KAPITEL 31

Der Stich der Wespe

Sarah

Payton hatte wieder einen Puls.

Es war haarscharf gewesen, aber sie hatte wieder einen Puls. Ich konnte nicht darüber nachdenken, wie die Reanimation hätte enden können. Alles in mir weigerte sich, diesen Gedanken auch nur zuzulassen.

Payton hatte zwar überlebt, doch sie war nicht wach. War intubiert. Man hatte sie auf die Intensivstation verlegt. Sie schwebte noch immer in Lebensgefahr, und die Ärzte wussten noch nicht, ob das, was geschehen war, bleibende Schäden hinterlassen würde.

Diesmal war ich nicht schwach, als ich zusammen mit den anderen auf die Polizei wartete. Ich fühlte mich nicht machtlos.

Nein.

Diesmal kochte ich vor Wut.

Mit hektischen Fingern zog ich mein Handy aus der Tasche und rief Monroe an. Es klingelte zwei Mal, bevor er abhob.

»Sarah. Ich wollte schon fragen, ob …«

»Wenn du auch nur ein Wort ernst gemeint hast«, fiel ich ihm mit bebender Stimme ins Wort. »Wenn du auch nur einen winzigen Funken von dem fühlst, was du behauptet hast, dann schreib mir sofort, solltest du irgendwie herausfinden, wo Rosie steckt.«

Er schwieg. Verdächtig lange. »Okay.«

Ich erstarrte. Etwas sagte mir, dass er mehr wusste. Hatte sie ihn etwa eingeweiht?

»Monroe, weißt du, wo sie ist?«

»Ja.«

Gott, seine einsilbigen Antworten trieben mich in den Wahnsinn!

Dann fiel jedoch der Groschen.

Natürlich, er war nicht allein. Und wer auch immer bei ihm war …

»Sag mir einfach Bescheid, wenn du etwas hörst«, sagte ich.

»Okay. Das mache ich. Lass uns noch mal reden. Ich vermisse dich.«

Ohne etwas darauf zu erwidern, legte ich auf. Es dauerte keine fünf Sekunden, da erreichte mich auch schon eine Nachricht von ihm.

Ich bin bei Peter. Rosie wird jeden Moment hier sein. Ich schicke dir die Adresse.

Auf die Nachricht folgte sein Live-Standort. Ich machte einen Screenshot und drehte mich zu Holden, Donovan, Cameron und Celia um. »Wir müssen los.«

»Was ist mit der Polizei?«, fragte Celia erschrocken.

»Rosie wird jeden Moment bei Peter eintreffen. Ich knöpfe sie mir vor.«

Holdens Augenbrauen wanderten bis zum Haaransatz. Dann wurde sein Blick hart, und er stand von seinem Sitz auf. »Du wirst nicht alleine gehen. Ich komme mit.«

»Ich auch«, sagte Cameron und sprang auf. Celia stand ebenfalls auf und wirkte entschlossen.

Lediglich Donovan blieb sitzen. Noch immer hatte er den Blumenstrauß in der Hand. Seine Miene war starr und bleich, er wirkte verloren. »Ich bleibe hier«, sagte er, fixierte einen unbestimmten Punkt in Luft. Ich wusste nur zu gut, was in ihm vorging.

Ich nickte. »Okay. Ruf mich an, wenn es Neuigkeiten gibt.«

»Klar. Ihr auch.«

Celia drückte Donovans Schulter. Dann machten wir vier uns eilig auf den Weg.

***

Bis zu Peters Wohnung war es nicht weit. Sie lag in einem Wohnhaus, das wie das Haus von Fairfax über eine Schranke vor der Einfahrt zum Innenhof und über Security verfügte.

Wir stürmten das Gebäude quasi. Offenbar erkannte die Security Cameron wieder, da sie oft hier gewesen sein musste, als sie und Peter noch ein Paar gewesen waren. Auf der Fahrt hierher hatte ich eine Nachricht von Monroe erhalten, dass er zudem am Empfang unseren Besuch angekündigt hätte. Er hatte behauptet, er hätte Peter und Rosie nicht gesagt, dass ich kommen würde. Entweder wollte er sich mir wirklich beweisen, oder er heckte etwas aus. Vielleicht war es ja auch gelogen. Verdammt, ich hoffte so sehr, dass es die Wahrheit war.

