Zum etwa hundertsten Mal wechselte ich meine Sitzposition und überschlug meine Beine, während Lennard Payton und mich in einem SUV durch Manhattans regen Verkehr beförderte. Die Luft im Wageninnern war so geladen und so dick, dass man sie hätte schneiden können.
Ich wischte die Hände an meiner braunen Stoffhose ab und warf Payton neben mir einen verstohlenen Blick zu.
Mit einem schweren Seufzen erwiderte sie meinen Blick, ohne damit aufzuhören, an ihrem Daumennagel zu knabbern. »Meinst du, es macht es besser, wenn du mich die ganze Zeit anstarrst, als wäre ich eine tickende Zeitbombe?«
»Tut mir leid«, sagte ich und presste hilflos die Lippen zusammen.
Kurz nach Monroes Telefonat mit seiner Mutter war er wieder gegangen. Ich hatte Payton sofort mit meinem neuen Handy angerufen und ihr vom Dinner erzählt, aber sie hatte auf seltsame Weise kurz angebunden geklungen. Distanziert. Dann hatte sie auch schon aufgelegt. Als wäre ich eine Verräterin. Dabei hatte ich Monroe weder eingeladen noch ihn in die Wohnung gelassen! Ich wollte für Payton da sein, wollte irgendetwas richtig machen, und ich wollte bei ihr sein, wenn wir unserem biologischen Vater gegenübertraten. Doch nun kam es mir überhaupt nicht so vor, als wären wir eine Einheit. Es fühlte sich eher so an, als hätte sie eine Mauer zwischen uns hochgezogen. Lag es an Monroes Besuch oder an ihrem Treffen mit Cameron und Celia? Ich hatte keinen blassen Schimmer und wusste nicht, wie ich an Antworten gelangen sollte. Je weiter sie sich von mir zurückzog, desto verzweifelter versuchte ich, sie bei mir zu behalten.
Ich hatte den Großteil des Tages tatenlos zu Hause rumgesessen. Ganze sechs Mal war ich in den Fahrstuhl gestiegen und hatte bei Holden geklingelt, aber wie auch letzte Nacht war er nicht zu Hause gewesen. Und wie auch letzte Nacht hatte es mich mit Sehnsucht und Schmerz und Verzweiflung erfüllt. Die Ruhelosigkeit hatte mich unter Strom gesetzt, und dieser hielt bis jetzt an.
Während Payton und ich uns schließlich für das Dinner umgezogen und fertig gemacht hatten, hatten wir kaum ein Wort miteinander gesprochen, und das hatte das Fass beinahe zum Überlaufen gebracht. Ich war nicht nur nervös und aufgekratzt, mir war auch zum Heulen zumute.
»Gott, Sarah, kannst du bitte damit aufhören, mich die ganze Zeit so anzustarren?«, stöhnte Payton plötzlich.
»Tut mir leid«, sagte ich kleinlaut und biss mir auf die Wange. Nicht heulen! »Ich bin bloß … Ich meine, ich bin einfach nur nervös. Wegen des Dinners. Wie schlägst du dich?«
Ungläubig blinzelte sie mich an – und am liebsten hätte ich mir gegen die Stirn gehauen.
Ihre Miene verfinsterte sich, Verletztheit spiegelte sich darin, und sie schob sich fahrig den Pony aus den Augen. »Wie ich mich schlage? Ich würde mir am liebsten irgendeinen Scheiß reinfahren. So schlage ich mich, danke der Nachfrage.«
»Pay, ich meinte nicht …« Ihre Worte glichen einer Stahlfaust, die sie mir in den Magen rammte. Tränen schossen mir in die Augen, und ich blinzelte hastig, um es zu überspielen. »Tut mir leid. Die Frage war bescheuert.« Ich war so ein unsensibles Arschloch. Natürlich drehte sie durch. Verdammt, höchstwahrscheinlich noch viel mehr als ich, denn sie war traumatisiert und kämpfte mit ihrer Sucht. In ihrem Blick lag etwas Verlorenes, was einfach nicht verschwinden wollte. Wie eine Narbe. Ein Überbleibsel von dem, was sie alles durchgemacht hatte.
Du wirst jetzt auf keinen Fall losheulen!
Ich musste stark bleiben, Zuversicht zeigen, damit wir diesen Abend überstanden und nicht gemeinsam durchdrehten. Es war an der Zeit, der Fels in der Brandung zu sein. Dabei drohte ich doch selbst zu ertrinken.
»Hey, ein Lichtblick ist wenigstens, dass Peter nicht da sein wird!«, sagte ich einen Tick zu überschwänglich und ergriff ihre Hand, als sie erneut an ihrem Daumen knabbern wollte. Noch etwas mehr, und er würde Blutflecken auf ihrem Etuikleid aus fliederfarbenem Tweed hinterlassen.
Sie zuckte mit den Schultern und sah aus dem getönten Fenster, als kümmerte es sie nicht. Aber sie täuschte mich nicht. Wenn allein Monroe eine so panische Reaktion bei ihr hervorgerufen hatte, was würde dann erst Peter in ihr auslösen?
Eindringlich sah ich sie an und beschwor sie im Stillen, meinen Blick zu erwidern. »Payton, er wird nicht da sein«, versprach ich mit bebender Stimme. »Nur du, ich, Monroe, Fairfax und seine Frau.«
»Schön«, sagte sie erschöpft und klang, als lägen ihr ganz andere Worte auf der Zunge.
Ich gab auf, und ließ sie los. Die Frustration schnürte mir die Brust ab. Ich war keine Superheldin. Mehr als reden konnte ich doch auch nicht versuchen.
Auf der restlichen Fahrt in die Upper West Side wurde es wieder still zwischen uns, und ich ging dazu über, erneut meine Sitzposition zu verändern und ziellos aus dem Fenster zu schauen.
