KAPITEL 37
Der Sand der Zeit

Sarah

Es war die richtige Entscheidung gewesen, zunächst einmal bei Holden unterzukommen. Paytons Wohnung war zu klein und bot trotz des Gästezimmers nicht genug Platz für uns alle. Holden hatte vier Gästezimmer und sich zudem dazu bereit erklärt, uns alle unterzubringen. Ich hatte wegen meines schlechten Gewissens versucht, es ihm auszureden, aber er bestand darauf. Deshalb herrschte hier nun volles Haus. Glücklicherweise hatten Mom und Dad sich dazu entschieden, in Paytons Wohnung zu schlafen, um uns etwas Freiraum zu geben. Donovan und Laurel blieben dafür ebenfalls bei Holden. Nur Celia, Holly und Cameron hatten sich dagegen entschieden. Celia kümmerte sich um die beiden, und sie schliefen bei Cameron. Sie und Cameron hatten beide psychologische Betreuung in Anspruch genommen nach dem, was geschehen war und was wir hatten mitansehen müssen. Dennoch kamen sie entweder vorbei oder riefen mehrmals am Tag per FaceTime an. Obwohl Holly nicht eingeweiht gewesen war, rührte es mich, zu sehen, wie sehr sie uns nun unterstützte.

Niemand von uns war auf Monroes Beerdigung gegangen. Ein paar Tage hatte ich mit dem Gedanken gespielt, ihn letztendlich aber verworfen, nicht nur, weil jeder Schritt, den ich tat, ziemlich schmerzte. Ich konnte es nicht. Mittlerweile war die Realität in all ihrer geballten Kraft zu mir durchgedrungen, wie ein heißer Stich in die Brust. Monroe Darlington war tot. Und er war ein manipulatives, gefährliches Monster gewesen. Außerdem waren Peter und Rosie festgenommen worden. Ganz »zufällig« hatte das Video von Cameron seinen Weg zur Polizei gefunden, denn sie hatte den Beweis festgehalten, dass Peter seinen Bruder umgebracht hatte. Ein weiterer Grund dafür, dass Cameron nicht hier war und Celia sich um sie kümmerte, war, dass sie damit begonnen hatte, in Talkshows und bei Nachrichtensendern zu erzählen, was Peter getan hatte. Er bekam endlich, was er verdiente, und die Medien stürzten sich wie Piranhas auf die Neuigkeiten. Ich bewunderte Cameron dafür. Für ihren Mut. Für die Stärke, immer und immer wieder über die schmerzhaften Dinge zu sprechen, die ihr angetan worden waren. Ihr Gesicht herzugeben. Zuzulassen, dass sie auf Dutzenden Covern und in Tausenden Social-Media-Postings zu sehen war. Aber es war das, was Cameron und Payton gewollt hatten. Sie hatten Peters Ruf vollkommen zerstört, und die Öffentlichkeit war nun auf ihrer Seite.

Rosies Prozess stand noch bevor, aber Holden war guter Dinge, dass sie für eine ziemlich lange Zeit ins Gefängnis wandern würde. Mordversuch, Körperverletzung, Drogenbesitz und Drogenhandel waren genug, um ein paar Jahre zusammenzubekommen.

Mom und Dad trafen sich jeden Tag mit einem Team von Anwälten aus Holdens Kanzlei, um Fairfax in Grund und Boden zu klagen. Auch sie hatten sich an große Nachrichtensender und Zeitungen gewandt – und diesmal hinderte sie nichts und niemand daran, einen Fuß in die Redaktionen zu setzen.

Die Gerechtigkeit war unendlich süß. Und wäre ich nicht so verflucht erschöpft gewesen, hätte ich darauf angestoßen.

Es war genau das geschehen, was wir so sehr erhofft hatten.

Wenngleich es sich so anfühlte, als wäre Monroes Tod ein hoher Preis dafür gewesen, so grauenvoll die Dinge auch waren, die er getan hatte.

