Warum hatte sie dort oben in dem Schrank nicht Zeter und Mordio geschrien? Während James Easton sich durch die Menge im Salon schlängelte und seinen nächsten Schritt überlegte, entdeckte er seine geheimnisvolle Lady, wie sie Angelica Thorold beim Servieren des Tees half. Sie bildeten einen hübschen Gegensatz: Miss Thorold mit ihren blonden Ringellocken und der rosigen Haut und Fräulein Schnüffelnase (wie er sie insgeheim nannte) mit ihrem schwarzen Haar und dem entschlossenen Blick. Welche Farbe hatten ihre Augen – haselnussbraun? Im Kerzenlicht war das nicht richtig zu erkennen gewesen. Es war ihr eindeutig unenglisches Aussehen, das Miss Thorolds puppenhafte Schönheit neben ihr besonders hervorhob. Was mit Sicherheit auch bezweckt war.
Fräulein Schnüffelnase musste sich wohl die Zeit genommen haben, ihre Haare wieder hochzustecken. Sie waren jetzt straff zurückgekämmt, während sie ihr vorhin um die Schultern gefallen waren. Er erinnerte sich an ihren Duft – nach frischer Wäsche, zitroniger Seife und nach Mädchen. Er hatte sich gewundert, dass sie kein Parfüm trug, war jedoch in dem engen Schrank dankbar dafür gewesen.
Er betrachtete sie vom anderen Ende des Raumes. Ihr Kleid, schlicht und hochgeschlossen, vermittelte klar und deutlich, dass sie keine Tochter aus der Londoner Gesellschaft war. Ihre Frisur unterstrich das: In dieser Saison war es modisch für junge Damen, einige Ringellocken über den Ohren zu tragen. Auch hielt sich Fräulein Schnüffelnase etwas im Hintergrund. Mit gesenktem Blick schenkte sie eine Tasse Tee nach der anderen ein. Miss Thorold stand hingegen vor ihr, fügte anmutig Milch und Zucker hinzu und reichte die Tassen an die anstehenden Gäste weiter – die vor allem aus Junggesellen bestanden, die sie anhimmelten. James’ älterer Bruder George war unter ihnen.
Als könnte sie seinen unverhohlenen Blick spüren, hob Fräulein Schnüffelnase plötzlich den Kopf und sah ihn an. Ein heftiges Kribbeln, das sowohl angenehm wie auch erschreckend war, rann ihm durch den Körper. Er musste sich zwingen, reglos und ausdruckslos zu bleiben. Ihr Blick war herausfordernd und keineswegs beschämt. Sie starrte ihn noch ein paar Sekunden an – um ihn einzuschätzen? –, dann sah sie hochmütig fort, als habe sie alles gesehen, was sie wissen wollte. Er unterdrückte ein Grinsen. Freche Göre.
Für eine Gesellschafterin war das Mädchen ziemlich attraktiv. Sie schien auch nicht dumm zu sein – ihr Verhalten in dem Schrank hatte das hinlänglich bewiesen. Eine weniger kluge Frau hätte geschrien oder sich gewehrt oder zumindest leise zu weinen angefangen. Ihre Reaktion hingegen war rasch, gefasst und vernünftig gewesen. Also keine gewöhnliche junge Dame. Vielleicht war sie eine arme Verwandte? Und schließlich stellte sich noch die Frage, warum sie in dem Arbeitszimmer herumgeschnüffelt hatte. Allein. Im Dunklen.
James bewegte sich langsam durch den Raum auf die geöffneten Balkontüren zu. Lieber nahm er jetzt den Gestank in Kauf, als zu ersticken.
»Der junge Mischter Schames – welch eine Überraschung!«
Er blinzelte und nahm den Mann ins Visier, der plötzlich neben ihm aufgetaucht war. »Mr Standish. ’n Abend.« Warner Standish war ein alter Freund der Familie, ein aufgeblasener Narr und ein schamloses Klatschmaul.
Standishs spitz zulaufender rötlicher Bart teilte sich und enthüllte den Grund für seinen Sprachfehler: ein prachtvolles hölzernes Gebiss. »Hätte nicht geglaubt, Sie so schpät hier anschutreffen, junger Mann. Fascht schon Ihre Bettscheit!«
James zuckte die Schultern. Lohnte es sich, darauf hinzuweisen, dass er fast zwanzig war? Wohl eher nicht.
»Auf welche Schule gehen Sie doch noch, Eton oder Harrow?«
Weder noch. »Ich habe die Schule schon vor ein paar Jahren verlassen, Mr Standish.«
»Aha. Dann sind Sie wohl in Okschford?«
»Nein; ich arbeite bei meinem Bruder.« James biss die Zähne zusammen.