Lennard fuhr uns zu einem eindrucksvollen Wohnhaus mit etwa zwanzig Stockwerken und einer halbrunden Einfahrt, die in einen Innenhof führte. Wir nutzten den Moment, um in unsere Wintermäntel zu schlüpfen. In New York schien es mit jedem Tag deutlich kälter zu werden.
Der Zugang zum Innenhof hatte ein verschlossenes Eisentor, das sich erst öffnete, als Lennard einen Ausweis an einen Scanner hielt. Überall waren klar sichtbar Überwachungskameras angebracht, als würden wir gleich die Botschaft irgendeines Landes betreten. Es wunderte mich fast schon, dass es keinen Sicherheitskontrollpunkt gab, an dem unsere Taschen gecheckt und unsere Ausweise überprüft wurden.
Im Innenhof gab es einen stillgelegten Springbrunnen, ein paar Zierbäume in Kübeln und zwei protzige Autos, deren Wert vermutlich einen ganzen Block für ein Jahr ernähren könnte.
Im nächsten Moment entdeckte ich Fairfax, und das Herz rutschte mir in die Hose.
»Shit«, flüsterte ich und fuhr mir durch die geglätteten Haare mit den künstlichen Hollywoodwellen. Mein Magen rumorte so sehr, dass ich mich am liebsten hier und jetzt übergeben hätte.
Fairfax und Monroe standen in Wintermänteln neben dem größten der Eingänge und schienen auf uns zu warten.
Ich atmete tief durch und sah zu Payton, während Lennard den Motor abstellte. »Bereit?«
Payton starrte ebenfalls durch die verdunkelten Scheiben. Der Anblick der beiden schien ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen, und sie atmete bebend durch. Ihre Augen sahen aus wie die eines Rehs im Scheinwerferlicht.
»Ja«, flüsterte sie. »Total bereit.«
Erneut ergriff ich ihre Hand und drückte sie. Sie blickte auf … und wehrte sich diesmal nicht dagegen, entzog sich mir nicht. Wir sahen uns lange in die Augen, und ich spürte das Echo unserer einstigen Verbundenheit. Spürte unser Zwillingsband und dass wir gerade so ziemlich die gleichen Emotionen durchlebten. Dieser Mann dort war unser leiblicher Vater. Und es würde das erste Mal sein, dass wir uns ihm gemeinsam stellten.
Mit einem Mal kam mir das Ganze viel realer vor als noch Sekunden zuvor.
»Du musst das nicht mehr allein durchstehen, Pay«, flüsterte ich. »Nie mehr. Ich bin bei dir, und wir halten zusammen, verstanden?«
Ihr Kinn begann zu zittern, und sie erwiderte meinen Händedruck schmerzhaft fest. Doch sie riss sich zusammen und hielt die Tränen zurück.
»Danke, Sarah«, wisperte sie. »Das … ich glaube, das musste ich gerade hören.«
Lennard öffnete Payton die Tür und half ihr aus dem Wagen. Gerade als ich mich abschnallte und selbst aussteigen wollte, wurde auch mir die Tür geöffnet.
Von Monroe.
»Hey«, sagte er leise und schenkte mir ein angespanntes Lächeln. Ich erwiderte es nicht – es war schlichtweg unmöglich, meine Gesichtsmuskeln dazu zu animieren, wenn mein Herz mir so gnadenlos bis zum Hals schlug.
»Hey«, erwiderte ich deshalb bloß mit gepresster Stimme.
Ich ließ zu, dass er mir aus dem Wagen half, und ergriff dafür seine Hand. Auch ließ ich zu, dass er mir anschließend einen langen Kuss auf die Wange gab, in dem Wissen, dass Fairfax all das beobachtete.
Dann drehte ich mich um und trat zu meiner Schwester. Zu meiner Beruhigung hakte sie sich bei mir ein. Seite an Seite liefen wir auf Wilson Fairfax zu.
Wie bei unserer letzten Begegnung lehnte er sich auf einen Gehstock. Obwohl er so erschöpft aussah, als gehörte er in ein Krankenhausbett, lag ein Lächeln auf seinen Lippen, und er schien unseren Anblick regelrecht in sich aufzusaugen.
Payton drückte fest meinen Arm.
Ich erwiderte es.
Als wir schließlich vor ihm standen, und ich spürte, wie Monroe hinter mich trat, wurde Fairfax … erschreckend emotional. Seine trüben Augen wurden glasig, und er blinzelte immer wieder.
»Meine wunderschönen Töchter«, sagte er und stützte beide Hände fest auf dem Gehstock ab. Sein Lächeln wurde breiter und auf verstörende Weise … vertraut. Ich kannte dieses Lächeln. Es war dem von Payton und mir zu … ähnlich. »Sarah, Payton, ich freue mich, dass ihr hier seid.«
»Wir freuen uns auch«, sagte Payton. »Schön, dich wiederzusehen, Wilson.«
Er legte den Kopf schief, und sein Blick blieb an ihr haften. Langsam verblasste sein Lächeln und wich einer nachdenklichen, fast schon strengen Miene.
Sie erstarrte neben mir. »Ich … i-ich war …«
»Zu Hause«, fiel ich hastig ein und lächelte Fairfax an. »Payton war zu Hause. In San Francisco.«
Sein Blick wechselte zu mir, und er hob eine Augenbraue. Ich hielt eisern an meinem Lächeln fest. Verflucht, durchschaute er mich? Sahen wir schuldig oder ertappt aus?
Monroe ergriff meine linke Hand und trat neben mich. »Sie war in einer Entzugsklinik, Dad.«
Mein Herz krachte zu Boden.