***

Ein paar Tage später lungerten Payton und ich auf der Couch herum, während Laurel an der Küchenzeile ein paar Snacks zubereitete. Payton war gerade erst von ihrem Mittagsschlaf aufgewacht und noch ein wenig benommen. Sie nickte immer wieder ein. Die vielen Therapiestunden laugten sie aus, aber sie machte jeden Tag großartige Fortschritte.

»Was hast du da?«, fragte ich, als Laurel sich mit einem Tablett in der Hand neben mich setzte. Ich beugte mich zu ihr.

Sie grinste mich an und schob es mir auf den Schoß.

Mit einem aufgeregten Laut sah ich sie an. »Boston Cream Donuts und Schoko-Minzeis? Echt jetzt?«

»Ich weiß, ich bin eine Heilige«, sagte Laurel und warf sich ihre Braids über die Schulter. »Das war Emmas Idee. Ich soll dir übrigens Grüße ausrichten, sie hat ein Flugticket für nächste Woche gebucht.«

Ich konnte nicht anders, als zu grinsen, und lehnte mich entspannt zurück. Obwohl ich Laurels Freundin Emma noch nicht gut kannte, war es rührend, dass sie extra für Payton und mich nach New York geflogen kam, um uns ebenfalls zu unterstützen.

Das hier war der erste Moment seit meinem Erwachen im Krankenhaus vor ein paar Wochen, dass Laurel, Payton und ich tatsächlich unter uns waren. Nur wir drei. Mom und Dad waren heute zu Gast bei der New York Times , Holden war in der Kanzlei, und Donovan hatte Vorlesungen, genau wie Celia und Holland.

»Wie fühlst du dich?«, fragte Laurel.

Ich nahm mir einen Donut und biss genüsslich hinein. »Ich hab mich nie besser gefühlt.«

Sie hob die Brauen. Schön, vielleicht war mein Sarkasmus gerade nicht so angebracht.

»Nein, jetzt mal ehrlich«, sagte ich kauend. Der Zucker und die süße Füllung belebten meine Geister. »Mir geht es okay, Laurel. Den Umständen entsprechend echt okay. Mein Bauch zwickt noch, wenn ich mich zu viel bewege oder wenn ich ihn anspanne oder lache, aber ich komme klar. Mit dem Rest auch. Irgendwie.«

»Bist du dir sicher, dass du nicht auch mit Dr. Wolff eine Therapiestunde ausmachen willst?«

Seufzend schüttelte ich den Kopf. »Ich werde schon noch eine Therapie machen, keine Sorge. Aber erst mal nicht. Mir ist momentan nicht danach, über all das zu sprechen, was passiert ist. Ich brauche Zeit für mich. Ehrlich, ich möchte einfach ein wenig durchatmen und versuchen, alles ein bisschen zu verdrängen, statt es aufzuwühlen und es noch anstrengender und schmerzhafter zu machen. Eine kurze Verschnaufpause.«

»Na gut. Geh ganz nach deinem Gespür, so wie es sich richtig anfühlt«, sagte sie und drückte sanft meinen Arm. »Und wenn du Hilfe brauchst, um einen passenden Psychologen oder eine Psychologin zu finden, bin ich für dich da.«

»Danke, Laurel«, sagte ich und meinte es vollkommen ernst.

Sie nahm einen Löffel vom Tablett und steckte ihn in die Eiscreme. »Dafür sind beste Freundinnen da. Ich werde mir trotzdem überlegen, was du für mich tun kannst, denn irgendwie hab ich etwas gut bei dir.«

Ich überlegte und tippte mir ans Kinn. »Wie wären eine Million Dollar?«

Laurel verschluckte sich an der Eiscreme und begann heftig zu husten.

»Ups«, sagte ich grinsend und klopfte ihr auf den Rücken. »Sorry. Geht’s wieder?«

»Eine Million Dollar?!«, fragte sie und sah mich entsetzt an.