Was ich Monroe nicht gesagt hatte, war, dass ich nicht alleine aufkreuzen würde. Für den Fall der Fälle musste ich noch irgendein Ass im Ärmel haben – und vielleicht war es nicht schlecht, wenn er nicht damit rechnete, dass Holden, Celia und Cameron mir den Rücken stärkten.

Cameron wusste, wo es langging, und wir fuhren hinauf ins oberste Stockwerk.

»Sollten wir nicht besser gleich die Cops herbestellen?«, fragte Holden.

Ich knirschte mit den Zähnen. »Gib mir fünf Minuten, dann ruf sie an, okay?«

»Holden hat recht«, murmelte Celia. »Die Cops würden Rosie auf der Stelle festnehmen. Das wollten wir doch, oder nicht?«

Holden berührte mein Kreuz. »Sarah, was auch immer du vorhast, denk daran, dass vor Gericht …«

»Fünf Minuten «, wiederholte ich, harscher als beabsichtigt. Aber ich konnte nicht anders. Sicher, die Cops sofort zu rufen, war die vernünftigste Entscheidung. Aber Rosie van Vliet hätte beinahe meine Zwillingsschwester ermordet, und ich wollte Rache. Keine tödliche Rache, aber ich brauchte diese Minuten, die ich forderte. Es waren nur gottverdammte fünf Minuten. Auge um Auge. Zahn um Zahn. Und danach durfte sie meinetwegen auf Lebzeiten im Knast versauern.

Monroe öffnete uns die Tür, kaum dass ich geklopft hatte, und wir stürmten in die Wohnung.

»Scheiße, was zur Hölle?«, rief Peter und sprang von einem Sofa auf. Es war ein Loft, wie es den Anschein machte, groß und protzig eingerichtet, mit einer riesigen Küche im Industrialstil.

Doch Peter war nicht der Einzige, der neben Monroe anwesend war.

Rosie wirbelte zu uns herum, was ihre Locken tanzen ließ. Ihre Augen weiteten sich, und zum ersten Mal wirkte sie vollkommen überrumpelt.

Schwer atmend starrte ich sie an.

»Was wollt ihr hier?«, fuhr Peter uns an und trat neben Rosie. »Raus aus meiner Wohnung!«

Cameron trat vor und ballte die Hände zu Fäusten. »Ihr werdet im Gefängnis verrotten«, sagte sie mit kalter, harter Stimme. »Ihr alle beide.«

»Besonders du«, sagte ich und starrte Rosie nieder. »Ich habe dich gesehen. Im Krankenhaus. Du warst das mit Payton.«

Ihr ohnehin schon schneeweißes Gesicht verlor auch den Rest an Farbe. Dann setzte sie eine harte Miene auf. »Keine Ahnung, was du meinst, Süße.«

»Kann mir mal jemand erklären, was hier gerade passiert?«, fragte Monroe aufgebracht. »Was ist mit Payton? Geht es um den Unfall?«

Mit bedrohlichen Schritten trat ich auf Rosie zu. »Du hast ihr etwas verabreicht. Wegen dir wäre meine Schwester heute fast an einer Überdosis gestorben.«

Rosie verzog keine Miene. Peter auch nicht. Also hatte der Bastard davon gewusst.

Nur Monroe wirbelte zu Rosie um. »Du hast was getan?«, fragte er mit kalter Stimme.

»Es ist vorbei, Rosie«, sagte ich, ohne sie auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Du kommst aus dieser Nummer nicht mehr raus. Das war versuchter Mord, und es gibt Zeugen und Überwachungskameras.«

»Dumm wie eh und je«, sagte plötzlich Peter und schob sich zwischen Rosie und mich. Er baute sich vor mir auf und fletschte die Zähne. »Du raffst wirklich nichts, du dümmliche Fotze. Wir haben Richter und Anwälte und selbst die Cops auf unserer Seite. Sieh selbst, wen sie festnehmen würden, wenn ihr die Bullen herholt.«

Ich hielt den Anblick dieses Arschlochs nicht mehr aus, holte aus und rammte ihm die Faust in den Magen.