Payton keuchte, und mein Kopf schoss herum. Ungläubig starrte ich Monroe an und öffnete den Mund. Hatte er den gottverdammten Verstand verloren?!
Doch Monroe beachtete weder meinen noch Paytons fassungslosen Blick, sondern setzte ein mitfühlendes Lächeln auf. »Payton hat in den letzten Monaten ein Pillenproblem entwickelt. Einer der Gründe, wieso Sarah nach New York gekommen ist. Sie wollte Paytons Platz an der Columbia retten. Sie hat viel auf sich genommen, um Payton eine gute Schwester zu sein.«
Was.
Zur.
Hölle?
Wut und Fassungslosigkeit stiegen in mir auf, und ich entzog ihm blitzschnell meine Hand. Wie konnte er es wagen?! Wie konnte er es wagen, Fairfax so etwas zu erzählen?
Payton ließ mich ebenfalls los. Alarmiert sah ich zu ihr; sie schlang die Arme um sich, und ihr Gesicht wirkte trotz des Make-ups plötzlich aschfahl. »Es … es tut mir leid, ich …« Wieder keuchte sie und sah aus, als bekäme sie keine Luft mehr. »Ich wollte nicht … ich hatte nicht vor …«
»Pillen«, wiederholte Fairfax. In seiner Stimme lag genug Missfallen, um mir ein Schleudertrauma zu bescheren. Nun betrachtete er Payton nicht mehr wie die verlorene geliebte Tochter, sondern …
Abschätzig.
»Ich lege dir die Welt zu Füßen, und du gibst das Geld für Pillen aus?«, fragte er leise und zugleich messerscharf. Ärger flammte in seinen Augen auf.
»Nein! Ich meine, ich … Gott …« Hilflos sah sie nun mich an, aber auch mir fehlten die Worte.
»Reden wir nach dem Essen darüber«, sagte er knapp. »Lasst uns erst mal nach oben fahren. Corinne wartet schon auf uns, das Essen dürfte jeden Moment fertig sein.«
Er drehte sich um und lief, schwer auf den Gehstock gestützt und mit wankenden Schritten, zur Doppeltür aus dunklem Holz. Ein Bediensteter öffnete sie ihm, aber Fairfax bedankte sich nicht einmal, geschweige denn würdigte er dessen Existenz.
In der Sekunde, in der er uns den Rücken zuwandte, stieß ich Monroe fest gegen die Brust und funkelte ihn an.
Er hob nur unschuldig die Schultern, als hätte er Payton gerade nicht vollkommen bloßgestellt.
»Du mieses Arschloch!«, zischte ich. »Ich wusste es! Du hast mich doch getäuscht. Die Verlobung ist so was von Geschichte!«
»Hey, jetzt beruhig dich, ja?«, sagte er leise und hob verteidigend die Hände. »Sarah, das war doch nicht böse gemeint. Tief durchatmen, das Dinner hat noch nicht einmal angefangen. Komm schon.«
Ich ignorierte ihn, bevor ich ihn vor lauter Wut noch erwürgte, und sah wieder zu meiner Schwester. Oder zumindest dorthin, wo sie eben noch gestanden hatte.
»Hey!«, rief ich, als ich sah, dass sie bereits ins Haus getreten war, und eilte ihr hinterher. »Ignorier das, ja? Das spielt keine Rolle.«
Doch mein Aufmunterungsversuch war nutzlos. Payton war vollkommen erschüttert. Sie sah mich nicht an, wirkte abwesend. Als hätte sie sich in sich selbst zurückgezogen. Sie sprach kein Wort und starrte zu Boden, während ihr Körper zitterte. Es juckte mir in den Fingern, etwas dagegen zu unternehmen, sie fest in den Arm zu schließen. Aber es würde nichts ungeschehen machen. Es würde nicht helfen.
Wir folgten Fairfax und fuhren mit einem geräumigen Fahrstuhl nach oben. Die Stimmung war kalt und die Stille schwer. Und das nur, weil Monroe so ein Arschloch war. Ich konnte nicht aufhören, ihn vorwurfsvoll anzufunkeln, und musste jeden Muskel in mir anspannen, um meine brodelnde Wut im Zaum zu halten.
Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich, und wir traten in den Eingangsbereich einer beeindruckenden Wohnung. Es kam mir eher so vor, als wären wir in ein riesiges Anwesen außerhalb von Manhattan getreten. Der Boden bestand aus schwarz-weiß gekacheltem Marmor, eine halbrunde Treppe führte rechts von uns nach oben, und einige Flügeltüren gingen in weitere Räume ab. Jeder Zentimeter hier schrie nach altem Geld. An der hohen Decke prangte elfenbeinfarbener Stuck, es gab antik aussehende Möbel, riesige Vasen mit Blumen und Ölgemälde.
Deshalb wunderte es mich auch nicht, als ein verdammter Butler kam und uns unsere Mäntel abnahm.
Und dann …
»Payton und Sarah!«, trällerte eine Frauenstimme, gefolgt vom hallenden Geräusch hoher Schuhe auf Marmor.
Wir drehten uns gleichzeitig um. Ich entdeckte eine hochgewachsene Frau mit roten Haaren, die ihr perfekt über eine Schulter fielen. Alles an ihr wirkte edel, vom schwarzen Bleistiftrock und der dunkelgrünen Seidenbluse bis hin zum Make-up, den Perlenohrringen und dem dezenten Goldschmuck.
Lächelnd und mit ausgebreiteten Armen kam sie auf uns zu. »Ich freue mich ja so, euch kennenzulernen! Endlich ist die Familie vereint!«
Mir platzte fast der Kopf bei ihren Worten, und meine Wut wollte mich brüllen lassen. Ich konnte nicht anders, als zumindest das Gesicht zu verziehen und stocksteif dazustehen, als sie mich in die Arme schloss und schweres Parfum in meine Nase stieg. Nur mit Mühe zwang ich mich, die Umarmung zu erwidern.
