Kailani
D er Ortungszauber kam jetzt offensichtlich nicht mehr infrage, da wir damit nur diese Bastarde zurück zu Rose und dem Rest der Draenir führen würden. Ich trat mit dem Fuß gegen die Schüssel, als ich aufstand, und warf Ben einen Seitenblick zu.
»Bitte Rose, dir so viele Details wie möglich über ihren Aufenthaltsort mitzuteilen«, flüsterte ich. »Wir werden diese Infos verwenden, um ihren Standort zu bestimmen.«
Ben nickte und murmelte dann etwas vor sich hin.
Cassiel trat einen Schritt zurück und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich muss sagen, es hat Spaß gemacht, mit euch Jungs und Mädels abzuhängen. Ihr seid nett und klug und so weiter, aber mein Vater will euch, tot oder lebendig, und ich beabsichtige, seinen Befehl auszuführen.«
»Dann bist du doch nur eine hirnlose Drohne«, zischte Elonora.
»Nun, das scheint mir besser als tot zu sein, wie ihr es bald sein werdet«, antwortete Cassiel.
Vesta trat näher an Ben heran und behielt die Vollkommenen im Auge, die nur auf ein Signal warteten, um uns anzugreifen.
»Wenn es jemals einen idealen Zeitpunkt gegeben hat, um die Hermessi um Hilfe zu bitten, dann ist es dieser«, sagte sie.
»Sie könnten reagieren«, antwortete Ben. »Ich könnte versuchen, sie zu kontaktieren.«
»Dazu ist keine Zeit«, sagte ich. »Wir müssen so weit wie möglich von hier weg.«
»Norden«, antwortete Ben. »Wir gehen nach Norden.«
Rose hatte ihm alle Informationen gegeben, die wir brauchten, um nach ihr und den anderen zu suchen, ohne fünfhundert Vollkommene mitzubringen. Mein Blut kochte. Ich hatte seit dem Blackout dieses mulmige Gefühl gehabt. Seit Cassiel meine größte Sorge bestätigt hatte, brannte ich nur noch mehr darauf, Ta’Zan und alle, die für ihn töteten, zu verbrennen, sie zu zerstören und jede Spur von ihnen aus diesem Universum zu entfernen.
Ich fühlte mich schrecklich, denn ich hatte das Leben von vier Draenir auf dem Gewissen. Ihr Blut klebte an meinen Händen, weil ich mich nicht hatte beherrschen können. Am schlimmsten war, dass meine Freunde es gewusst und es mir nicht gesagt hatten. Hunter hatte es gewusst. Und er hat es mir nicht gesagt.
»Cassiel, ich dachte, du wärst schlauer«, sagte Raphael. Sein Körper war angespannt und seine Muskeln zuckten vor Wut. »Ausgerechnet du weißt doch, worum es geht. Wir haben das durchgesprochen. Du hast alles verstanden, was ich gesagt habe. Es ergab einen Sinn für dich. Also, warum machst du das? Aus reiner Unterwürfigkeit?«
»Es ist viel mehr als das«, gab Cassiel zurück.
»Klär mich auf«, seufzte Raphael. »Weil ich echt ratlos bin! Was könnte dich dazu bringen, Ta’Zan zu gehorchen und Unschuldige zu verletzen? Glaubst du wirklich, dass das Universum euch gehört? Dass andere es nicht verdienen, frei zu leben?«
»Das ist reine Verzögerungstaktik«, sagte Cassiel. »Wir haben jetzt genug geredet.«
»Es ist Zeit, dass wir anfangen zu rennen«, murmelte Lumi. »Nach Norden. So schnell wie ihr könnt. Kailani, die Elfen und ich werden sie zurückhalten.«
»Elonora, geh mit den anderen! Mein Frost wird die Feinde verlangsamen«, sagte Nevis.
Sie kicherte nervös. »Das glaubst du doch im Traum nicht. Wir kämpfen zusammen.«
Elektrizität knisterte in der Luft, als sich unsere Leute rückwärts bewegten und sich allmählich auf den Sprint ihres Lebens vorbereiteten. Nevis, Lumi, Elonora, Douma, Dmitri, Amane, Hunter, Ridan, Vesta, Zeriel, Ben und ich nahmen eine Verteidigungsposition ein und waren bereit, es mit fünfhundert Vollkommenen aufzunehmen. Wir hatten nicht vor, zu kämpfen, sondern wollten sie nur zurückhalten und die Natur selbst beschwören, um sie wenn möglich davon abzuhalten, uns zu folgen.
Varga versuchte, zu Elonora zu gelangen, aber sie bedeutete ihm, zurückzubleiben. »Führe die anderen. Nimm Raphael mit.«
»Du machst Witze«, keuchte Raphael. »Ihr könnt sie nicht bekämpfen!«
»Das haben wir auch nicht vor«, antwortete Lumi und grinste von einem Ohr zum anderen, als sie Cassiel ins Visier nahm. Seine Aura zitterte leicht und eine Vielzahl von Farben flammte gleichzeitig auf. Tief im Inneren fürchtete er sie.
Er hatte mich zwar kennengelernt, aber er hatte noch nie eine echte, vollwertige Sumpfhexe gesehen.
»Vorwärts«, murmelte Cassiel.
Als ob ihre Fersen in Brand gesteckt wurden, griffen uns alle Vollkommenen auf einmal an. Die Hölle brach aus, während der größte Teil unserer Gruppe unter der Führung von Raphael und Varga in die entgegengesetzte Richtung davonschoss. Die Fehlerhaften, die Draenir, Avril, Heron und seine Schutzwachen, Draven, Serena und die anderen rannten, so schnell sie konnten. Der Boden bebte unter unseren Füßen und die Schritte der Vollkommenen donnerten durch den Dschungel.