Ich zuckte mit den Schultern. »Oder ist das zu wenig? Willst du fünf Millionen haben? Du und Emma könntet zusammen euer Modelabel gründen oder so.«

Ihre Augen weiteten sich. Dann lachte sie auf. »Du hast den Verstand verloren!«

Ich grinste breiter. »Wenn du das Geld nicht willst, musst du es mir nur …«

»Wag es ja nicht, Sarah Quinn. Ich nehme dem Arschloch Fairfax jeden Cent ab, wenn’s sein muss.«

Es war, als hätten wir ihn heraufbeschworen, denn im nächsten Moment klingelte mein Handy. Doch es war nicht Fairfax, der anrief – das hätte mich auch gewundert. Nein, es war Donovan.

»Hey«, sagte ich, als ich abgehoben hatte, und biss wieder vom Donut ab.

»Sarah, macht sofort den Fernseher an und schaltet auf Kanal sieben!«

Ich legte den Donut ab und griff nach der Fernbedienung. »Was ist los?«, fragte ich alarmiert.

»Es ist Fairfax. Er ist tot.«

Mein Magen sackte zu Boden, und ich sah Laurel mit geweiteten Augen an. »Was? «, stieß ich hervor.

»Er hat die Nacht nicht überlebt. Er ist nicht aufgewacht.«

»Was ist los?«, fragte Laurel alarmiert.

»Fairfax.« Hastig machte ich den Fernseher an und schaltete auf Kanal sieben. »Donovan sagt, dass er tot ist!«

»O mein Gott!«, stieß sie hervor. »Ernsthaft? Wie ist das passiert? Hatte er einen Unfall oder so?«

»Nein, Donovan sagte, er sei eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.« Meine Kehle war mit einem Mal staubtrocken. Fairfax war tot. Er war tot !

In diesem Moment hörten wir es auch von einem Nachrichtensprecher. Im Hintergrund prangte ein schwarz-weißes Bild von Fairfax.

»Der Geschäftsmann und Konzernmogul Wilson Fairfax ist heute gestorben«, sagte der Nachrichtensprecher. »Insidern zufolge handele es sich um einen natürlichen Tod infolge einer schweren Erkrankung, über die nicht viel bekannt ist. Auch ein Suizid ist nicht ausgeschlossen, in Hinblick auf das, was aktuell um seine Stiefsöhne Peter und Monroe Darlington herum geschehen ist, sowie der nun an die Öffentlichkeit gedrungene Skandal um die Misshandlung von Jane Quinn und den gewaltsamen Tod von Annabeth Sawyer. Erst kürzlich wurde bekannt, dass Peter Darlington seinen älteren Bruder Monroe Darlington getötet haben soll. Aber bisher handelt es sich nur um Gerüchte. Die genaueren Gründe seiner Todesursache sind nicht bekannt gegeben worden. Seine Ehefrau Corinne Darlington-Fairfax und seine Pressesprecher haben sich zurückgezogen und verweigern fürs Erste weitere Angaben, um Zeit zum Trauern zu finden. Wilson Fairfax wurde zweiundsechzig Jahre alt und hinterlässt zwei Töchter, Sarah und Payton Quinn.«

Laurel und ich schrien auf, als plötzlich ein Foto von Payton und mir gezeigt wurde.

»Scheiße!«, rief ich und schlug mir die Hand vor den Mund. »Fuck, was zum Teufel?«

Payton murrte neben mir und wurde wach. »Was ist denn los?«, fragte sie mit so leiser Stimme, dass ich sie kaum verstehen konnte. Energisch klopfte ich ihr aufs Knie.

»Sieh hin. Zum Fernseher!«

Payton setzte sich schwerfällig auf. Dann schnappte sie nach Luft. »Oh!«

»Keine Ahnung, woher sie die Info haben«, sagte Donovan am Hörer. Ich hatte schon fast vergessen, dass ich ihn noch dranhatte.