»Und Familie in vielerlei Hinsicht«, zwitscherte sie und drückte mich fester an sich. »Jetzt, wo ihr verlobt seid! Ich freue mich ja so!«
Für echte Freude drückte sie mich zu fest. Hatte eine zu hohe Stimme.
Alles an dieser Frau war fake.
»Ja, ich freue mich auch«, sagte ich und blinzelte Payton hilflos an. Aber sie sah noch immer zu Boden.
Sie war als Nächste dran und wurde von Wilsons Frau, Peters und Monroes Mutter, fest in die Arme geschlossen.
Monroe verschränkte erneut unsere Finger ineinander und zog mich an sich. »Sarah, Payton, das ist meine Mutter, Corinne Darlington-Fairfax.«
»Corinne«, korrigierte sie gut gelaunt und ließ Payton los. Sie trat neben Fairfax und hielt warnend einen Finger nach oben. »Aber kommt nicht auf die Idee, mich Rinnie zu nennen!« Sie lachte hell, als wäre irgendetwas daran lustig.
Es kostete mich mehr Kraft als gedacht, nicht das Gesicht zu verziehen. Dieses Lachen konnte ihr doch unmöglich jemand abkaufen. Auf ihrem Gesicht war nicht die Spur von echter Wärme zu finden, obwohl kleine Lachfalten ihre blauen Augen umgaben. Es waren tief liegende blaue Augen, die mich an Monroe erinnerten. Und an Peter.
Plötzlich fühlte sich seine Hand in meiner heiß und schwer an.
»Sehr erfreut«, sagten Payton und ich wie aus einem Mund.
»Meine Güte, ihr seid wirklich absolut identisch!« Corinne schüttelte verwundert den Kopf und richtete den manikürten Finger auf Payton. »Payton, du hast den Pony und die eingefallenen Wangen, und du, Sarah, trägst grelleres Make-up und bist ein bisschen pummeliger. Ja, ich denke, damit kann ich euch schon auseinanderhalten.«
Ich lächelte breiter und knirschte mit den Zähnen. Miststück. Eingefallene Wangen? Grelles Make-up? Pummelig? Alles sprach dafür, dass sie uns mindestens so sehr hasste wie ich sie. Abscheu auf den ersten Blick.
Für einen kurzen, unangenehmen Moment kehrte Stille ein.
Hier standen wir also, Payton, Monroe und ich, und uns gegenüber Wilson Fairfax und Corinne Darlington-Fairfax. Die vereinte himmlische Familie. Wäre es nicht so bizarr, hätte ich vielleicht gelacht. Wie kam Corinne auf die Idee, uns eine Familie zu nennen? Hatte sie auch nur den Hauch einer Ahnung, was alles passiert war?
Wieder drückte Monroe meine Hand, als wüsste er, was in mir vorging. Als wollte er mir stumm bedeuten, mich zusammenzureißen.
Aber mit ihm hatte ich erst recht ein Hühnchen zu rupfen.
»Lasst uns ins Esszimmer gehen«, schlug Fairfax vor, auch wenn es mehr wie ein Befehl klang.
»Sarah und ich kommen gleich nach«, sagte Monroe und lächelte entspannt. »Geht ihr ruhig schon vor.«
Ich atmete tief durch und drehte mich zu ihm um. Er sah tatsächlich so aus, als wäre das hier das Normalste der Welt.
Payton warf mir einen unsicheren Blick zu. Ich konnte nichts anderes tun, als ihr so aufmunternd wie möglich zuzunicken. Dann lief sie in ihrem fliederfarbenen Kleid Fairfax und Corinne hinterher.
»Komm mit«, murmelte er überraschend ernst und zog mich mit sich. Wir liefen durch die große Wohnung, dann dirigierte er mich in ein luxuriöses Badezimmer und schloss hinter sich die Tür. In derselben Sekunde explodierte ich.
»Willst du mich verarschen?!«, zischte ich und schlug gegen seine Brust. »Scheiße, Monroe, wieso hast du Payton derart auflaufen lassen?«
Er packte meine Handgelenke, um weiteren Schlägen zu entgehen. »Es tut mir leid«, sagte er ernst. »Aber es war notwendig.«
»Notwendig?!« Ich würde ihn umbringen. Er legte es verdammt noch mal darauf an.
»Sarah, mein Vater wird es in seinem Testament berücksichtigen, wenn er weiß, dass deine Schwester ein Drogenproblem hat. Wir wollen uns das Erbe sichern, schon vergessen?«
Ich lachte auf, entriss meine Arme seinem Griff und bohrte ihm einen Finger in die Brust. »Nein, du bist scharf auf das Erbe und offenbar bereit, über Leichen zu gehen, um dir alles unter den Nagel zu reißen! Wie kannst du es wagen, Payton so etwas anzutun? Sie ist meine Schwester! Du hast mir ein Versprechen gegeben, schon vergessen?«
»Ich weiß«, sagte er und sah mich traurig an. »Es tut mir leid. Ich habe mein Versprechen nicht gebrochen, ich war bloß … Es tut mir leid, Sarah.«
»Tut es das wirklich? Für mich klingt es nicht so«, sagte ich unerbittlich und funkelte ihn an. »Sei nicht so verdammt gierig, du bist doch schon stinkreich. Es gibt keinen Grund, sie dermaßen vorzuführen. Und wenn du noch ein einziges Mal versuchst, ihr zu schaden, wirst du es bitter bereuen.«
»Du …« Er blinzelte erschrocken, als würde er jetzt erst begreifen, wie ernst ich es meinte. Vermutlich hätte ich das nicht sagen sollen, um ihn weiter in Sicherheit zu wiegen, aber ich konnte nicht anders. Meine Sicherungen waren durchgebrannt.
