D
er Ritt war mehr als aufregend.
Ich war noch nie mit einem Drachen geflogen und das … nun, das war einfach nicht von dieser Welt.
Ich hielt mich an Ridans großen, steinharten Schuppen fest, mit Nevis direkt hinter mir, als der Drache über Stravas Tausende von Inseln flog. Es sah alles so anders aus von oben – weiße Sandflecken, üppige grüne Dschungel und steinige Berggipfel mit rötlichen Bäumen, die über die zerklüfteten Kämme verstreut waren. Jede Insel war ein mehrfarbiger Edelstein, fachmännisch auf einem türkisfarbenen Ozean montiert.
Je länger ich herabblickte, desto mehr wuchs meine Entschlossenheit, diese Welt vor der Zerstörung durch Ta’Zans Ambitionen zu retten. Wir hatten etwas Besseres verdient, ebenso die Draenir, die Fehlerhaften und sogar die Vollkommenen.
Nevis’ Körper fühlte sich warm und fest an meinem Rücken an, als er mich umarmte, während die Luft an uns vorbeiströmte. Ich war immer noch überrascht vom Kontrast zwischen seinem dhaxanianischen Wesen und seinem eigentlichen Körper – er war eine warmblütige Kreatur, die ihre Umwelt gefrieren konnte.
Für eine Strecke von ungefähr einem Dutzend Kilometern wurde es heiß und ich musste meine Kapuze, meine Maske und meine Schutzbrille anlassen, aber es dauerte nicht lange. Bevor wir uns versahen, flog Ridan durch eine seltsame Wettergruppe aus mehreren harten Wintern und sengenden Sommern, die von tobenden Stürmen und aggressiven Blitzen unterbrochen wurden.
Die Reise wurde schnell turbulent, als der Drache tapfer gegen alle möglichen Wetterbedingungen anflog. Amane saß direkt vor mir, umklammerte seine Schuppen mit beiden Händen und klebte praktisch an seinem Rücken wie eine Katze. Sie war gleichermaßen verängstigt und aufgeregt, ihr Herzschlag dröhnte in meinen Ohren.
Ich hörte sie nach Luft schnappen, wenn Ridan in die Höhe stieg oder plötzlich den Kurs änderte oder jenseits der Gewitterwolken wieder abfiel. Die Aussicht von dort oben war einfach atemberaubend. Lichtblitze kräuselten sich durch die kohlschwarzen Wolken.
»Es ist okay, Amane«, sagte ich zu ihr. »Wir werden alle heil ankommen.«
Andere Fehlerhafte und die Draenir machten verschiedene Geräusche, wenn sie sich fester halten mussten. Sie waren sicherlich nicht an solch ein übernatürliches Transportmittel gewöhnt. Raphael hingegen war überglücklich und hielt sich mit der linken Hand an nur einer Schuppe fest, während er die rechte in die Luft streckte. Er sah aus wie ein Cowboy bei einem Rodeo, verzaubert von dieser Erfahrung, und offensichtlich genoss er jede Sekunde.
»Es ist einfach nicht etwas, an das man sich leicht gewöhnt«, antwortete Amane, während Raphael vor purer, unverfälschter Freude quietschte.
»Ach was, du wirst dich dran gewöhnen!«, sagte ich.
Nevis’ Stimme klang in meinem Ohr und meine Muskeln versteiften sich im Handumdrehen. Ich konnte seinen heißen Atem selbst durch den Stoff meiner Kapuze noch spüren. »Dein Herz rast, Elonora.«
»Ich fliege auf dem Rücken eines Drachen. Da kann man unmöglich gleichmütig bleiben«, sagte ich, ohne den Mut zu haben, ihn über meine Schulter anzuschauen. Ich befürchtete, wenn ich den Kopf drehte, wären seine Lippen zu nah an meinen und ich würde der Versuchung nicht länger widerstehen können.
Sein Arm schlang sich um meine Taille und er hielt mich fest. Mein Herz raste nicht. Es fiel eine endlose Schlucht hinunter.
»Ich hab’ dich, mach dir keine Sorgen«, flüsterte Nevis.
Meine Güte, das hast du auf jeden Fall.
