Es war Viertel vor eins nachts, als Mary zum zweiten Mal an diesem Tag beim Speicherhaus von Thorold & Co. eintraf. Die Straße schien still und verlassen, abgesehen von ein paar Obdachlosen, an denen sie vorbeigekommen war und die zu einem unruhigen Nachtschlaf zusammengerollt in Hauseingängen lagen. In diesem Teil Londons wurde es selten richtig dunkel. Der Fluss reflektierte das Mondlicht, die erleuchteten Fenster und die Straßenlaternen. An diesem Abend allerdings lag Southwark in einer Erbsensuppe, die so dicht war, dass man sie zu spüren vermeinte. Als Mary zur Probe ihre Hand auf Armeslänge von sich streckte, sahen ihre Finger geisterhaft und verschwommen aus.
Seit über fünf Jahren hatte sie keine Jungensachen mehr getragen. Sie hatte fast vergessen, wie bequem und praktisch eine Hose war. Und mit der Mütze tief über ihren Augen hatte der Droschkenfahrer nicht das mindeste Interesse daran gezeigt, wohin sie fuhr oder was sie vorhatte: Er war eher besorgt gewesen, ob sie die Fahrt auch bezahlen könnte. Wenn diese Untersuchung abgeschlossen war, hatte sie Lust, so etwas noch mal zu machen, nur zum Spaß – auch wenn sie auf das heimliche Einbrechen und den stinkenden Fluss verzichten konnte.
Diesmal musste sie sich jedoch darauf konzentrieren, Beweismaterial zu sammeln. Sie war jetzt seit einer Woche bei den Thorolds und konnte nichts vorzeigen. Da der Fall in sechs Tagen abgeschlossen sein sollte, musste sie unbedingt etwas finden, um der Agentur zu helfen – zu was war sie sonst da? Den ganzen Tag hatte sie sich den Kopf zerbrochen. Ihr ursprünglicher Auftrag hatte gelautet, einfach die Augen und die Ohren offen zu halten. Technisch gesehen. Aber Anne Treleaven und Felicity Frame hatten ihre Gründe, sie in den Haushalt einzuschleusen. Sie handelte ja nicht aus persönlicher Neugier, um sich mit der Hauptagentin zu messen; sie handelte nur im Interesse der Agentur. Und sie konnte nichts beisteuern, wenn sie nicht die Initiative ergriff. Denn was nützte schließlich eine Spionin, die nichts erfuhr, nichts hörte, nichts unternahm und auch ihre grauen Zellen nicht in Bewegung setzte?
Das hatte sie sich zumindest den ganzen Tag eingeredet, um ihr Gewissen zu beruhigen. Jetzt war es zu spät, um zu zögern.
Sie schüttelte das anhaltende Gefühl ab, dass sie jemand beobachtete, und machte sich an den Eisenzaun heran. Versuchsweise steckte sie den Kopf zwischen die Stäbe. Es war knapp, aber gerade eben möglich. Als sie noch in Häuser eingebrochen war, war ihre Devise gewesen: »Wo der Kopf durchpasst, passt auch der Rest durch.« Sie warf ihren Beutel mit ihrer Ausrüstung über den Zaun und wartete. Falls dort ein Wachhund herumlief, würde er sich gleich bemerkbar machen.
Eine Minute verging. Nichts … abgesehen von dem nagenden Verdacht, dass sie nicht allein war. Abrupt drehte sie sich um: wieder nichts, natürlich nicht. Memme. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und quetschte sich mit einem Ächzen durch die Stäbe. »Wo der Kopf durchpasst …« In jenen Tagen war sie noch flachbrüstig gewesen.