»Ich sagte doch, ich habe noch nichts unterschrieben«, warnte ich ihn und trat zurück. »Wir können den Deal jederzeit abblasen. Vielleicht sollte ich dich auch vorführen und Fairfax gleich in unserer ach so trauten Runde erzählen, was du vorhast.«
Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht, und seine Augen weiteten sich. Dann wurden seine Züge hart, und eiskalte Wut trat in seinen Blick. »Droh mir nicht in meinem eigenen Zuhause«, knurrte er mit gefährlich leiser Stimme.
»Doch, ich drohe dir, weil ich verdammt wütend bin!«, zischte ich. »Und weil ich weiß, dass es dir überhaupt nicht leidtut und du vollkommen gewissenlos bist!«
Stöhnend kniff er sich mit zwei Fingern in die Nasenwurzel. Dabei machte er den Eindruck, als kostete es ihn jeden Funken Kraft, sich zusammenzureißen. »Du kennst mich, du weißt, dass ich nicht gewissenlos bin. Ja, ich habe eben einen Fehler gemacht. Hätte ich gewusst, was für Auswirkungen mein Kommentar haben würde, hätte ich nie etwas gesagt. Ich war unsensibel. Ich habe nicht an Paytons Gefühle oder deine Gefühle oder an die Gefühle von irgendwem gedacht. Ich dachte, es wäre eine gute Idee, und es ist schiefgelaufen, okay? Es tut mir leid!«
Mehr als leere Worte würde ich nicht aus ihm herausbekommen, also brachte das hier überhaupt nichts. Reden war sinnlos. Grollend stieß ich den Atem aus und trat zur Tür. »Gut, dann haben wir das ja geklärt.«
Doch er hielt mich mit einer Hand auf meiner Taille auf, zog mich an sich und legte mir eine Hand an die Wange. »Sei nicht böse auf mich. Wir sind doch ein Team«, sagte er gefährlich leise, senkte den Kopf und küsste mich hart und innig.
Ich versteifte mich. Dann gefror etwas in mir, als er seine Zunge in meinen Mund drängte, und ein panisches Prickeln rieselte meine Wirbelsäule hinab. Stoß ihn weg! Hau ihm eine rein!
Er schob eine Hand in meinen Nacken und nippte an meiner Unterlippe. Als hätte er plötzlich einen Freifahrtschein, mich einfach zu küssen.
Keuchend drehte ich den Kopf zur Seite. »Lass mir meine Gefühle«, sagte ich mit bebender Stimme, auch wenn ich ihm lieber ganz andere Dinge um die Ohren gehauen hätte. Aber ich zwang mich zu einem ruhigen Ton. »Und küss mich nicht einfach, nur weil dir danach ist. Dafür hast du noch nicht meine Erlaubnis.« Noch. Lieber wollte ich an dem Wort ersticken, als diesen Satz ein weiteres Mal auszusprechen.
Seufzend strich er mit den Lippen meinen Kiefer entlang. »Sarah, können wir uns bei dem Dinner bitte von unserer besten Seite zeigen?«, flehte er.
Ungläubig blinzelte ich ihn an. Dann schob ich ihn – viel zu zivilisiert – von mir. »Du warst doch derjenige, der sich danebenbenommen hat! Wälz das nicht auf mich ab!«
»Ich meine, bloß wegen der Verlobung«, fügte er schnell hinzu. »Wir sollten … verliebt wirken. Harmonisch. Frisch verlobt. Mein Dad muss uns die ganze Nummer wirklich abkaufen. Er hat zwar bisher kein Wort dazu gesagt, aber das Dinner hat noch gar nicht angefangen. Und dann ist da noch meine Mom. Vermutlich werden sie uns bis aufs Haar unter die Lupe nehmen.«
Ich blickte Monroe an und hob das Kinn. »Das bekommen wir hin. Ich bekomme das hin. Aber ich warne dich, wenn du es noch einmal so in den Sand setzt wie eben mit Payton, dann bin ich raus, und der Deal ist geplatzt.«
»Ich weiß. Das werde ich nicht«, sagte er hastig. Ein vorsichtiges Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Ich werde mich ab jetzt von meiner besten Seite zeigen, das schwöre ich. Und wir werden sie umhauen. Ich werde dich umhauen.«
Ich seufzte schwer, und meine Schultern sackten nach unten. »Können wir dann jetzt zu ihnen zurückgehen? Ich möchte Payton nicht allein lassen.«
»Wenn ich dich schon nicht küssen darf, wenn mir danach ist, gibst du mir dann einen Kuss?«, fragte er und steckte mir eine Haarsträhne hinters Ohr.
»Wieso?«, fragte ich argwöhnisch.
Er glitt mit dem Daumen über meine Unterlippe. »Weil ich dich gerade wirklich dringend küssen möchte, Sarah. Ein Kuss, um diesen kleinen Streit hinter uns zu lassen.«
»Ich …« Meine Stimme blieb mir im Hals stecken, und mein Blick richtete sich auf seinen Mund. Es wäre so einfach. Es würde ihn besänftigen und meine falschen Gefühle einmal mehr beweisen. Ich bräuchte nichts weiter tun, als meine Hand in sein Haar zu schieben, ihn zu mir zu ziehen und unsere Lippen miteinander verschmelzen zu lassen. Ich wusste, dass es sich gut anfühlen würde, denn Monroe war faktisch ein guter Küsser. Aber die bloße Vorstellung erfüllte mich mit solchem Widerwillen, dass ich lieber die schicke Toilette hinter ihm ausgeleckt hätte.