»Bei diesem Brückenbauunternehmen? Wie schpeschiell!«
»Ich setze unsere Familientradition fort.« Was du nur zu gut weißt, blöder Kerl, setzte er stumm hinzu.
»Und wo ischt Ihr Bruder?«, wollte Standish wissen. »Habe ihn heute Abend noch gar nicht gesehen.«
»Da sind Sie wohl der Einzige«, sagte James gepresst. Gute Güte, George war so peinlich. Heute Abend hatte er sich in Bezug auf Miss Thorold völlig zum Narren gemacht, hatte sie belagert, war ihr mit Punschgläsern und Kuchentellern hinterhergelaufen und hatte versucht, jeden Walzer mit ihr zu tanzen, obwohl ihre Tanzkarte schon voll war. Alle hatten sich über George lustig gemacht.
»Wie? Waschischt?«, brüllte Standish.
James machte eine Bewegung mit dem Kinn. »Teetisch.«
»Ah. Wartet wohl darauf, von Misch Thorold bedient zu werden, wasch?«
»Er ist wahrscheinlich schon bei der vierten Tasse. Ach, übrigens«, setzte James beiläufig hinzu, »wer ist denn das Mädchen, das den Tee mit Miss Thorold ausschenkt?«
»Musch wohl eher heischen, wasch ischt dasch, nicht wer, lieber Junge.«
James zog eine Augenbraue hoch. »Inwiefern?«
»Habe mich schon nach ihr erkundigt. Thorold schagt, dasch sie die neue Gesellschafterin seiner Tochter ischt … heischt Quinn. Misch Quinn.«
»Sagt er …?«
»Nach dem, wasch kürschlich paschiert ischt, ischt dasch wohl kaum überraschend, oder?«
James schüttelte den Kopf. Der allgemeine Klatsch war ihm gänzlich unbekannt. »Das müssen Sie mir leider genauer erklären.«
Standish feixte. »Einesch der Schtubenmädchen ischt beurlaubt … für ungefähr neun Monate, wenn Sie verstehen, wasch ich meine. Die Nachfolgerin hatte ein Gesicht wie ein Pferdearsch. Misch Quinn ischt einen Monat schpäter hier aufgetaucht.«
James knirschte innerlich mit den Zähnen.
»Thorold ischt ein gerischener Teufel. Obwohl, ich an seiner Schtelle hätte nicht versucht, sie alsch angeschtellte Gesellschafterin einschuführen … ischt doch viel schu offensichtlich, finden Sie nicht?«
»In seinem eigenen Haus?«
Standish kicherte. »Könnte er esch bequemer haben?« Er drehte sich um und sah zu Miss Quinn hinüber, die immer noch Tee ausschenkte. »Leckeresch Teil, wenn Sie mich fragen. Hat so wasch Ekschotisches … erinnert mich an eine schpanische Tänscherin, die ich mal kannte. Oder war sie ägyptisch? Hmm – vielleicht auch so ’ne Art Mischling?« Er seufzte glücklich. »Kann mich beim Satan nicht mehr dran erinnern, aber sie war schiemlich dunkelhäutig.«
James versuchte, sich das nicht allzu bildlich vorzustellen. Aber was Standish erzählt hatte, klang ziemlich wahrscheinlich. Das Mädchen war attraktiv, sprachgewandt, nicht verheiratet. Und sie war jung: sechzehn oder siebzehn, schätzte er. Es erklärte, warum sie sich bei diesem Fest so im Hintergrund hielt. Es erklärte auch ihre ungewöhnliche Gefasstheit in dem Schrank und warum sie lieber den Mund hielt, obwohl sie mit einem Fremden darin steckte, statt gerettet und mit ihm entdeckt zu werden. Ja, das war die am wahrscheinlichsten klingende Erklärung für das Geheimnis um Fräulein Schnüffelnase.