Stöhnend rieb ich mir über das Gesicht. »Na toll. Ich habe wirklich kein Interesse daran, dass jetzt die Medien auch noch auf uns aufmerksam werden. Mom und Dad haben uns nicht ohne Grund bei ihren ganzen Storys und Artikeln rausgehalten. Woher zum Teufel wissen sie davon? Wer hat es ihnen gesagt?«

Laurel sah mich mitleidig an. »Tut mir so leid, Sarah. Ihr hattet kaum Zeit mit Fairfax.«

Sein Tod traf mich nicht. Ob das seltsam war? Es war schockierend, aber ich kannte diesen Mann kaum, hatte nicht die Gelegenheit bekommen, ihn besser kennenzulernen. Und nach allem, was Mom mir erzählt hatte, tat es mir noch weniger leid.

Ich schaltete den Fernseher wieder aus. Der Sprecher hatte sowieso keine Ahnung, was genau geschehen war, und mit seinem Geschwafel über Fairfax’ Biografie und Familiengeschichte ging er mir auf die Nerven.

Payton und ich sahen uns an. Obwohl es ihr noch schwerfiel, Dinge zu behalten, hatte Mom auch ihr alles über Fairfax und unsere Tante Annabeth erzählt. Es war genug gewesen, dass auch Payton nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte und genauso wie ich jeden Kontaktversuch in den letzten Tagen abgeblockt hatte.

Sie sah erschüttert aus, aber nicht am Boden zerstört.

»Er wäre sowieso gestorben«, sagte sie langsam. »Früher oder später. Es war abzusehen gewesen. Er war schwer krank.«

»Die Bekanntgabe eurer Namen ist trotzdem seltsam«, überlegte Donovan. Ich stellte ihn kurzerhand auf Lautsprecher. »Fairfax hat sein Privatleben jahrzehntelang strikt aus der Presse rausgehalten. Über seine Familie ist online kaum etwas zu finden, und er hat dafür gesorgt, dass niemand aus der Familie in Klatschblättern erschien. Wieso hätte er das tun sollen?«

»Dass ihm sein guter Ruf wichtiger als alles andere ist, hat er ja zur Genüge bewiesen«, fügte ich bitter hinzu.

»Feiges Schwein«, sagte Laurel und verzog das Gesicht.

»Danke für den Anruf, Donovan«, sagte ich.

»Ich komme später vorbei. Schreibt mir, wenn es Neuigkeiten gibt.«

Nachdem ich aufgelegt hatte, sahen Payton und ich uns wieder an.

»Alles okay?«, fragte ich besorgt. »Du kanntest ihn besser als ich.«

Sie nickte. Doch sie hatte die Brauen zusammengezogen. »Er … Wilson ist wirklich tot?«, flüsterte sie.

»Arme Corinne«, murmelte ich. »Ich kann sie zwar nicht leiden, aber es muss hart sein, innerhalb so kurzer Zeit Sohn und Ehemann zu verlieren und den anderen Sohn ins Gefängnis gehen zu sehen.«

Wortlos nahm Payton sich einen Donut vom Tablett auf meinem Schoß. Laurel stach ihren Löffel wieder in die Eiscreme und schob ihn sich in den Mund.

»Was machen wir jetzt?«, fragte sie mit dem Löffel im Mund.

Ich war bereits dabei, Mom anzurufen, allerdings ging nur die Mailbox dran. Dad hob auch nicht ab.

Ich schrieb ihnen beiden eine Nachricht, dass sie sofort zurückrufen sollten. Verdammt, bestimmt konnten sie nicht abheben, weil sie in irgendwelchen Meetings oder Interviews oder Radioshows feststeckten.

Schließlich versuchte ich es bei Holden.

Er ging auch nicht ans Telefon, und es ließ mich frustriert aufstöhnen. »Was ist nur los mit den Leuten?«

»Gib mir dein Handy«, sagte Laurel und streckte fordernd die Hand aus.