»Äh. Danke«, murmelte ich und entspannte mich dann allmählich in seiner Umarmung. Es fühlte sich unglaublich richtig an, als hätte die Natur uns beide so gestaltet, dass wir perfekt zusammenpassten. Mir ging es genauso, wenn wir nebeneinander schliefen.
In der Ferne erstreckte sich Merinos, bedeckt von tief hängenden Regenwolken. Es lag mitten in einem Sturmstreifen zwischen einer tropischen und einer eiskalten Blase. Von oben sah es so seltsam aus – diese eine Insel an der Grenze zwischen zwei Wetterzonen mit sonnigem Himmel auf der einen Seite und Winterwolken auf der anderen. Ich hatte diesen Teil von Strava bisher nur in der Teleskopfotografie gesehen, aber keines der Bilder wurde der verrückten Schönheit wirklich gerecht.
Mir wurde jedoch flau im Magen, als ich darüber nachdachte, was wir dort vorfinden würden.
Wir hatten über Telluris und unsere Ohrstöpsel versucht, Rose, Bogdana und die Schutzwachen zu kontaktieren, aber wir konnten sie nicht erreichen. Unsere einzige Hoffnung war es, so schnell wie möglich nach Merinos zu gelangen und das Lager zu erkunden. Ich hielt an der Hoffnung fest, dass das Kommunikationssignal in diesen Teilen von Strava angesichts des schrecklichen Wetters möglicherweise durcheinandergeraten war.
Je näher wir der Insel kamen, desto besser konnte ich sie sehen. Ich benutzte meinen Wahren Blick und hielt den Atem an, als ich zuerst den Fluss und dann den dichten Dschungel überflog. Da unten stimmte etwas nicht.
»Leute, das Lager. Es ist leer!«, rief Varga von hinten aus.
Auch er hatte das Gelände überprüft. Aber die Tatsache, dass das Lager leer war, war nicht das Schlimmste. Dünne schwarze Rauchfäden stiegen von mehreren sterbenden Feuern auf. Die letzten Zelte waren abgebaut worden und … Rakkhans Hütte war gesprengt worden und nur ein Haufen Schindeln und Nägel waren übrig.
Ridan landete am Fluss. Das Flattern seiner Flügel verursachte einen Luftzug, der stark genug war, um die Bäume in unserer Nähe vorübergehend zu biegen. Er flüsterte »Morfuris«, um sich und uns alle wieder sichtbar zu machen. Wir rutschten von seinem Rücken und eilten zum Lager, unsere Waffen im Anschlag, um auf das Schlimmste vorbereitet zu sein, – obwohl wir uns noch nicht sicher waren, was das war.
Meine Kehle war wie zugeschnürt, als wir das Lager des Stammes erreichten. Es war verwüstet worden und mehrere Draenir hatten ihr Leben verloren. Ihre Leichen lagen noch am Boden. Hier hatte ein Angriff stattgefunden, der jeden in Sicht töten sollte, aber es gab keine Spur von Rose, Wallah, Rakkhan, Bogdana, Leah, Samael, Herons Schutzwachen oder den anderen Draenir, die wir mit ihnen zurückgelassen hatten. Sie waren weg und ich konnte ihren Geruch nicht verfolgen. Ich sah Dmitri und Hunter an, unsere besten Fährtensucher, die gleichermaßen verwirrt waren und die Köpfe schüttelten.
»Sie sind weg«, sagte Hunter.
»Ja, aber wohin?«, fragte ich.
»Oh nein … meine Brüder und Schwestern …« Wanna trat vor und hockte sich neben einen der toten Draenir.
Sein Blut tränkte das feuchte Gras und den Boden darunter. Es begann zu regnen und das Wasser spülte alles fort. Aber der Regen konnte die Morde, die hier geschehen waren, nicht ungeschehen machen. Raphael und Douma bewegten sich durch das Lager und sahen sich stirnrunzelnd um, als sie die gesamte Szene analysierten.
Ben drückte erneut auf seinen Ohrstöpsel. »Verdammt, Rose, sag etwas! Bist du in Ordnung?«
»Wo ist sie? Ist sie nicht da?« Calebs Stimme dröhnte in meinem Ohr. Ich zuckte bei dem Geräusch zusammen und seufzte tief, bevor ich antwortete.