»Ist das allgemein bekannt?« Er fragte so beiläufig wie möglich. »Oder nur eine Vermutung?«
»Nicht überscheugt?«
James zuckte die Schultern. »Wenn es keinen Beweis gibt …«
Standish senkte die Stimme. »Sehen Sie nicht, wie eisig sich Misch Thorold ihr gegenüber verhält? Sie mag sie nicht im Hause haben.«
James hatte die Anspannung zwischen den beiden jungen Damen tatsächlich bemerkt. »Hmm.«
Standish grinste ihn breit an. »Sind wohl schiemlich von ihr eingenommen, wasch?«
James riss den Blick von Miss Quinn los und sah Standish kalt an. »Ich bin nur erstaunt, dass Thorold seine Geliebte bei seiner Frau und seiner Tochter einführt.«
»Sie sind wohl schum Moralaposchtel geworden, wasch?«
»Nein, ich frage mich nur, warum sie sich noch nicht längst die Augen ausgekratzt haben.«
»Vielleicht haben sie esch ja schon mal versucht. Ach, fallsch Sie schur Bar gehen, dann bringen Sie mir doch eine Whischky-Soda mit, junger Mann, ja?«
Aber James war bereits außer Hörweite.
***
Wer hätte vermutet, dass so viele Gäste an einem so heißen Abend Tee wünschten? Mary wischte sich diskret ein paar Schweißtropfen von der Stirn und hob den dampfenden Teekessel. Tee zu servieren war für Angelica Thorold eine hervorragende Gelegenheit, um ihre Reize darzubieten – eine sanfte Stimme, anmutige Finger ohne Handschuhe, ein glitzerndes Diamantencollier im Ausschnitt. Und es funktionierte: Eine lange Schlange von Männern hatte sich am Tisch gebildet. Viele davon waren Junggesellen oder Witwer. Nicht dass Mary Angelica den gesellschaftlichen Erfolg missgönnt hätte, aber nach fast einer Stunde wurde diese Teezeremonie eindeutig langweilig.
Zudem war sie peinlich für sie. Obwohl Mary versuchte, den Kopf gesenkt zu halten und hinter Angelica zu stehen, wurde sie dennoch zum Ziel intensiver und zudringlicher Blicke. Sie hatte es schon immer gehasst, angestarrt zu werden. Obwohl es meistens harmlos war, bestand doch immer die Gefahr, dass sie jemand ansah und die Wahrheit erriet … und sie konnte es sich nicht leisten, dass jemand herausfand, was sie wirklich war.
Dann und wann schnappte sie Gesprächsfetzen auf, mit denen sich Gäste nach ihr erkundigten. Die eine oder andere Bemerkung war absichtlich laut geäußert, sodass ihr das Blut in die Wangen stieg und sich ihre Hände um die Teekanne krampften. Sie zwang sich zur Ruhe; Zorn und feines Porzellan passten schlecht zueinander. Mechanisch schenkte sie die nächste Tasse Darjeeling ein.
»Da bin ich wieder, Miss Thorold!«, sagte ein untersetzter Mann mit rosigen Wangen. Er war ungefähr dreißig, hatte hellbraunes Haar und einen Vollbart und sein Gesicht war mit einem glänzenden Schweißfilm überzogen.
Angelica lachte ungläubig. »Mr Easton! Das ist bestimmt schon Ihre sechste Tasse Tee!«
»Gut möglich, Miss Thorold, aber ich muss feststellen, dass ich heute Abend sehr durstig bin! Muss an der Hitze liegen!«
»Ach, tatsächlich?«
»Oder an dem köstlichen Tee. Oder …« Er beugte sich näher. »Vielleicht liegt es auch an der reizenden Dame, die – autsch!« Er schrie auf, drehte sich abrupt um und starrte den Mann hinter sich finster an. »Hören Sie doch auf, mich zu knuffen!« Dann wurde seine Stimme wieder ruhiger. »Ach so. Du bist das, James.«
James beachtete ihn nicht weiter. »Was mein Bruder sagen wollte, Miss Thorold: Es ist ein wundervolles Fest.«
Gerade wollte Mary Angelica Tasse und Untertasse reichen, da zuckte ihre Hand und ihr Kopf schnellte hoch. Die zweite Stimme – war die des Mannes aus dem Schrank! Die Tasse wackelte auf der Untertasse, dann stand sie still. Doch einen Augenblick später wurde sie durch eine übertriebene Geste von George endgültig umgekippt und eine Flut kochend heißer Tee ergoss sich über Marys linke Hand. So wurde ihr leiser Ausruf des Wiedererkennens von einem lauteren schmerzlichen Einziehen der Luft überspielt. Es gelang ihr, die Tasse auf dem Tisch abzustellen, ohne sie zu zerbrechen, wenn sie dabei auch Tee über Tisch und Boden verschüttete.
Angelica sprang mit einem kleinen Aufschrei zurück. »Sie tollpatschiges Ding!«, rief sie und sah nach, ob ihr Kleid etwas abbekommen hatte.
»Ich bitte um Entschuldigung«, murmelte Mary durch zusammengebissene Zähne. »Ein kleiner Unfall.« Sie suchte nach einer Serviette, mit der sie die Pfütze aufwischen konnte.