Mit gerunzelter Stirn reichte ich es ihr. »Was hast du vor?«

Sie warf es neben sich aufs Polster und stach wieder in die Eiscreme. »Keine Handys mehr. Du hast allen geschrieben, sie rufen schon zurück, wenn sie Zeit haben. Früher oder später erfahren sie es sowieso, wenn das nicht schon längst passiert ist. In der Zwischenzeit musst du dich jetzt bitte mit Zucker vollstopfen, okay?«

Obwohl ich mich seltsam fühlte, irgendwie betäubt, betroffen und gleichzeitig müde und gleichgültig, musste ich lächeln. Wir drei waren wieder vereint. Und der Horror hatte endlich ein Ende gefunden.

Mit Wilson Fairfax’ Tod war wahrhaftig alles vorbei.

Tränen stiegen mir in die Augen, und ein Schwall Gefühle schnürte mir mit einem Mal die Brust zu.

Ich nahm den Rest meines Donuts in die Hand und biss hinein.

***

Laurel hatte recht behalten. Als Mom und Dad am frühen Abend in Holdens Wohnung eintrafen, wussten sie längst Bescheid. Die Meldung über Wilson Fairfax war immerhin in allen Nachrichten. Auch Holden hatte davon gehört. Er hatte sich ohne große Umschweife gleich auf den Weg zu Fairfax’ Anwälten gemacht, um als Paytons und mein Anwalt über den Nachlass und unsere Bilder in den Medien zu sprechen.

Deshalb tigerte ich vor den geschlossenen Fahrstuhltüren auf und ab, nervöser, als ich sein sollte. Den summenden Schmerz in meinem Bauch ignorierte ich dabei geflissentlich.

»Liebling«, sagte Dad seufzend von seinem Stuhl am Esstisch aus. »Du überanstrengst dich. Setzt dich hin, bevor du noch einen Graben in den Boden läufst. So kommt Holden auch nicht schneller zurück.«

Stöhnend blieb ich stehen, stemmte die Hände in die Hüften und drehte mich zu ihm um. »Ist mir schon klar. Aber ich hasse es, untätig herumzusitzen.«

Cameron stieß vom Sofa neben Payton ein Schnauben aus. »Ich bin mir sicher, die Klatschzeitschriften würden sich freuen, wenn du dich von ihnen interviewen lässt.«

»Ganz bestimmt nicht«, sagte ich und machte ein finsteres Gesicht. »Schlimm genug, dass sie unsere Namen und Bilder überhaupt in den Nachrichten zeigen. Ich will nicht in der Öffentlichkeit stehen.«

Mom trat zu mir, hakte sich bei mir ein und zog mich zum Esstisch, wo sie mich auf einen Stuhl drückte. »Das musst du auch nicht, Baby.«

Missmutig sah ich mich um. Holdens Wohnung war von warmem Licht erfüllt, und die Lichter von Manhattan fielen glitzernd durch die Fenster. Celia und Donovan waren ebenfalls hier – zum Glück gab es genug Platz für acht Leute. Und zum Glück hatte Holden seinen Neffen Reggie für eine Weile zu seiner Schwester Naomi geben können. Es wäre mit Sicherheit zu viel für einen Sechsjährigen gewesen, jeden Tag so viele Menschen um sich herum zu haben. Und doch hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass wir uns hier so breitmachten, auch wenn Holden mir immer wieder versicherte, dass er es gerne tat und es ihm keine Umstände bereitete. Und dann fungierte er auch noch als unser Anwalt, auch wenn er uns nicht offiziell vertrat, wegen des Interessenkonflikts. Er tat einfach zu viel für uns. Wie sollte ich mich dafür je revanchieren?

Hinter mir erklang das vertraute Geräusch von sich öffnenden Fahrstuhltüren.

Sofort sprang ich auf. »Endlich, du bist … Au !« Ich fasste mir an den Bauch und krümmte mich. »Scheiße, das war etwas zu schnell«, stieß ich hervor und drehte mich wesentlich langsamer um. Holden kam mit langen Schritten und einem schiefen Lächeln im Gesicht auf mich zu. Im Gehen legte er seine Aktentasche auf der Kücheninsel ab und schälte sich aus seinem Mantel.

