon er sprach.
»Cassiel?«, fragte Hunter und stand auf.
Varga nickte und seine Augen schimmerten golden, als er tief in den Wald bis zum letzten Kommunikationsturm blickte. »Er hat die Wachen niedergeschlagen und ist auf halbem Weg, die Stromkreise zu unterbrechen. Aber er hat Gesellschaft bekommen.«
»Verdammt. Wie viele sind es?«, fragte ich.
»Etwa zwei Dutzend«, sagte Varga.
Hunter, Kallisto und ich sahen uns an und kamen alle zu dem gleichen Schluss.
»Er wird sie nicht alle töten können, ohne noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen«, schloss ich. »Wir müssen ihm helfen.«
Die vier Draenir-Jungen – Airis, Stephon, Klavis und Kemp – versammelten sich um uns und hielten ihre Waffen fest. Ich sah sie entschuldigend an.
»Geht nicht zu nah ran«, sagte ich zu ihnen. »Ihr habt unsere physischen Vorteile nicht.«
»Es ist in Ordnung«, antwortete Stephon. »Wir können aus gut fünfzehn Metern Distanz schießen.«
»Gut, dann geht zu den Bäumen um den Turm«, wies Hunter sie an.
Das ließen sie sich nicht zweimal sagen und rannten durch den Wald. Varga, Kallisto, Hunter und ich folgten ihnen und sprangen über Wurzeln und spitze Felsen, um den letzten Kommunikationsturm zu erreichen. Trotz Raphaels anfänglicher Vorbehalte war Cassiel unglaublich hilfreich gewesen. Im Nachhinein wäre es vielleicht besser gewesen, wenn einer von uns mit ihm gegangen wäre, aber wir hatten uns auch vorgenommen, unsere Gruppen nicht unnötig zu trennen. Wir hatten bereits Elonora, Nevis und Raphael allein gehen lassen.
Rein theoretisch hätte Cassiel diesen Turm allein bewältigen können. Aber keiner von uns hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass mehr Feinde am Boden auftauchen könnten.
»Jemand muss die anderen über die Türme informiert haben«, sagte Hunter, während wir weiter rannten. »Wir alle wussten, dass es nur eine Frage der Zeit war.«
»Es gefällt mir trotzdem nicht. Es wäre so schön gewesen, wenn nur dieses eine Mal alles reibungslos gelaufen wäre«, sagte ich verärgert.
Mein Blut rauschte bereits in meinen Kopf. Meine Nerven lagen endgültig blank und ich konnte fühlen, wie ich in eine Spirale negativer Gefühle rutschte – wobei Wut die vorherrschende Emotion war. Ich hatte nicht viel Zeit gehabt, richtig zu meditieren und meine Verbindung zum Wort zu stärken, und das machte einen großen Teil meiner Nervosität aus. Es fühlte sich wie eine verpasste Gelegenheit an, meine Leute und mich irgendwie zu retten.
Die Zauber kamen immer noch in Worten, die ich später nicht mehr verstehen oder an die ich mich nicht erinnern konnte, sporadisch und ohne jegliche Konsistenz. Es war, als wäre ich eine Sklavin des Wortes, das mir hin und wieder einen Zauberknochen hinwarf – genug, um mich aus Schwierigkeiten herauszuholen, aber nicht klar genug, um tatsächlich zu lernen und es zu meistern. Das Wort vertraute mir noch nicht voll.
Ich konnte jeden der Zauber aus den drei Bänden der Sumpfhexen ausführen, aber diese Art von Magie hatte noch so viel mehr zu bieten – einen scheinbar endlosen Ozean von Wissen, der immer in meiner Nähe war, aber dennoch nie nah genug, um ihn zu berühren.
Als wir den letzten Kommunikationsturm erreichten, verstanden wir den Ernst unserer Lage.
Cassiel kämpfte allein gegen zwei Dutzend Vollkommene. Obwohl sein Können bemerkenswert war, konnte er sie nicht alle töten. Sie bewegten sich zu schnell und zogen sich zurück, wenn er zu nahe kam. Sie arbeiteten auch zu zweit, nur um es ihm schwerer zu machen. Soweit ich es beurteilen konnte, hatten sie ihn überrascht.
Die Draenir waren bereits oben in den Bäumen und richteten ihre Waffen auf die Vollkommenen. Es war jedoch schwierig zu zielen, da die Bastarde ständig in Bewegung blieben. Varga, Kallisto und Hunter nahmen ihre Positionen ein und schalteten die Zermalmer ein.
Cassiel kämpfte sowohl am Boden als auch in der Luft gegen sie und schoss wie ein Blitz umher. Zwei Köpfe rollten schließlich zu Boden, aber es waren noch so viele dran. Er brauchte unsere Hilfe.
Bevor ich zielte, um die Vollkommenen abzuschießen, streckte ich eine Hand aus und kramte in meinem Gehirn nach dem Marionettenzauber. Ich hatte ihn vorher bereits ohne große Schwierigkeiten eingesetzt. Ich könnte es wieder tun, vorausgesetzt, das Wort half mir.