James griff beherzter ein. Er winkte einen vorübergehenden Diener herbei und sagte: »Wischen Sie die Pfütze auf.« Mit einem Blick auf Angelica, die sich immer noch eingehend um ihr Kleid sorgte, sagte er trocken: »Und holen Sie die Zofe von Miss Thorold. Schnell.«
»Miss Thorold, ist alles in Ordnung?«, fragte George Easton und ergriff die Gelegenheit, nach Angelicas Hand zu grabschen. »Was für ein grässliches Missgeschick.« Er warf Mary einen vorwurfsvollen Blick zu.
Angelicas Aufschrei hatte einen Haufen besorgter Gäste versammelt: mitfühlende junge Damen, unverhohlen froh, dass es nicht ihr Kleid getroffen hatte, und galante junge Herren, die Angelica immer wieder versicherten, dass sie einfach zu reizend aussähe, wirklich. Eine Schar Damen aus der Müttergeneration drängte herbei und in ihrem Ansturm auf Angelica wurde Mary in Richtung der Balkontüren aus dem Weg gestoßen. Sie hatte nichts dagegen. Es war weniger schlimm, ignoriert als beschimpft zu werden.
»Zeigen Sie mir mal die Verbrennung.«
Die ruhige Stimme ließ Mary erneut zusammenzucken. Sie hob den Kopf, sah in die dunklen Augen von James Easton und war gefasst auf Spott und Verachtung. Doch stattdessen entdeckte sie … Besorgnis? Sie streckte ihm die Hand hin. »Es tut nicht sehr weh.«
Er runzelte die Stirn. Marys Handrücken war mit leuchtend roten Flecken überzogen. »Verbrühungen sind immer sehr schmerzhaft.« Er nahm einem überraschten Gast ein Glas Bowle ab und schaufelte zerstoßenes Eis in sein Taschentuch. »Hier.« Seine Stimme war barsch, aber seine Finger vorsichtig, als er den provisorischen Eisbeutel sanft auf Marys Hand legte.
»Danke.« Mary sah ihn wieder verstohlen an. Er benahm sich sehr erwachsen, aber im hellen Licht des Salons sah er eindeutig viel jünger aus, als sie zunächst angenommen hatte. Er konnte ja höchstens zwanzig sein!
»Ich entschuldige mich für die Tollpatschigkeit meines Bruders.« James Easton war groß und kantig, George untersetzt und breitgesichtig. Sie waren sich kein bisschen ähnlich – abgesehen vielleicht von ihrem aufdringlichen Benehmen.
»Es bedarf keiner Entschuldigung.«
Es entstand eine längere Pause. Dann sagte er: »Das sollte sich ein Arzt ansehen.«
»Es ist nicht schlimm«, versicherte sie wieder.
»Werden die Thorolds so umsichtig sein, einen kommen zu lassen?«
»Meiner Hand geht es gut.« Die verbrühte Haut pochte und strafte sie Lügen.
»Na gut«, sagte er nach einer Weile. »Wenn es ihr gut geht, dann tanzen Sie den nächsten Walzer mit mir.«
Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Die Sekunden zogen sich hin. »Wie bitte?«
»Der nächste Walzer. Tanzen Sie ihn mit mir.« Er klang ungeduldig. »Sie können doch Walzer, oder?«
»Ich kann nicht …« Sie stotterte und versuchte es erneut. »Ich kann nicht mit Ihnen tanzen!«
Er beugte sich leicht bedrohlich über sie. »Warum nicht?«
Indem sie sich zu ihrer ganzen Größe aufrichtete – was nicht viel brachte –, funkelte sie ihn wütend an. »Ein Gentleman kommandiert eine Dame nicht zum Tanzen; er bittet sie. Wenn er eine ablehnende Antwort erhält, zieht er sich wieder zurück«, gab sie ihm deutlich zu verstehen.
Diesmal verzogen sich seine Mundwinkel eindeutig zu einem Lächeln. »Mag ja sein, aber ich gehe wohl recht in der Annahme, dass Sie Ihren Status als Dame aufgegeben haben, als Sie zu mir in den Schrank gestiegen sind.«
»Sch!« Mary wurde rot und sah sich schuldbewusst um. »Sie lassen das ja so klingen, als ob …« Sie verstummte.