Deshalb trat ich zurück. Hier ging es nicht um alles oder nichts, sondern nur um sein Wohlbefinden auf der unangenehmsten Dinnerparty der Welt. »Verdien ihn dir«, sagte ich und hob die Augenbrauen.
Monroe seufzte. Doch er kommentierte es nicht weiter und drängte mich auch nicht. Stattdessen ergriff er wieder meine Hand und verschränkte unsere Finger.
Wir verließen das Bad und machten uns auf den Weg ins Esszimmer.
»Showtime«, sagte er, ehe wir Hand in Hand den Raum betraten.
Ich straffte die Schultern und setzte ein Lächeln auf, das hoffentlich entspannt wirkte.
An einem dunklen Holztisch, gedeckt mit edlem Geschirr und Stoffservietten, saßen Payton, Fairfax und seine Frau. Ich setzte mich neben Payton auf einen der antik aussehenden Stühle, und Monroe nahm zu meiner Linken Platz. Das Geschirr war aus weißem Porzellan, das Silberbesteck glänzte streifenfrei, und die Kristallgläser waren wunderschön. Ich wollte gar nicht wissen, wie teuer das alles war.
Zwei Angestellte servierten das Essen, als befänden wir uns in einem Restaurant. Sie füllten auch Wein in unsere Gläser, der mit Sicherheit genauso teuer und erlesen war wie alles andere.
Fairfax ergriff sein Weinglas und erhob es. Seine Hand zitterte dabei sichtlich, aber niemand kommentierte es, obwohl er so sehr bebte, dass der Wein beinahe aus dem Glas schwappte.
»Nun denn«, sagte er und sah uns drei der Reihe nach an. Sein Blick verweilte jedoch auf Monroe, und seine Brauen schoben sich kaum merklich zusammen. »Bevor ich meine Dankbarkeit darüber verkünde, dass meine beiden Töchter uns heute beehren, sind in Anwesenheit des frisch verlobten Paares wohl Glückwünsche angebracht.«
Wir erhoben ebenfalls unsere Gläser. Monroe und ich sahen uns an, und ich setzte das beste verliebte Lächeln auf, das ich auf Lager hatte.
»Die Liebe meines Lebens«, sagte er grinsend. »Ich weiß, die Verlobung kam plötzlich, ich hätte euch vorwarnen …«
»Auf eure Verlobung und eure Gesundheit«, unterbrach ihn Fairfax und hob sein Glas höher. Er durchbohrte Monroe mit seinem Blick.
Mein Lächeln geriet ins Wanken. War er bloß wütend? Oder durchschaute er uns? Er sah nicht aus wie jemand, der sich so einfach auf der Nase herumtanzen ließ.
Wie würde Fairfax wohl reagieren, wenn ich Monroe einfach auffliegen lasse?
Monroe ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er stieß sein Glas gegen meines und küsste meine Wange. »Cheers.«
Ich nippte aus Höflichkeit an meinem Glas, auch wenn der Wein so trocken war, dass ich ihn am liebsten wieder ausgespuckt hätte.
Ein Blick zu Payton ließ das flaue Gefühl in mir nur noch weiter wachsen. Sie sprach kein Wort und leerte das Glas in einem Zug.
»Immer langsam«, brummte Fairfax. »Sind es nur Pillen oder auch ein Alkoholproblem?«
Corinne verschluckte sich fast an ihrem Wein. »Wie bitte?«
Payton machte sich neben mir auf ihrem Stuhl sichtlich klein und starrte auf den Tisch. Ihre Wangen waren feuerrot. »Nur … nur Pillen.«
»Sie hat es im Griff«, sagte ich und funkelte Fairfax herausfordernd an. »Payton hat einen Entzug gemacht und konsumiert nichts mehr. Es gibt keinen Grund, sie zu verurteilen. Sie ist clean.«
Corinne hob eine der dünnen Augenbrauen und aß den winzigsten Bissen der Weltgeschichte von ihrer Gabel. Sie ließ den Blick über mich wandern.
»Liebes«, begann sie und setzte ein Lächeln auf. »Weißt du eigentlich, wer Wilson ist?«
Ich spürte, wie Monroe mir eine Hand aufs Bein legte, aber das war mir egal. Ich ignorierte es.
»Wenn Sie mir jetzt sagen wollen, dass ich meine Zwillingsschwester nicht verteidigen soll, dann muss ich mich entschuldigen, Corinne.« Ich erwiderte ihr falsches Lächeln. »Wir sind unter uns, nicht wahr? Und wir sind doch eine Familie. Bald sogar ganz offiziell.« Ich zeigte ihr meinen Ring.
Sie schnaubte, doch ihr Lächeln blieb bestehen. »Ein wirklich hübscher Ring, Liebes. Aber ich glaube, du verstehst noch nicht ganz, welche Tragweite es hat, Teil unserer Familie zu werden.«
»Das versteht Sarah sehr wohl«, sagte Monroe und warf seiner Mutter über den Rand seines Glases hinweg einen warnenden Blick zu. »Sie hat recht, Mom. Payton geht es gut, sie hat kein Drogenproblem mehr. Das alles war sowieso Peters Schuld, und sie hat bloß …«
Ich verpasste ihm unter dem Tisch einen solchen Tritt gegen das Bein, dass das Geschirr klirrte, und hielt mein Lächeln aufrecht, doch ich fürchtete, dass es längst einer Grimasse gewichen war.