Stöhnend krümmte er sich zusammen. »Schlampe!«

»Geh mir aus dem Weg, Peter«, sagte ich. »Oder die nächste Faust landet nicht in deinem Magen, sondern in deinen Eiern.«

Peter bewegte sich plötzlich so schnell, dass ich kaum schalten konnte. In einem Moment brannten seine Augen voller Hass, dann flog mein Kopf zur Seite, und ein betäubendes Brennen schoss in meine Wange.

Ich stolperte zurück, und in meinem Ohr begann es zu klingeln.

»Du Bastard«, hörte ich Holden knurren. Im nächsten Moment war er bei mir und schlug Peter ins Gesicht. Monroe schien gleichzeitig dazwischengehen zu wollen, und während mein Ohr noch dabei war, das Klingeln vom Schlag zu verdauen …

… stand plötzlich Rosie vor mir, vollkommen außer sich und keuchend. Aus dem Nichts hielt sie ein Klappmesser in der Hand und drückte es mir im nächsten Moment gegen den Hals.

»Rosie!«, schrie Cameron entsetzt.

»Ich hätte der Schlampe mehr reindrücken sollen, nur um sicherzugehen«, zischte sie. »Das nächste Mal sorge ich dafür, dass ihr beide verschwindet, ihr widerlichen schwarzen Kakerlaken.«

Die Klinge drückte sich gegen meine Kehle, und ich spürte ein warmes Brennen. Meine Augen weiteten sich, und nicht nur ich erstarrte.

Alle erstarrten.

»Rosie«, sagte Holden schwer atmend. »Gib mir das Messer. Du musst das nicht tun.«

Rosies Blick zuckte zu ihm. Ihre Augen waren groß und rund und hektisch. Ihr Atem ging immer schneller. Sie wirkte wie ein in die Enge getriebenes Tier.

Sie wusste es. Sie wusste, was sie getan hatte und dass es Zeugen gab. Dass sie einen Fehler gemacht hatte.

»Geht dir der Arsch auf Grundeis?«, fragte ich leise.

»Rosie, tu das nicht«, sagte Celia und trat neben uns. »Du willst das nicht tun. Du weißt, was passiert, wenn du …«

»Halt deine beschissene Klappe, Celia!«, kreischte sie, und ihre Hand und das Messer begannen zu zittern. Brennender Schmerz begleitete den Einschnitt. Ich spürte, wie sich ein Blutstropfen löste und zwischen meinen Schlüsselbeinen hinabrann.

»Wenn du das Messer nicht sofort fallen lässt …«, begann Monroe, doch seine Drohung führte nirgendwohin. Rosie war in diesem Augenblick diejenige mit der Macht. Der Macht über mich. Mein Leben.

Sie und ich starrten uns in die Augen. Ich sah die dunklen Abgründe in ihrem irren Blick.

Warnend drückte sie die Klinge fester gegen meinen Hals.

»Rosie«, sagte nun Peter mit harter, befehlender Stimme. Er trat neben sie und streckte die Hand aus. »Gib mir das Messer. Ich übernehme das.«

Galle stieg meinen Hals hinauf. Ich übernehme das. Er wollte …

Diesmal löste Rosie den Blick von mir und sah Peter an. Ich tat es ebenfalls. Sah ihn an.

Ein boshaftes Lächeln lag auf seinen aufgesprungenen, blutigen Lippen.

»Lass mich das tun. Ich habe es verdient.« Dann zuckte sein Blick zu mir. »Der Spaß fängt jetzt erst richtig an, Sarah.«

Die Klinge löste sich von meinem Hals, und Rosie gab Peter das Messer.

Holden und Monroe schienen beide nur auf den Moment gewartet zu haben, denn sie stürzten sich auf Peter. Doch er war schneller und holte aus.

Und dann spürte ich einen heißen, stechenden Schmerz.

Ich keuchte.

Blickte an mir hinab.

Und starrte auf den Griff des Messers, der aus meinem Bauch ragte.