Er hob eine Augenbraue. »Ist es nicht so?«
Einen Augenblick starrten sie sich eindringlich an. James’ Ausdruck war nicht zu entschlüsseln, der von Mary offen feindselig. Dann holte sie tief Luft. »Ich kann nicht mit einem der Gäste tanzen. Das wäre unziemlich.«
»Nicht so unziemlich, wie einem Gast gegenüber unhöflich zu sein«, sagte er aalglatt. »Ist es nicht Ihre Aufgabe, zu tun, was Ihnen befohlen wird?«
»Sie sollten mit Miss Thorold tanzen«, sagte Mary durch zusammengebissene Zähne.
»Ihre Karte ist voll.« Und als ob ihm gerade ein neuer Gedanke gekommen sei, fügte er hinzu: »Ich will gar nicht um Ihrer liebenswürdigen Person willen mit Ihnen tanzen, wissen Sie. Aber wir müssen den Vorfall im Arbeitszimmer bereden und so geht das auf die einfachste Weise.«
Mary wollte nicht mit James Easton tanzen. Sie mochte ihn nicht, kein bisschen. Aber ihr Stolz war getroffen. »Ich hätte auch nie angenommen, dass Ihr Interesse persönlicher Art ist«, sagte sie steif. »Und es gibt nichts zu bereden. Wenn Sie jetzt so freundlich wären, mich zu entschuldigen …« Sie machte einen würdevollen Schritt zur Seite und stieß fast mit Michael Gray zusammen.
»Meine Liebe!« Er fing sie sanft auf und hielt sie bei den Ellbogen, um sie am Stolpern zu hindern. »Was um Himmels willen ist denn geschehen? Ich konnte den Tumult vom Billardzimmer aus hören.«
Den hatte der Himmel gesandt. Mary widerstand dem Impuls, James Easton die Zunge herauszustrecken. »Ich habe etwas Tee verschüttet. Versehentlich«, setzte sie rasch hinzu. »Ich glaube, Miss Thorolds Kleid hat dabei ein paar Spritzer abbekommen. Ihre – äh – Freunde waren ziemlich besorgt um sie.«
Michael Gray warf einen kurzen Blick auf Angelica, die gerade aus dem Salon geleitet wurde und tapfer die Tränen fortblinzelte. Sein Ausdruck erstarrte erst und wurde dann hart. »Meine Güte, ist das alles? Es hat ja geklungen, als ob jemand ermordet würde.«
Er hielt sie immer noch bei den Armen. Mary schüttelte sich leicht und er ließ sie mit schelmischem Lächeln los. »Ich freue mich zu sehen, dass Sie unversehrt und nicht hysterisch sind.« Dann fiel ihm jedoch ihre linke Hand auf und er stieß einen entsetzten Ruf aus. »Aber Sie haben ja gar nicht gesagt, dass Sie sich so schlimm verbrüht haben!«
Er griff nach ihren Fingerspitzen, überging ihren Protest und nahm den Eisbeutel weg. Die Verbrennungen, die sich von ihrem Handrücken bis zum Handgelenk zogen, sahen schlimm aus: tiefrot und angeschwollen von dem kochend heißen Tee und von dem Eis.
»Es sieht viel schlimmer aus, als es ist«, sagte Mary, die sich wand, als er sie untersuchte. Sie spürte, dass James Easton sie beide beobachtete. »Wirklich, Mr Gray, machen Sie sich keine Sorgen.«
Michael schüttelte den Kopf. »Das ist eine glatte Lüge, mein Mädchen. Kommen Sie, gehen wir in die Küche und holen Salbe gegen die Verbrennung. Und nennen Sie mich doch bitte Michael.«
Sie zögerte. Sie wollte keine Salbe. Sie wollte allein gelassen werden und darüber nachdenken, was die Ereignisse dieses Abends bedeuteten. Und sie musste sich eigentlich um Angelica kümmern. Aber wenn sie mit Michael ging, würde sie wenigstens dem Salon und den Blicken von James Easton entkommen.
Michael lächelte – reine Koketterie! »Erst wollen Sie nicht mit mir tanzen und jetzt wollen Sie sich nicht von mir helfen lassen. Ich versichere Ihnen, Mary – darf ich Sie Mary nennen? –, ich beiße schon nicht.«
Durch die Wimpern riskierte sie einen Blick auf James und sah, dass sich sein Stirnrunzeln verstärkte. Er machte das abweisendste Gesicht, das sie seit Langem gesehen hatte und das eher zu einem Verhör passte als zu einer Abendgesellschaft.
»Salbe?«, sagte sie zuckersüß. »Was für eine gute Idee, Michael.« Sie legte die unverletzte Hand in seine Ellenbogenbeuge und gestattete ihm, sie fortzuführen.