»Das Essen ist köstlich«, murmelte Payton und schob sich eine Gabel in den Mund. »Wirklich gut. Danke für die Einladung, Wilson.«
Fairfax sah von mir zu ihr. Er machte ein säuerliches Gesicht. Dann entspannten sich jedoch seine Züge, und er atmete tief durch. »Nun denn«, sagte er wieder. »Es freut mich zu hören, dass du clean bist. Und jetzt lasst uns essen, bevor es kalt wird. Guten Appetit.«
***
Nach dem Hauptgang folgte ein Dessert. Irgendeine Art Pudding mit einer fruchtig-sauren roten Soße und filetierten Blutorangenscheiben. Die Gespräche reichten von furchtbarem Small Talk zu oberflächlichen Interviewfragen von Corinnes Seite aus. Ja, wir waren in San Francisco aufgewachsen, nein, wir kannten die superreiche Person X und auch Person Y nicht. Nein, wir waren noch nie in ihren liebsten Schickimicki-Restaurants gewesen. Ja, Payton liebte es in New York und war dankbar für die Möglichkeiten, die Fairfax ihr beschafft hatte. Ja, die Columbia hatte mich abgelehnt, und sie war auch meine Traum-Uni gewesen.
Eines stand fest: Corinne Darlington-Fairfax war eine unerträgliche Frau, und die Vorstellung, sie kurzzeitig als Schwiegermutter zu haben, wollte mich schreien lassen. Schlimmer war nur … dass Peter offenbar ihr Goldjunge war. Ihr geliebter, perfekter kleiner Junge.
Wenn ich mir noch eine Geschichte darüber anhören musste, was für ein toller Sohn er war, würde ich ihr meine Gabel ins Gesicht rammen.
Es wäre alles so viel einfacher gewesen, wenn sie stattdessen über Peter gelästert hätte. Wenn sie, Fairfax und Monroe darüber gesprochen hätten, was für ein schwarzes Schaf er war. Denn es hätte mir Sicherheit gegeben. Und eine Alternative zur Hochzeit. Fairfax und Corinne hätten eine echte Möglichkeit sein können, eine Alternative zur Ehe mit Monroe. Denn sie wären noch viel mehr als Monroe dazu imstande, Peter in Schach zu halten. Ich hätte die Verlobung abblasen können, Fairfax die Wahrheit erzählen …
Aber das wäre auch zu schön gewesen. Wann war es im Leben schon einfach? Sollte ich mit der Wahrheit herausrücken, würde ich nicht bloß die Sicherheit verlieren, die Monroe versprach, sondern auch riskieren, dass Peter uns nur noch dringender loswerden wollte.
Fairfax legte seine Stoffserviette neben dem Teller ab und weckte damit meine Aufmerksamkeit. Besonders, als sein Blick sich auf mich richtete.
»Monroe, Sarah, schleichen wir nicht länger drum herum«, sagte er ohne Umschweife. »Wie seid ihr nur auf die Idee gekommen, euch zu verloben? Nicht nur, dass ihr euch kaum kennt, ihr habt eure Beziehung vor uns verschwiegen.«
»Wir lieben uns«, sagte Monroe schlicht. »Und ich wusste nicht, dass du meine Freundinnen plötzlich kennenlernen möchtest.«
Fairfax’ Nasenflügel blähten sich. »Ihr seid gewissermaßen beide meine Kinder, Monty.«
»Stiefkind«, korrigierte Monroe sofort.
»Oho!«, sagte Fairfax plötzlich laut. Er sah seine Frau an. »Hörst du das, Rinnie? Schöne Scheiße, jetzt ist er auf einmal wieder das Stiefkind. Wie auch immer es dir passt, Monty, nicht wahr? Dabei bist du es doch, der immer sorgsam betont, dass Blut keine Rolle spielt und wir Vater und Sohn sind. War das nicht sogar dein Argument, als du mich angebettelt hast, dir die Firma zu überlassen, sobald ich krepiert bin?«
»Dad, ich …«
»Darum geht es jetzt nicht«, fuhr Fairfax mit erhobener Stimme dazwischen. »Du hast mich auf meiner Spendengala wie einen trotteligen Idioten dastehen lassen, als du Sarah den Antrag gemacht hast! Wie einen minderbemittelten Schwachkopf! Du hast mich lächerlich gemacht!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch und ließ das Geschirr klirren.
Payton und ich fuhren zusammen. Ich verkniff es mir, seine furchtbare ableistische Wortwahl zu kommentieren – diesen stinkreichen alten weißen Mann würde Political Correctness sowieso nicht interessieren.
»Liebling«, begann Corinne beschwichtigend, aber er schüttelte ihre Hand auf seinem Arm ab und durchbohrte Monroe mit seinem aufgebrachten Blick.
»Ich bin noch nicht fertig. Monroe, du hast den Ruf unserer Familie gefährdet. Und was glaubt ihr zwei, was erst los sein wird, wenn die Welt erfährt, dass Sarah meine leibliche Tochter ist! Das ist ein Skandal!«
»Ist es nicht, Wilson«, sagte ich so besänftigend wie möglich. Ich ergriff Monroes Hand und verschränkte unsere Finger miteinander. Mach einen verliebten Eindruck, na los! »Dir ist doch klar, dass ich erst seit unserem Treffen im Hotel von dir weiß. Das ist erst wenige Tage her. Monroe und ich haben uns gleich zu Beginn des Semesters verliebt, und wir wussten beide nicht, welche Verbindungen wir haben. Ich kann nicht sagen, ob es Schicksal oder bloß ein wirklich unglaublicher Zufall ist, aber die Liebe zwischen uns ist echt. Monroe und ich sind nicht verwandt. Wir teilen keinen biologischen Elternteil oder sonst irgendwelche Verwandten.«
»Wir wollen unser Leben miteinander verbringen«, sagte Monroe und sah mich an. Nein … es war mehr als das. Sein Blick durchdrang mich. Und es war, als wären die nächsten Worte ausschließlich an mich gerichtet.