»Nein. Caleb, wir werden sie finden. Du weißt, dass wir es tun werden«, murmelte ich.
»Was ist passiert?«, fragte er.
Ich sah mich um, beobachtete, wie sich mein Team und unsere neuen Verbündeten ausbreiteten und jeden Stein und jedes Stück verkohltes Holz umdrehten, während sie versuchten, herauszufinden, was hier geschehen war. Am Rand des Lagers verstreut und bald vollständig vom Regen aufgelöst lag hier und da ein kleiner Aschehaufen.
»Ich glaube, dass Vollkommene das Lager angegriffen haben«, sagte ich. »Es gibt keine Anzeichen von Rose oder den anderen, aber mehrere Draenir sind gestorben. Ihre Körper wurden zurückgelassen.«
»Elonora, sieh dich um.« Dereks Stimme kam im Kommunikationssystem durch. »Siehst du Waffen am Boden? Schilde? Irgendetwas außer Toten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts.«
»Das könnte etwas Gutes bedeuten«, antwortete Derek. Caleb seufzte in der Leitung und verstärkte meine Angst. »Rose hat vielleicht mit dem Rest des Teams das Lager verlassen, nachdem sie gegen Vollkommene gekämpft haben.«
Varga und Ben hatten den größten Teil unseres Fluges hierher damit verbracht, Derek und Caleb auf den neuesten Stand darüber zu bringen, was wir getan hatten und was wir als Nächstes planten. Aber nichts davon war wirklich wichtig, bis wir herausfanden, was mit Roses Gruppe passiert war.
Raphael kehrte mit einem grimmigen Gesichtsausdruck vom Bunker zurück.
»Sie haben ihn auch zerstört«, murmelte er. »Sie haben den oberen Stein gesprengt, ihn dann heruntergeschoben und alles darunter zerquetscht. Der Bunker ist in sich zusammengebrochen.«
»War da irgendjemand?«, fragte ich, mein Puls raste.
»Nein. Und auch kein Geruch«, antwortete Raphael. »Wenn sie geflohen sind, haben sie wahrscheinlich den schwarzen Staub benutzt, um ihre Spuren zu verwischen.«
»Rose! Wo bist du?«, schrie Ben, kurz davor, die Kontrolle zu verlieren.
Ich konnte es ihm nicht übelnehmen. Ich hatte eine ähnliche Phase durchlaufen, als wir erfahren hatten, dass Varga auf einem der Raumschiffe war. Es war eine Mischung aus lähmender Angst und Trauer, die Ben verzehrte. Er drehte sich einige Male um, als würde Rose irgendwie aus dem Nichts auftauchen.
Draven legte eine Hand auf seine Schulter und drückte ihn, bis Ben seinen normalen Atemrhythmus wiedererlangte, und verhinderte damit eine Panikattacke.
»Wo könnten sie hingegangen sein?«, murmelte Kailani.
»Wir werden den Ortungsszauber verwenden«, antwortete Lumi. »Es ist kein Problem. Wir haben alles, was wir brauchen.«
»Warte. Was, wenn Ta’Zan sie gefangen genommen hat?«, fragte Douma. »Was, wenn dein Ortungszauber uns zurück zu seinem Kolosseum bringt?«
»Wir müssen wissen, wo sie sind!«, sagte Lumi. »Wenn sie im Kolosseum wären, würde Derek etwas darüber wissen. Nicht wahr, Derek?«
Derek atmete aus. »Käme darauf an, wann sie gefangen genommen wurden, gesetzt den Fall«, antwortete er. »Hier herrscht wegen der Explosionen und der zerstörten Schiffe ziemlich viel Aufregung. Aber es wurden keine neuen Gefangenen hergebracht.«
Bens Schultern sackten in einer Mischung aus Besorgnis und Erleichterung herab. Vielleicht steckte Ta’Zan nicht dahinter. Vielleicht war Rose noch irgendwo da draußen und wir mussten sie nur mit einem Ortungszauber finden.