»Und?«, fragte ich begierig und stützte mich mit meiner freien Hand am Esstisch ab. »Was hat sich ergeben? Was haben sie gesagt?«

Nicht nur ich wartete gebannt auf eine Antwort, auch die anderen waren verstummt und beobachteten ihn gespannt.

Er legte den Mantel über eine Stuhllehne neben mir.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte er lächelnd. »Ihr gehört nun zu den reichsten Menschen Nordamerikas.«

Meine Kinnlade klappte herunter – und ich war definitiv nicht die Einzige im Raum.

»Ja!«, schrie Laurel jubelnd. »Ich wusste es!«

Donovan klatschte, und auch Cameron und Celia freuten sich offenkundig.

»Was?«, fragten Payton und ich gleichzeitig.

»Komm schon«, sagte ich und ergriff mit beiden Händen das Jackett seines Anzugs, ehe ich Holden zu mir zog. »Wir brauchen mehr Details. Rede, Sutherland.«

»Herrisch«, sagte er leise und küsste meine Wange. Das warme Gefühl sickerte tief bis in meine Haut und ließ ein Kribbeln zurück. Dann sah er wieder in die Runde. Sein Blick blieb an meiner Mom hängen. »Er hat Peter aus dem Testament gestrichen. Corinne bekommt ein paar Immobilien, Unternehmensanteile und mehrere Zehnmillionen – aber achtzig Prozent des Erbes gehen offiziell an Sarah und Payton Quinn. Und es war Fairfax, der eure Bilder durch seine Pressesprecher an die Medien durchgegeben hat. Offenbar schon vor einigen Wochen. Er wollte wohl von Anfang an erst nach seinem Tod bekannt geben lassen, dass ihr seine leiblichen Töchter seid, und er hat sich von Peter und Monroe distanziert. Vor seinem Tod scheint er alles in die Wege geleitet zu haben.«

Mom schrie auf und schlug die Hände über dem Mund zusammen.

»Vermutlich ein letzter Versuch, um seinen Ruf zu retten, selbst wenn er nicht mehr da ist«, murmelte ich und schüttelte den Kopf. Doch mein Puls beschleunigte sich. Achtzig Prozent. Achtzig Prozent des Erbes gingen an uns!

Je tiefer die Worte in mich einsanken, umso sprachloser wurde ich.

Ich sah zu Holden auf, dann drehte ich mich mit großen Augen um und sah Payton an.

Sie starrte mit großen Augen zurück. Tränen brannten darin. »Wir sind frei«, sagte sie leise. Und ich konnte es nur hören, weil die anderen ebenfalls vollkommen sprachlos waren.

Und dann konnte ich nicht anders: Ich lachte auf. »Frei und verdammt noch mal steinreich!«

»Was habt ihr jetzt vor?«, fragte Dad vorsichtig. »Was wollt ihr mit dem Geld machen?«

Ich verdrehte die Augen.

Ein so breites Lächeln erschien auf meinen Lippen, dass mein Gesicht wehtat. Ich sah in die Runde. Alle Menschen, die mir wichtig waren, waren hier versammelt.

Tränen stiegen mir in die Augen. Ich wusste, welche Möglichkeit uns nun offenstand. Und ich wusste, wie geschichtswürdig genau dieser Augenblick mit meiner Familie und meinen Freundinnen und Freunden war. Mit Holden. Ich ergriff seine Hand und verschränkte unsere Finger miteinander.

»Wir machen das, was jeder superreiche Mensch tun sollte, der so viel blutbesudeltes Geld besitzt«, sagte ich und sah noch einmal meine Zwillingsschwester an. Dann blickte ich zu meinen Eltern. Zu meiner Mom.

»Wir werden die verdammte Welt verändern.«