»Sarah ist mit Abstand das Beste, was mir je passiert ist.«
Ich biss die Zähne zusammen. Besonders als er meine Hand an seine Lippen hob und sie sanft küsste.
»Dann …«, begann Corinne und räusperte sich laut. »Freue ich mich für euch. Habt ihr schon Pläne für die Hochzeit? Wann soll sie stattfinden?«
»Wir haben noch kein Datum«, sagte ich, dankbar für den Themenwechsel, und löste meinen Blick von Monroe. Ich sah zu Payton, aber sie starrte bloß auf ihren Teller und schob die Blutorangenfilets mit der Dessertgabel hin und her. Ein Stich schoss mir durch die Brust.
»Aber wir feiern eine Verlobungsparty«, verkündete Monroe. »Noch nächste Woche.«
»Genau«, sagte ich mit einem zerknirschten Lächeln. »Das wird cool. Ich meine, schön. Toll.«
Fairfax wirkte deutlich angespannt, und Corinne lächelte noch immer dieses eingefrorene Lächeln. Vielleicht hatte sie sich Botox spritzen lassen, das würde zumindest ihre Uncanny-Valley-Gesichtszüge erklären.
»Und wo?«, fragte Fairfax knapp.
Monroe ging wieder dazu über, vollkommen entspannt weiterzuessen. Ich hingegen griff nach meinem Wein und trank den Rest in einem Zug aus.
»Darlington House«, sagte Monroe. »Nur eine kleine Feier mit den engsten Bekannten und Freunden.«
»Überlasst mir die Eventplanung, Schatz«, sagte Corinne überschwänglich. »Durch die Arbeit in der Stiftung kenne ich mich mit so was bestens aus. Es wird traumhaft, ihr werdet es lieben.«
Fairfax beobachtete mich. Deshalb versuchte ich, verdammt fröhlich und verdammt verliebt zu wirken.
»Danke, Mom«, sagte Monroe neben mir. »Das bedeutet uns wirklich viel.«
Fairfax legte den Kopf schief und lehnte sich zurück. »Und wirst du eure Eltern auch einladen, Sarah?«
Meine Hände erstarrten in der Bewegung. Ich öffnete den Mund. Als seine Worte in mich einsanken, wich mir das Blut aus dem Gesicht. Unsere Eltern.
Mom.
Payton und ich sahen uns mit geweiteten Augen an.
»Ich … Ich weiß es noch nicht«, sagte ich ehrlich und schluckte schwer. »Wir haben momentan kein besonders enges Verhältnis.«
Corinne hob die Brauen. »Ach ja? Und wieso das?«
»Sie wussten es«, sagte Payton leise. »Sie wussten, dass unser Dad nicht unser leiblicher Dad ist, und haben es uns nie gesagt. Wir … Wir haben es erst vor ein paar Tagen herausgefunden.«
»Ach, Jane«, murmelte Fairfax. Es war skurril, den Namen unserer Mom aus seinem Mund zu hören, auf diese vertraute Art und Weise. Es passte einfach nicht. Sie passten einfach nicht. Ich konnte mir sie nicht einmal im selben Raum vorstellen. Wilson Fairfax war alles, was unsere Mutter verabscheute, er personifizierte alles, wogegen sie protestierte. Wie war es dazu gekommen? Wie hatten sie jemals zueinandergefunden?
»Vielleicht solltet ihr darüber reden«, sagte Fairfax. »Vielleicht wäre die Verlobungsfeier ein guter Anlass.«
Ich musste Payton nicht ansehen, um zu spüren, wie sehr sie sich gegen die bloße Vorstellung sträubte – mir ging es nämlich genauso.
»Es ist emotional und kompliziert«, sagte ich ausweichend und lachte nervös. »Wir werden es uns überlegen. Spätestens zur Hochzeit werden wir wieder mit ihnen sprechen müssen.«
»Das klingt doch nach einem Plan«, sagte Monroe, bevor Fairfax etwas erwidern konnte. »Wir feiern die Verlobungsfeier im engsten Kreis, hier in Manhattan, und zur Hochzeit laden wir groß ein.«
Obwohl Corinne das Gesprächsthema zurück auf die Verlobungsfeier lenkte, auf Deko und Themen und Farben, lösten sich meine Gedanken nicht von unseren Eltern. Unserer Mom. Und unserem nicht leiblichen Dad, was vielleicht das Schmerzhafteste von allem war. Auch wenn die Verlobung nichts weiter als ein Deal war, fake war, fühlte es sich dennoch falsch an, ein solches Ereignis ohne die beiden zu feiern. Ich fragte mich, wie weit das Ganze noch gehen würde. Könnte ich damit leben, meine eigenen Eltern nicht auf meiner ersten Hochzeit zu haben?
Ein Lachen sprudelte aus mir heraus. Ich kaschierte es hastig mit einem Husten und goss mir mehr vom furchtbaren Weißwein ein. Payton warf mir einen fragenden Blick zu, doch ich schüttelte bloß den Kopf. Es war absurd. Zum Totlachen bizarr. Erste Hochzeit. Aber es stimmte doch. Der Deal mit Monroe würde spätestens zwei Jahre nach Fairfax’ Tod enden, und dann würde ich mein Leben weiterleben, irgendwann jemanden kennenlernen und aus Liebe heiraten. Ein zweites Mal.
Corinne lächelte Monroe und mich an. »Ich bin mir sicher, das alles wird ganz wundervoll. Und ich denke, wir werden das Motto …«
Mit einem lauten Schlag wurde plötzlich die Doppeltür des Esszimmers aufgestoßen. Payton und ich stießen einen erschrockenen Laut aus und drehten uns um.
»Wie schön!«, sagte Peter schwer atmend und betrat das Esszimmer. »Ein trautes Familienessen. Ich muss wohl die Einladung verpasst haben.«