Die schlimmsten Szenarien schlichen sich in meine Gedanken. Auch wenn ich mir Mühe gab, optimistisch zu bleiben, waren die Zerstörung des Lagers und der Tod der Draenir kein gutes Zeichen. Ganz im Gegenteil. Hier hatte etwas Schreckliches stattgefunden und Rose war mittendrin gewesen. Meine größte Sorge war, dass wir sie nicht erreichen konnten, nicht einmal über Telluris. Oder vielleicht waren unsere Anrufe gehört worden, aber sie konnte nicht antworten.
Mein Gesichtsausdruck musste meine Gefühle widerspiegeln, denn Nevis kam zum Rand des Lagers, wohin ich gegangen war, um einen Moment Luft zu schnappen. Ich konnte die dunklen Gedanken nicht abschütteln und ich konnte sie auch nicht verbergen. Ich fühlte mich wie ein geplatzter Ballon. Trotz der vier Draenir-Jungen, die wir verloren hatten, war ich mit großen Erfolgen zum blauen Felsen zurückgekehrt. Meine Seele war voller Energie gewesen und ich hatte mich bereit gefühlt, alles anzugehen, was als Nächstes käme. Aber dann verschwanden Rose und ihre Gruppe und hinterließen ein verwüstetes Lager, und ich konnte fühlen, wie die anfängliche Begeisterung wie Luft aus mir entwich.
»Geht es dir gut?«, fragte Nevis leise.
Ich blickte nach unten. Er kam näher, bis zu dem Punkt, an dem ich spürte, wie sein Atem meine Stirn kitzelte, aber ich hatte nicht den Mut aufzuschauen. Ich hörte, wie Holz- und Steinstücke umgedreht oder beiseite geworfen wurden, als unsere gesamte Delegation das Lager nach Anzeichen von Rose und den anderen durchsuchte.
Mit Daumen und Zeigefinger umfasste er mein Kinn und zwang mich, den Kopf zu heben. Unsere Blicke trafen sich und für einen kurzen Moment schien die ganze Welt zu verschwinden. Mein Herz schmerzte und Angst nagte an meinem Bauch und dennoch verlor ich mich in seinen eisblauen Augen.
»Ich muss kein Wächter sein, um zu verstehen, was du durchmachst«, sagte er. »Du kannst es einfach rauslassen, wenn du dich dadurch besser fühlst.«
Als würde ich auf einen Befehl reagieren, fielen jetzt Tränen über meine Wangen, ich zitterte und weinte. In den letzten Tagen hatte sich viel in mir angestaut und dieses Problem mit Rose fühlte sich wie ein Tritt in die Knie an, als ich es gerade endlich geschafft hatte, mich wieder aufzurappeln. Es war anstrengend, ständig diese Zyklen zu durchlaufen, und ich wusste nicht, wie viel ich noch ertragen könnte. Strava war mit mir offensichtlich noch nicht annähernd fertig.
Nevis rührte sich nicht. Gold schimmerte um ihn herum, als er allmählich seinen Kopf senkte, ohne seinen Blick von mir abzuwenden.
»Ich … ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Ich habe alles getan, was ich konnte, und … wann immer ich das Gefühl habe, dass die Dinge endlich besser werden … passiert wieder etwas Schlimmes«, brachte ich hervor.
Er warf einen kurzen Blick über die Schulter und schien zufrieden zu sein, dass niemand auf uns achtete. Meine Sicht war ohnehin verschwommen von den Tränen, und seine große Gestalt blockierte das meiste, was hinter ihm lag. Ich konnte ihn nur ansehen und spürte, wie ich innerlich zusammenbrach.
»Elonora, du weißt, wo wir sind. Du verstehst, dass wir uns im Krieg befinden und dass es Opfer geben wird«, sagte er.
»Sprich nicht so! Es geht um Rose, wir sind …«
»Sie ist nicht unbesiegbar«, unterbrach er mich, sein Griff um mein Kinn war fest und gleichzeitig unheimlich beruhigend. »Davon abgesehen ist sie nicht dumm. Wir werden sie finden. Aber ich … wir
verlassen uns darauf, dass du dich zusammenreißt, Elonora. Dein Team hängt von dir ab. Und ohne dich an meiner Seite bin ich nur die Hälfte wert.«
Ich blinzelte schnell und versuchte zu verarbeiten, was er gerade gesagt hatte. Sein Blick wurde weicher und seine Lippen verzogen sich langsam zu einem warmen Lächeln. Was auch immer zwischen uns geschah, ich wollte nicht, dass es aufhörte.