»Komm schon«, murmelte ich. »Bitte hilf mir.«
Als würde es auf meine Bitte reagieren, durchbohrte mich eine sengende Energie, ähnlich wie eine Sonneneruption. Ein unsichtbarer Puls schoss aus meiner Handfläche. Er traf einen der Vollkommenen in der Luft und umwickelte ihn. Ich riss meine Hand zurück und zog den Bastard nach unten. Er landete mit einem schmerzhaften Knall auf dem Boden und Kallisto eilte hinüber, um ihm den Kopf abzuschneiden.
Er konnte ihrem Hieb ausweichen, aber er sah meine Zermalmer-Kapsel nicht kommen. Als er sich in Asche verwandelte, zog das die Aufmerksamkeit der anderen Vollkommenen auf sich. Sie schienen hin- und hergerissen zwischen Entsetzen und Erstaunen, aber es reichte wohl noch nicht aus, um sie davon abzuhalten, was sie taten.
»Denk dran, wir haben nicht genug Kapseln!«, schrie Hunter und stellte seine Waffe auf Kugeln um. Er feuerte zwanzig Schüsse in die kämpferische Wolke der Vollkommenen über ihm.
Sechs von ihnen kamen herunter, aber nur für einige Momente, dann standen sie schon wieder alle und griffen uns stattdessen an. Zumindest hatte Cassiel nun weniger Vollkommene auf einmal zu bewältigen – was gleichzeitig bedeutete, dass mehr Köpfe auf den Boden fielen. Die Draenir sollten nur eingreifen, wenn sie keine andere Wahl hatten.
Ich hatte selbst alle Hände voll zu tun und schaffte es, einen Vollkommenen mit einem Betäubungszauber zu lähmen, während ich einen anderen mit einer Flut von Kugeln zurückwarf. Ein dritter kam auf mich zu, zu schnell, um zu reagieren. Ich war in diesem Sekundenbruchteil völlig angreifbar er hätte mich locker erledigen können. Mein Herz setzte für einen Moment aus, als ich spürte, wie sich Feuer in meiner Brust ausbreitete.
Ich habe ein ganz mulmiges Gefühl dabei.
Bevor der dritte Vollkommene jedoch etwas tun konnte, war Hunter da und griff ihn im Rugbystil an. Sie rollten auf dem Boden, verkrallten sich ineinander und schlugen sich. Ich griff den ersten Vollkommenen an, der noch unter meinem Einfluss stand.
Varga schlich sich an ihn und den anderen heran und trennte mit zwei schnellen Hieben ihre Köpfe von den Körpern. Andere Vollkommene griffen ihn und Kallisto an, zwei von ihnen kamen gefährlich nahe. Wir hörten, wie die Waffen abgefeuert wurden.
Die Zermalmer-Kapseln trafen beide Vollkommenen im Bauch. Sekunden später waren sie zu Asche zerfallen. Ich warf einem der Draenir einen tadelnden Blick zu. Stephon hob eine Augenbraue.
»Hey, sie waren zu nah!«, schnappte er, schaltete dann seine Waffe wieder in den Kugelmodus und setzte seine Jagd nach Vollkommenen am Himmel fort.
»Oh nein«, murmelte Kallisto und sah auf.
Ich folgte ihrem Blick und fühlte, wie mein Magen sich verkrampfte. Weitere Vollkommene kamen. Einer unserer Gegner musste Unterstützung angefordert haben. Aber das war nicht das Schlimmste. Cassiel wurde offensichtlich langsam müde. Trotz seines überlegenen Designs hatte auch er seine Grenzen und die Vollkommenen hatten sie in den letzten zehn Minuten ständig herausgefordert.
Er war verletzt, konnte sich aber noch eine Weile behaupten. Ich wusste, dass wir nur noch ein kleines Zeitfenster hatten, um diesen Auftrag abzuschließen, und ich weigerte mich, an diesem Punkt ein Versagen zu akzeptieren. Ich war zu wütend, um noch mal von vorn anfangen zu wollen.
Hunters Knurren brachte meine Wirbelsäule zum Kribbeln. Mein Kopf flog herum und ich sah ihn am Boden liegen. Blut sammelte sich in einer Lache unter ihm. Seine Augen waren geschlossen. Die Wunde wäre tödlich, wenn ich die Blutung nicht stoppte. Dafür könnte es aber durchaus schon zu spät sein.
»Hunter, nein!«, schrie ich.
Der Vollkommene stand mit ausgestreckten Krallen über ihm und bereitete sich auf einen letzten verheerenden Schlag vor. Es blieb für niemanden Zeit, einzugreifen! Er stürzte auf Hunter zu und war nur noch Millisekunden davon entfernt, ihn zu töten.
Da rastete ich aus.
Die Angst, Hunter zu verlieren, war zu groß. Der Film riss und Dunkelheit verschluckte mich.
Hunter …