Das Kopfsteinpflaster auf dem Hof war rutschig. Sie griff nach ihrem Beutel und überquerte leise den Hof, immer in Alarmbereitschaft, falls sie Stimmen oder Schritte hörte. Im Hauptgebäude hatte jemand die Tür vom Ladekai unverschlossen gelassen. Also wirklich! Thorold brauchte dringend ein besseres Sicherheitssystem. Mary stellte fest, dass ihr Unbehagen verflogen war; im Gegenteil, es begann ihr Spaß zu machen. Sie stand unter Hochspannung. Eine Welle der Begeisterung erfasste sie, die nichts mit der Rechtmäßigkeit und der Bedeutung ihrer Aufgabe zu tun hatte, sondern nur damit, wieder auf Beutezug zu sein. Den reinen, konzentrierten Nervenkitzel der Gefahr hatte sie bis zu diesem Moment komplett aus den Augen verloren.
Sie schob sich hinein in die pechschwarze Dunkelheit. Da sie nichts sehen konnte, setzten sich allmählich die anderen Sinne durch. Die Stille war die einer großen Höhle – auch wenn es kein Geräusch gab, das einen Hall verursachen konnte, wusste sie, dass es sich um eine riesige Halle handelte. Es roch nach Sägemehl und Salz, nach Teer und Harz. Die Bodendielen waren rohe Planken, die vor Sand und Dreck knirschten.
Im Dunklen war es leichter zu kriechen, als zu gehen. Auf allen vieren durchquerte sie den weitläufigen Raum, in dem sich turmhoch Kisten stapelten. Die überdimensionalen Proportionen waren verwirrend. Als sie am anderen Ende bei einer normal großen Tür ankam, wirkte diese seltsam klein. Die Tür war abgeschlossen, jedoch mit einem so primitiven Schloss, dass Mary lächeln musste. Warum überhaupt eines?
Sie drückte die Tür einen Spalt auf und lauschte wieder. Ein leicht scharrendes Geräusch wurde deutlicher: Schritte. Mary zog die Tür wieder zu, drückte sich dicht an die Wand, legte das Ohr ans Schlüsselloch und atmete langsam und flach.
Ein Wachmann, der seine Runde drehte.
Genau vor der Tür blieb er stehen. Der helle Schein seiner Laterne sandte einen kleinen gelben Lichtstrahl durch das Schlüsselloch.
Ein Seufzen.
Stille.
Ein Furz.
Dann entfernten sich die Schritte wieder.
Sie wartete weitere drei Minuten, dann öffnete sie die Tür einen winzigen Spalt. Durch eine Reihe von Oberlichtern, die ins Dach eingelassen waren, drang etwas Licht, in dessen Schein man eine breite Treppe erkennen konnte. Der Mond hatte sich trotz des Nebels durchgesetzt.
Mary blieb dicht an der Wand und prüfte jede Stufe, ob sie nicht knarrte, ehe sie mit ganzem Gewicht auftrat. Daher ging es nur langsam voran. Als sie schließlich das obere Stockwerk erreicht hatte, huschte sie an den kleineren Türen vorbei auf das Ende des Ganges zu. Die protzige Mahagonitür dort war ganz offensichtlich, was sie suchte. Ein Namensschild aus Messing bestätigte das: H. Thorold. Lächelnd fasste sie nach dem Türknopf. Natürlich abgeschlossen.
Als sie den Dietrich ins Schloss schob, schien ein schwaches Knurren durch die Tür zu dringen. Sie hielt inne und starrte in den Korridor hinter sich. Nichts. Doch das Geräusch wurde stärker und wuchs von einem leichten Grummeln zu dem eindeutig von einem Tier stammenden Knurren.
Ein Hund. Fast hätte sie den Schlüssel fallen lassen. Ein Wachhund.
»Pschschscht…«, machte sie zögernd.
Das Knurren wurde heftiger. Es konnte nicht mehr lange dauern und das Tier würde laut zu bellen anfangen.
»Aus«, sagte sie so streng wie möglich. »Du musst still sein, Hund.«
Das Knurren hörte einen Augenblick auf.
»Guter Junge«, sagte Mary und wischte sich die schwitzenden Hände an der Hose ab. »Ganz brav«, murmelte sie aufmunternd, während das Knurren langsam verebbte.