»Du bist der Prinz der Dhaxanianer. Ich bin nur … ich bin nur eine kleine Hybride, die endlich mal ein bisschen Action sieht, und ich fürchte, es ist mir schon alles zu viel«, antwortete ich.
»Du bist eine Prinzessin von Nimmerstrom, Elonora. Eine Kriegerin, eine Schwester und eine Freundin für viele Leute. Verkauf dich nicht unter Wert aufgrund eines flüchtigen Moments der Schwäche. Es ist unpassend für die Frau, die irgendwie mein Herz gefangen hat.«
Wieder setzte mein Verstand aus.
»Moment, wie bitte?«, fragte ich.
Nevis verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich dachte, du könntest Gefühle lesen.«
»Deine sind meistens chaotisch!«, sagte ich.
»Und jetzt? Was siehst du?«
Ich hielt den Atem an und stellte fest, dass wir zu diesem Zeitpunkt nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Er wartete nicht darauf, dass ich antwortete, sondern schloss die Distanz zwischen uns und küsste mich. Seine Lippen waren fast so weich wie Seide und mein Bewusstsein erlebte nun einen völligen Filmriss.
Meine Augen schlossen sich instinktiv und ich ergab mich ihm. Nevis vertiefte den Kuss, als ich meine Lippen öffnete. Er schmeckte und erforschte, während seine Hände sich auf meine Hüften legten und mich festhielten wie einen weichen Klumpen Modelliermasse im Vergleich zu seinem festen Körper. Es war nicht mein erster Kuss, aber es hatte sich noch nie so spirituell angefühlt.
Das Universum flatterte in einer Milliarde Farbstränge davon, zusammen kehrten sie zurück und hüllten uns ein, um unsere Wesen näher zusammenzubringen. Seine Finger zeichneten die Konturen meiner Taille nach, während meine Hände sich hoben und sein Gesicht umfassten – seine Haut fühlte sich so seidig an wie seine Lippen, und ich fragte mich kurz, wie es wäre, jeden Zentimeter davon zu küssen.
Er atmete schwer, als er sich zurückzog, sein Blick wurde dunkel vor Verlangen und … etwas anderes, etwas viel Tieferes und Intensiveres als alles, was ich jemals in einem anderen Wesen gelesen hatte. Dann holte mich die Realität unsanft wieder ein.
»Jetzt reiß dich zusammen und lass uns Rose und ihr Team finden«, sagte er fest, nahm meine Hand und zog mich zurück in die Mitte des Lagers, wo Lumi und Kailani einen Ortungszauber vorbereiteten.
Alles war so schnell geschehen und doch von solcher Tragweite gewesen, dass ich die letzten fünf Minuten meiner Existenz noch verarbeitete. Irgendwie hatte sich meine Seele mit der von Nevis verschlungen und beide weigerten sich, sich zu trennen. Warum sollte ich eine so interessante Verwicklung auch auflösen wollen?
Mein Herz sprang in meiner Brust, während ich versuchte, mich wieder auf die anstehende Aufgabe zu konzentrieren. Nevis hatte diese Art, mich völlig umzuhauen – ob er es absichtlich tat oder nicht, musste ich noch herausfinden. Aber ich musste zugeben, dass es mir gefiel.
Ben schnappte plötzlich auf der anderen Seite des Lagers nach Luft und blieb stehen.
»Rose.« Er atmete aus und sein Gesichtsausdruck entspannte sich zu einem breiten Lächeln. »Dir geht es gut!«
»Rose?« Caleb kam wieder durch meinen Ohrstöpsel. Wir waren auf dem gemeinsamen Kanal, aber ich konnte Rose nicht hören. Nur Ben konnte es. Sie hatten ihre eigene Kommunikationsleitung für Notfälle und ihre private Telluris-Verbindung.