Lumi und ich ließen eine Reihe klarer Energieimpulse los – Sumpfhexenmagie, die ich bereits aus den drei Zauberbänden kannte. Ich sah, wie sich die Luft kräuselte, als sie sich zu breiten, unsichtbaren Schilden ausdehnten. Die Vollkommenen prallten gegen sie. Hunter, Dmitri, Amane und Elonora feuerten die Zermalmer ab.
Nevis schlug mit den Fäusten auf den Boden. Der dickste Frost, den ich je gesehen hatte, platzte aus seinen Knöcheln und breitete sich nach außen aus. Innerhalb von Sekunden bedeckte Eis Dutzende von Quadratmetern, wobei das meiste davon unter den unsichtbaren Schilden hervordrang, sich nach oben erstreckte und die Knöchel der Vollkommenen umhüllte.
Ben und Vesta nahmen ihre Feuerzeuge heraus und lösten einen brutalen Hitzesturm aus, während Ridan seine Flammen auf unsere Feinde richtete. Lumi bewegte dann ihre Hände und packte jeden Vollkommenen, den sie erreichen konnte, ohne sie wirklich zu berühren. Sie flüsterte einen tödlichen Zauber, der den Vollkommenen die Knochen brach. Sie fielen zu Boden wie schlaffe Säcke, die mit Knochensplittern gefüllt waren. So gelang es Lumi, Dutzende von ihnen auszuschalten.
Ich hatte diese Fähigkeiten nicht und ich wollte nicht riskieren, in einen weiteren Wort-Blackout zu fallen. Also fluchte ich leise und zog meinen Zermalmer hervor. Ich fing an zu schießen.
Hier und da stieben Aschewolken in die Luft, aber trotzdem … es gab Hunderte von ihnen, alle stark und perfekt in der Lage, uns die Köpfe abzureißen, wenn sie nur nah genug kamen. Cassiel hielt sich zurück und beobachtete aufmerksam, wie sich der Angriff abspielte.
»Wir müssen gehen«, rief Lumi. »Zieht euch zurück! Jetzt!«
Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Die Vollkommenen stürmten auf uns zu wie eine verdammte Meute, ihre Krallen ausgefahren und begierig darauf, uns zerreißen. Ich wollte wirklich nicht herausfinden, welche übernatürlichen Fähigkeiten sie aus den Genen unseres Volkes erhalten hatten.
Ich schluckte meine Angst, meine Bedenken und meine Wut hinunter und verwandelte sie in die Energie, die ich brauchte, um zu rennen. Wir zogen uns zurück und rannten den anderen nach. Flügel flatterten hinter uns – die Vollkommenen flogen und schossen blutrünstig zwischen die Bäume und über ihnen hinweg.
Lumi und ich schleuderten ihnen verschiedene Verteidigungszauber entgegen. Ben und Vesta riefen noch einmal ihr Feuer herbei und schossen. Nevis wechselte zu seinem Zermalmer und feuerte gemeinsam mit den anderen.
Wir folgten einem schmalen Pfad durch den Dschungel in Richtung Norden.
Aber die Vollkommenen holten auf. Einige flogen sogar an uns vorbei und landeten wie Raketen auf beiden Seiten unserer Gruppe, wobei der Boden bebte und einige der Draenir und Fehlerhaften zu Boden fielen. Dies würde nicht gut enden, es sei denn, wir fanden einen anderen Weg, um sie abzuschütteln.
Im Hinterkopf dachte ich bereits an die Hermessi.
Bitte helft uns, aus Liebe zu allem, was auf dieser Welt gut und schön ist …
Ich schaute über meine Schulter und sah, wie Cassiel höher flog und diese monströse Verfolgungsjagd beobachtete, ohne sich einzumischen. Ich fand es seltsam, aber vielleicht wartete er darauf, dass wir müde wurden und strauchelten, um sich uns einen nach dem anderen zu holen, während seine Soldaten uns angriffen und unsere Zermalmer beschäftigt hielten.
Ben und Vesta beteten beide zu den Hermessi. Ich konnte sie hören, wie sie im seltsamsten Einklang flehten. Irgendwie bewegten sich meine Lippen auf die gleiche Weise und baten die Hermessi um Erlösung. Sie waren die einzige Hoffnung, die wir noch hatten.
»Bitte … was auch immer ihr wollt, wir werden es tun. Helft uns. Bitte. Wir glauben an euch. Wir wollen diese Welt beschützen.«
Bevor wir uns versahen, sprachen wir drei identische Worte aus.
»Hermessi … Hört uns an … Wir öffnen euch unsere Herzen und Seelen. Bitte helft uns!«
»Ich setze das auf die Liste der gruseligsten Dinge, die ich je erlebt habe«, hauchte Elonora und sah uns fassungslos an.
Einige der Fehlerhaften wurden von den Seiten weggerissen und schrien, als sie verschleppt wurden. Ridan und Nevis schossen Feuer und Eis um uns herum, um die Vollkommenen davon abzuhalten, noch weitere von uns zu nehmen. Dann passierte etwas Seltsames, während wir weiter rannten.
Der Boden begann zu beben.
Doch es lag nicht daran, dass die Vollkommenen wie Stiere durch den Wald donnerten und uns dicht auf den Fersen waren. Nein, dieses Beben war anders und in gewisser Weise auch vertraut.
Ein seltsames Flattern erfasste mein Herz. Mein Atem stockte und mein Kopf wurde leichter als eine Feder. Etwas war hier im Gange und ich war bereit, das ganze Geld der Welt darauf zu wetten, dass es mit den Hermessi zu tun hatte.