Als sie nur noch das stete Hecheln hören konnte, wagte sie es, den Schlüssel im Schloss umzudrehen. Währenddessen sprach sie die ganze Zeit beruhigend auf das Tier da drinnen ein. Mit einem hörbaren Klicken öffnete sich das Schloss. Mary drückte die Tür vorsichtig auf, während sie weiter mit dummem Zeug auf den Hund einredete.
Ein Augenpaar glühte sie aus der Dunkelheit an. Wolfsaugen.
Der Atem blieb ihr im Hals stecken. »Guten Abend, ja, braver Hund«, brachte sie krächzend hervor. »Du bist ja wirklich ein ganz Lieber.«
Die Augen schienen unheimlich zu flackern. Kein Blinzeln.
»Ich würde gerne in dein Büro kommen«, murmelte Mary und hoffte, dass sie ruhiger klang, als sie sich fühlte. »Ich tu dir nichts, in Ordnung?« Sie hockte sich tief auf den Boden und rückte langsam vor.
Das Tier schien tatsächlich stillzuhalten und zu überlegen, wie es reagieren sollte.
Plötzlich fiel Mary etwas ein. Mit vorsichtigen Bewegungen kramte sie eine paar Augenblicke in ihrer Umhängetasche. Als sich ihre Finger um das in ein Stück Stoff eingewickelte Ding schlossen, hörte sie, wie das Tier neugierig schnupperte. Vor seinen schillernden Augen wickelte sie das Mitgebrachte aus: ein Stück kalter Hammelbraten. Das hatte sie am frühen Abend aus der Speisekammer genommen, weil sie mit etwas Ähnlichem gerechnet hatte. Was sie allerdings nicht erwartete hatte: dass Thorold einen Wachhund in seinem Büroraum hielt.
Das Tier schnupperte einmal, dann stürzte es herbei. Mary spürte den Schwall des heißen Hundeatems und eine kühle Schnauze. Dann zog sich der Hund mit seiner Beute zurück und verschlang sie gierig.
Mary glitt in das Büro, schloss die Tür und sank schlaff vor Erleichterung zusammen. Ihr Rücken war feucht vor Schweiß, und als der Hund zurückkam, um neugierig an der am Boden hockenden Gestalt zu schnuppern, musste sie an sich halten, um nicht laut zu lachen.
Sie strich ein Streichholz an und entzündete eine Kerze. Mädchen und Hund sahen sich neugierig an. Der Hund war ein kräftiger schwarzer Mischling mit kurzem Fell, großen Schlappohren und einem wachen Blick. Keineswegs die übliche Art von Wachhund, aber sein seltsames Aussehen gefiel ihr.
»Was macht ein Mann wie Thorold denn mit so einem netten Hund?«, murmelte sie.
Der Hund deutete ein Schwanzwedeln an.
Sie verbrachten ein paar Minuten damit, sich kennenzulernen, dann schob Mary ihren neuen Freund beiseite. Die Uhr auf Thorolds Kaminsims zeigte fünfundzwanzig Minuten nach ein Uhr. »Du musst mich jetzt leider entschuldigen«, sagte sie bedauernd und verschloss die Bürotür. »Ich habe eine Menge Arbeit vor mir.«
Thorolds Büro im Geschäftshaus war dem Arbeitszimmer daheim ziemlich ähnlich – es lagen keine Unterlagen herum und es gab eine Menge Aktenschränke. Wahrscheinlich keine obszönen Bücher, obwohl man da nie sicher sein konnte. Die Vorgehensweise war ganz einfach: die Akten durchgehen, ab und an kontrollieren, ob sie korrekt etikettiert waren, und sie wieder an ihren Platz zurückstellen. Die Arbeit ging auch schnell voran, weil die Akten mit sauberer Handschrift beschriftet waren.
Während die Viertel- und halben Stunden jedoch dahinglitten, wurde Mary immer ungehaltener. Sie hatte natürlich nicht erwartet, in der erstbesten Akte gleich belastendes Material zu finden. Doch diese Akten waren alle säuberlich durchnummeriert und mit Laufzetteln versehen. Es gab kein Zeichen für hastig notierte, eher provisorische Schriftstücke, die sie mit illegalem Handel in Verbindung brachte. Aber was wusste sie schon? Vielleicht gab es ja überhaupt kein schriftliches Beweismaterial. Was dann?