Ben sah mich an. »Sie ist okay. Sie hat mich über Telluris erreicht«, sagte er.
»Hast du das gehört, Caleb?«, fragte ich.
»Ja. Ja, den Sternen sei Dank, aber warum kann ich sie nicht hören?«, fragte er.
»Sie ist vorsichtig«, sagte Ben. »Sie nutzt unseren Telluris, um zu kommunizieren. Die Ohrstöpsel funktionieren nicht so gut, wo sie ist.«
»Aber wo ist sie?« Lumi stöhnte.
»Sie … Sie sagt, wir sollen den Ortungszauber verwenden. Sie wurden angegriffen und mussten fliehen. Sie sind immer noch in der gleichen Wetterzone, aber ihnen gehen die Seriumbatterien aus. Ihre Technik funktioniert nicht und sie kennt ihre Koordinaten nicht«, erklärte Ben und wiederholte, was Rose ihm erzählte.
»Zumindest geht es ihr gut«, sagte Derek aus der Ferne. »Holt sie, Kinder. Wir werden hier ruhig im Hintergrund bleiben, während ihr tut, was ihr tun müsst.«
Lumi nickte langsam und bereitete den Ortungszauber weiter vor. Der Rest unserer erweiterten Gruppe versammelte sich um uns, während Nevis sich weigerte, meine Hand loszulassen. Etwas zwischen uns hatte sich definitiv irreversibel verändert. Er hatte mich vor so vielen Anwesenden geküsst. Ich hätte vermutet, die königliche Etikette würde ihn daran hindern, aber andererseits kämpften wir immer noch um unser Leben auf einem völlig fremden Planeten. Die alten Regeln galten hier nicht wirklich.
»Wie lange dauert es noch?«, fragte Hunter. »Ich würde gern zu meiner Schwester zurückkehren.«
»Immer langsam mit den jungen Pferden«, sagte Kailani und mischte die Zauberzutaten in einer Blechschale.
Lumi bedeutete Raphael, näher zu kommen. »Schnipp mit den Fingern und gib uns Feuer, hübscher Junge«, befahl sie.
Raphaels Augenbrauen hoben sich, aber er hatte keine Einwände. Stattdessen lächelte er verwirrt und ging auf ein Knie, bereit, die Zauberkomposition in Brand zu setzen.
»Sobald es geschieht, müssen wir Schritt halten«, sagte Kailani.
Wir waren alle bereit für einen Sprint. Ich hatte mich in genügend GAÜS-Trainings auf Missionen vor Ort vorbereitet. Ich hatte die Verfolgungsjagd auf dem Hindernisparcours gemeistert und war zuversichtlich, dass ich mit dem leuchtenden Licht problemlos Schritt halten konnte, sobald es startete und begann, Rose zu verfolgen.
Das Geräusch von Ästen, die brachen, ließ mein Blut gefrieren. Ich sah mich um und schluckte meine Entschlossenheit wieder herunter. Es war noch lange nicht vorbei, sondern es wurde immer schlimmer.
Cassiel kam aus dem Wald, aber er war nicht allein. Hinter ihm standen Hunderte von Vollkommenen, ein ganzes Bataillon, das ausgesandt worden war, um uns zu Fall zu bringen. Was Cassiel bei ihnen machte, wusste ich jedoch nicht.
»Was zum …«, platzte Raphael heraus, seine Augen weit aufgerissen, als er sie sah.
Wir wurden alle still, die Luft war plötzlich schwer und dick genug, um sie mit einem Messer zu zerschneiden.
»Was ist denn hier los?«, fragte Varga verwirrt von diesem unerwarteten Anblick.
Zugegeben, die Vollkommenen waren nicht die eigentliche Überraschung. Cassiel, der sie anscheinend anführte, gab Anlass zur Sorge und Verwirrung. Immerhin hatte er uns mit den Kommunikationsblockern geholfen. Viele Fragen schossen mir durch den Kopf, aber ich konnte für keine eine Antwort finden.
»Es ist viel einfacher, wenn ich euch alle zusammen habe. Und ich meine euch alle. Fremde und Verräter gleichermaßen«, sagte Cassiel mit einem zufriedenen Grinsen.
