KAPITEL 4

In dubio pro reo

Sarah

Jeder einzelne Moment mit Monroe spulte sich im Schnelldurchlauf vor meinem inneren Auge ab. Ich erinnerte mich, als ich an meinem ersten Tag an der Columbia in Monroe hineingelaufen war. Die langen Blicke in der Bibliothek und das aufgeregte Bauchkribbeln, das es mir beschert hatte. Unser Gespräch auf der Party in Darlington House, als ich noch keine Ahnung gehabt hatte, wer er war. Wie besonders sein Name sich auf meiner Zunge angefühlt hatte. Wie gefährlich und verboten und erregend es gewesen war, mit ihm zu flirten, seinen Blick zu erwidern, der Schlagabtausch, die Nacht voller Tänze. Das Date in Manhattan, mein laut klopfendes Herz auf dem Empire State Building. Der Abend in der Rooftop-Bar, die knisternde Spannung auf dem Weg zu seiner Wohnung, unser erster Kuss. Die unzähligen folgenden Küsse, als er mich in Paytons Apartment besucht hatte, und meine unfassbare Nervosität, in seiner Gegenwart zu sein. Die Nähe. Die Intimität. Die wachsenden Gefühle und der Sex.

All das blitzte immer und immer wieder vor meinem inneren Auge auf.

Bis ich die Erinnerungen gewaltvoll fortwischte. Ich wollte dich dazu bringen, dich in mich zu verlieben.

Wollte dich dazu bringen.

Es machte Klick, und ich starrte Monroe an.

»Deshalb die Verlobung«, flüsterte ich. »Du willst dir das Erbe durch eine Heirat mit mir sichern.«

Er schraubte die Flasche in seinen Händen auf. Diesmal zitterten sie nicht. »Ja, das ist der Plan.«

»Ist?«, wiederholte ich ungläubig und setzte mich auf. Nicht war . Er sprach vom Hier und Jetzt, und er klang viel zu entschlossen. »Das kannst du nicht ernst meinen.«

»Das ist mein voller Ernst, Sarah.«

Ich knirschte mit den Zähnen. Es war gar nicht so lange her, da hatte ich es mir sehnlichst gewünscht, ihn auch nur ein einziges Mal meinen Namen sagen zu hören. Sarah und nicht Payton, weil mein Herz es nicht mehr ertragen hatte.

Bitterkeit breitete sich in mir aus. Und es war mir egal, dass ich schon angetrunken war, als ich ihm die Flasche abnahm und einen Schluck daraus trank.

Das Brennen in meiner Kehle stach mir in der Nase und sorgte dafür, dass sich Speichel in meinem Mund sammelte. Monroes Verrat tat so verdammt weh. Ich wollte nichts als Wut fühlen, doch ich konnte mich nicht gegen diesen Schmerz wehren. Wie hatte alles zwischen uns eine Lüge sein können? Jedes Lächeln, jeder Kuss, jedes verfluchte Wort? Hatte es keinen einzigen ehrlichen Moment gegeben? Nicht einmal dann, wenn selbst ich ehrlich gewesen war? Denn das war ich gewesen, auch wenn ich mich nicht als Sarah zu erkennen gegeben hatte. Deshalb war die Wahrheit wie ein Messer, das mir in die Brust stach.

Aber nur weil es wehtat, nur weil ich einen Nachhall und die Erinnerungen an ein Uns in mir trug, bedeutete das nicht, dass ich die Tatsachen verdrehen oder vergessen würde. Sein brutaler Griff um mein Handgelenk heute Abend würde bestimmt einen ordentlichen Bluterguss hinterlassen. Er hatte mich benutzt, und ich war nur deshalb hier in den Hamptons, weil er mich entführt hatte. Monroe hatte dafür sorgen wollen, dass ich mich in ihn verliebte, um ans Erbe seines Stiefvaters zu kommen.

Mein Kopf platzte fast, weil ich ja nicht einmal diese Sache mit Fairfax hatte verarbeiten können. Ich hatte doch gerade erst von ihm erfahren. Und jetzt auch noch das?

Meine Augen begannen zu brennen. Fuck, ich hatte mit Monroe abgeschlossen. Nach der Sache mit Cameron hatte der Schock eine Mauer aus Taubheit und Zorn in mir hochgezogen, die es mir verhältnismäßig leicht gemacht hatte. Aber jetzt? Jetzt stürzte alles über mich herein. Es war ein quälender, hässlicher Schmerz, der meine Brust von innen aushöhlte und das Blut in meinen Adern erstarren ließ.