»Moment mal. Das ergibt keinen Sinn«, antwortete Raphael mit gerunzelter Stirn. »Du hast uns geholfen!«
Cassiel zuckte die Achseln, während sich die fünfhundert Vollkommenen in Gruppen von fünfzig hinter ihm aufstellten, ihre harten Augen auf uns gerichtet. Sie waren zu viele, sogar mit unseren Hexen und Drachen und den Zermalmer-Kapseln.
»Als ich dich und deine kleine Gruppe gefunden hatte, wusste ich, dass ich viel weiter kommen würde, wenn ich meine Karten richtig spiele und euch alle an einem Ort habe, anstatt euch einen nach dem anderen zu erledigen. Ich denke nur praktisch«, erwiderte Cassiel. »Außerdem habe ich eure raffinierten Waffen gesehen und dachte mir, es wäre besser, mehr Leute mitzubringen, um euch zu beschäftigen, damit ihr mich
nicht in Asche verwandelt. Ich mag überlegen sein, aber ich bin nicht unbesiegbar.«
»Das ist abgebrüht«, sagte Douma.
»Kumpel! Was zum Teufel! Wir haben Seite an Seite gekämpft!«, schnappte Varga.
Ein kurzer Blick auf Ben, dann auf Lumi und Draven, und ich wusste, dass wir das Gleiche dachten. Wir konnten nicht all diese Vollkommenen bekämpfen. Sie waren zu stark, zu schnell und zu viele – wir hatten keine Chance. Wir waren einer so großen Anzahl bei Weitem nicht gewachsen. Wir hatten unsere Lektion in Bezug auf die Größe der Armee aus dem Flottenangriff gelernt. Wir würden verdammt noch mal nicht wieder den gleichen Fehler machen.
»Das haben wir, aber ich beschloss, dass ich sicherer wäre, wenn ich mich von eurer Hexe fernhalte. Ich habe sicher nicht die Absicht, mich wie meine Vollkommenen-Kollegen und diese armen Draenir-Jungs verbrennen zu lassen, wenn sie das nächste Mal ausrastet«, antwortete Cassiel.
Ein Hammer schlug mir direkt in den Bauch, als ich Kailani einen Seitenblick zuwarf. Hunter, Varga, Raphael und ich waren die Einzigen, die bis jetzt gewusst hatten, dass Kailanis Blackout auch die vier Draenir in ihrem Team getötet hatte. Und jetzt wusste sie es auch und es zerriss sie.
Sie gab jedoch nicht nach. Sie weigerte sich, sich in dem möglicherweise wichtigsten Moment unserer Mission auf Strava von ihrer eigenen inneren Zerrissenheit leiten zu lassen.
»Ich würde jetzt sehr gern ausrasten«, murmelte Kailani und ein Muskel zuckte nervös in ihrem Kiefer.
»Also … du hast uns gefunden, du hast Zeit mit uns verbracht, du hast uns geholfen, und dann bist du verschwunden. Und jetzt bist du zurück, um was zu tun – uns zu Ta’Zan zu bringen?«, fragte ich.
Cassiel hob eine Augenbraue. »Nur, wenn ihr euch nicht zu sehr wehrt. Sonst werde ich keine Zeit mehr verschwenden und euch alle in Stücke sprengen.«
Dies war, gelinde gesagt, ein aufwändiger Trick von Cassiel gewesen. Er hatte uns völlig zum Narren gehalten, als er darum gebeten hatte, seinen Ortungschip entfernen zu lassen, damit er mit uns gegen Ta’Zan arbeiten konnte. Ich fühlte Übelkeit in mir aufsteigen und stand kurz vor dem Würgen, als ich das Ausmaß seines Betrugs und die Schwere seines Verrats begriff.
Sie verwandelte sich jedoch schnell in Wut und ich verspürte plötzlich den Drang, ihm den Kopf abzureißen. Ein solcher Verrat war nicht nur unverzeihlich. Er rechtfertigte in jeder Ecke dieses gesamten Universums ein Todesurteil. Eines musste ich ihm jedoch lassen: Er war definitiv den anderen Vollkommenen überlegen.
Er hatte uns schließlich alle reingelegt, oder?