»Ich hasse dich«, flüsterte ich. »Ich verabscheue dich von ganzem Herzen.«

Um Monroes Mund herum lag ein harter Zug, doch etwas in seinen Augen flackerte bei meinen Worten auf. Ich konnte nicht sagen, was es war. Welche Emotionen er zurückhielt.

Er beugte sich zu mir und legte seine Finger um die Flasche. Legte seine Finger um meine.

»Ebenfalls, Sarah Quinn«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich hasse dich auch von ganzem Herzen.«

Ich rührte mich nicht, und die Welt drehte sich immer schneller, je mehr der Alkohol in mein Blut überging. Ich zog auch nicht meine Hand unter seiner weg, obwohl die kühle Berührung auf meiner Haut brannte. Es kostete mich so viel Kraft, nicht zu weinen, nicht zu schluchzen, dass mein Körper unter der Anspannung zu zittern begann.

»Dann können wir uns ja darauf einigen, dass alles eine Lüge war«, sagte ich mit brüchiger Stimme, ohne den Blick von seinem zu lösen. Ich hasste es, dass ich nicht in der Lage war, giftiger zu klingen. »Absolut nichts zwischen uns war echt.« Kein Kuss. Kein Blick, keine einzige Berührung. Alles war ein Schauspiel gewesen. Mein Schmerz und meine Wut verwoben sich zu einem hässlichen, komplizierten Geflecht.

Monroes Griff um meine Finger und die Flasche verstärkte sich. »Ganz genau. Ich habe dich benutzt, und du hast mich benutzt.«

»Unter anderen Umständen hätte ich dich nicht einmal mit der Kneifzange angerührt«, zischte ich. »Das habe ich nur getan, um an Peter ranzukommen.« Die Lüge war offensichtlich, aber ich wollte ihm so sehr wehtun, wie er mir wehgetan hatte. Ich wollte ihn leiden sehen. Auch wenn ich damit nur an seinem Ego kratzte, denn Monroe Darlington besaß kein Herz. In seiner Brust war ein schwarzes Loch.

»Und du hast dich ins Zeug gelegt«, sagte er und lehnte sich noch näher zu mir, gefährlich nahe, bis unsere Schultern sich streiften und sein Gesicht vor meinem schwebte.

»Ebenfalls«, schoss ich zurück und reckte das Kinn. »Du hast mir sogar gesagt, dass … Du hast mich …« Ich konnte die Worte nicht aussprechen, denn ich sah vor meinen Augen, wie wir Sex hatten, wie wir umschlungen im Bett lagen und wie er mir sagte, dass er mich liebte. Wie er mich zärtlich ansah und sanft über mein Haar strich, während die ganze Welt um uns herum verblasste.

Sein Blick verdunkelte sich, und einer seiner Mundwinkel zuckte nach oben. Seine Finger auf meinen rührten sich. »Und du hast für mich die Beine breit gemacht«, murmelte er. »Du hast dich so bereitwillig von mir ficken lassen. Und das nur, um an Informationen über meinen Bruder zu gelangen.« Er beugte sich noch näher zu mir. »Du hast für mich gestöhnt. Du hast mich angebettelt, dich kommen zu lassen, nur um mich in Sicherheit zu wiegen. Du … bist wirklich eiskalt.«

Ich atmete lautlos ein und weigerte mich, den Blick von seinen durchdringenden blauen Augen zu lösen. Gegen meinen Willen zog sich etwas in meinem Bauch zusammen. Ich sah es vor mir, als wäre die Erinnerung frisch, als wäre es erst gestern gewesen, wie ich unter ihm gelegen, wie ich mich vollkommen hatte fallen lassen. Wie auch er die Kontrolle verloren hatte. Wie er mich anschließend gehalten hatte. Behutsam und liebevoll. Selbst im Schlaf.

Der Alkohol machte Monroes Lider schwer. Ich wusste nicht, ob er mich beobachtete oder ob ihn auch Erinnerungen heimsuchten. In meinen Ohren begann es zu rauschen.

»Ganz genau«, log ich beinahe tonlos. »Alles davon … Das alles war geplant.«

»Keine Sorge, Sarah«, flüsterte er, und erst als ich sein Atem auf meine Lippen traf, realisierte ich, wie nah sich unsere Gesichter waren.

Nein!, schrie eine Stimme in mir. Geh weg von ihm! Er ist gefährlich, ein Monster! Er hat dich entführt! Er hat dich verraten!

Ich wollte ihn von mir stoßen, denn ich hasste ihn mit Leib und Seele. Ich sollte ihn von mir stoßen. Nur spürte ich plötzlich zu deutlich die Hitze zwischen meinen Beinen.

»Ich hätte dich unter anderen Umständen auch nicht mal mit einer Kneifzange angerührt«, sagte Monroe und löste seine Hand von meiner – nur, um sie mir in den Nacken zu schieben.

Ein Keuchen entfuhr mir, und unerträgliche Hitze brodelte durch die Berührung in meinen Adern.

»Fass mich nicht an«, wisperte ich und legte meine Hand auf seine Brust. Krallte die Finger in den Stoff … Und spürte das heftige Hämmern seines Herzens darunter. Doch er rührte sich nicht, und ich drückte nicht zu.

»Ich verachte dich, Monroe. Wir sind fertig miteinander. Ich habe jede Sekunde mit dir gehasst, und ich …« Seine Nasenspitze strich an meiner entlang und fegte jeden Gedanken aus meinem Kopf. »Ich hasse dich«, wiederholte ich.

Sein Atem beschleunigte sich, und seine Fingerspitzen strichen meinen Haaransatz entlang. »Und du«, sagte er an meinen Lippen, »bist ein eiskaltes Miststück.«

Unser Atem vermischte sich und benebelte mir den Kopf noch stärker als der hochprozentige Alkohol. Keiner von uns rührte sich. Es war süßer, sehnsuchtsvoller Schmerz. Sehnsucht nach der Art und Weise, wie er mich vor gar nicht langer Zeit hatte fühlen lassen können. Sehnsucht nach der Lüge, die ich für die Wahrheit gehalten hatte.

Plötzlich schoss mir das Bild von Holden in den Kopf und wie er mich heute Abend angesehen hatte, als Monroe mir den Antrag gemacht hatte. Ich spürte den Stich, der mir durch die Brust gefahren war, als ich Ja gesagt hatte. Wir verlieben uns gerade ineinander, Sarah. Du willst mich, und ich will dich.

Mit einem Schlag fühlte ich mich wieder nüchtern und zuckte zurück.

Die Flasche fiel mir aus der Hand, die wenigen Reste schwappten über den Boden, und ich sprang auf die Beine. Im letzten Moment hielt ich mich an der Bar fest, denn die Welt drehte sich nun viel heftiger.

Verflucht, was hätte ich da gerade beinahe getan? Nach allem, was ich wusste und was geschehen war? Hatte ich den Verstand verloren?

Game over, Sarah. Mein Blut wurde so eiskalt, dass es einfror und meinen ganzen Körper lähmte. Monroe Darlington war nicht mehr als ein Betrüger und ein Lügner, und er war mit kalter Berechnung vorgegangen. Er war sogar bei mir eingebrochen – oder hatte jemanden dafür angeheuert, wie auch immer. Monroe hatte nichts als Chaos und Schmerz in mein Leben gebracht. Wenn er so mit mir hatte spielen können, mir vorsätzlich so viel Angst und Leid zufügen konnte und Peter sogar zu noch drastischeren Taten übergegangen war – wozu war er dann noch in der Lage? Die Gefahr, die von ihm und seiner gesamten verfluchten Familie ausging, war real. Wozu war er fähig, wenn es hart auf hart kam? Er war gewissenlos. Hatte mir ins Gesicht gesagt, wie einfach es sei, mich wie eine Marionette tanzen zu lassen, wenn er die richtigen Fäden zog. Waren die Verlobung und diese Entführung nur der Anfang von etwas viel Grausamerem?

Mein Körper war ein Verräter. Er sehnte sich nach einer Fata Morgana, obwohl dort keine Oase auf ihn wartete, sondern ein Schlangennest.

Fahrig strich ich mir durch die Haare und räusperte mich. »Du … D-du …«

Scheiße, ich war vollkommen durch den Wind.

Monroe stand ebenfalls auf. Auch ihm war der Alkohol anzumerken, doch er schwankte nicht so wie ich. Zwei Herzschläge später stand er wieder vor mir, ragte über mir auf. Und die Art und Weise, wie er mich ansah, wie er meinen Mund anstarrte und seine Lider sich senkten …

Es lag unverkennbar Verlangen in seinem Blick.

»Du spielst immer noch mit mir«, flüsterte ich. »Du Mistkerl. Du bist noch nicht fertig mit deinem Plan, nicht wahr?«

Blinzelnd sah er mir in die Augen. Er wirkte beinahe verwirrt, und für einen Moment erstarrte er. Dann verhärtete sich seine Miene. Er straffte die Schultern. »Ganz recht«, sagte er mit seltsam gepresster Stimme und trat zurück. »Ich habe noch nicht einmal angefangen.«