»Was mache ich hier eigentlich, Hund?«, fragte sie kleinlaut. »Ich könnte meine Nächte wochenlang hier zubringen, bis ich alles durchgesehen hätte.«
Die Uhr auf dem Kaminsims machte ein klickendes Geräusch, sodass Mary aufsah. Vier Uhr! In Cheyne Walk würde die Dienerschaft bald aufstehen. Sie stellte alles wieder hin, wie sie es vorgefunden hatte, und verabschiedete sich bedauernd von dem Hund. Befürchtungen, dass er vielleicht Theater machen könnte, verflogen, als sie die Tür aufschloss. Er schien zu wissen, dass Ruhe entscheidend war. Nachdem er ihr liebevoll die Hand geleckt hatte, kroch er wieder unter den Schreibtisch und blieb dort still liegen.
Auf ihrem Rückweg stieß Mary im Treppenhaus fast mit einem der Nachtwächter zusammen. Zum Glück war er so schläfrig, dass er ihren Schatten auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock nicht bemerkte. Genau genommen hatte sie die ganze Nacht unerhörtes Glück gehabt, abgesehen von der Sache mit den Akten. Als sie durch die Stäbe des eisernen Zaunes schlüpfte und sich dabei wieder die Brust platt drückte, war es immer noch fast dunkel. Sie würde es schaffen, dachte sie froh. Sie hatte zwar noch nicht gefunden, wonach sie suchte, aber sie würde –
Verdammt.
Vor lauter Selbstlob hatte sie die Hauptregel vergessen, die es bei einem Einbruch zu beachten galt: Bleib immer auf der Hut und lass deine Gedanken niemals abschweifen.
»Salve, junger Freund, sei gegrüßt«, näselte eine Stimme aus dem Nebel.
Große Hände umklammerten ihre Oberarme. Sie zog so scharf die Luft ein, dass es schmerzte. Von dem, der sie erwischt hatte, konnte sie nur den Umriss erkennen: hochgewachsen, breitschultrig, männlich.
Ehe sie vor Furcht gelähmt war, gewann ihr Instinkt die Oberhand.
Sie holte aus und trat dem Mann fest auf den Spann, nahm außerdem die Ellbogen als Waffen zu Hilfe und wand sich kräftig und schnell aus seinem Griff. Sein Gesicht war in dem grauen Dunst undeutlich auszumachen und sie griff erneut an und versetzte ihm einen Hieb auf die Nase.
Er grunzte, fluchte und stolperte einen Schritt zurück.
Das war ihre Gelegenheit, um zu türmen. Sie rannte auf die nächstbeste Brücke zu und hörte, wie er ihr mit donnernden Schritten folgte. Er war seiner Größe wegen im Vorteil; wenn er nicht sehr verletzt war, würde er sie einholen. Um schneller zu sein, ließ sie ihre Umhängetasche fallen.
Auch wenn sie ganz mit der Flucht beschäftigt war und die Nebelfetzen ihr wie Spinnweben ums Gesicht wehten, zerrte doch etwas an ihrer Erinnerung. Ihr Angreifer kam ihr irgendwie bekannt vor. Umdrehen und nachsehen wollte sie allerdings nicht.
Die Stimme?
Seine Kopfform?
Etwas zog fest hinten an ihrer Jacke – seine Hand möglicherweise. Sie ließ die Jacke von den Schultern gleiten, ohne das Tempo zu vermindern.
Ehe er sie einholte, ahnte sie schon schaudernd, was geschehen würde. Beim ersten Mal war es genauso gewesen – bei dem Mal, als man sie erwischt hatte. Erst die Furcht, dann die Gewissheit. Und dann trat es ein.
Eine Hand krallte sich hinten in ihr Hemd und brachte sie abrupt zum Stehen. Die Nähte schnitten ihr in die Arme, sie wurde zurückgerissen und landete mit dumpfem Aufschlag an einem harten, kantigen Körper.
»Verdammte Närrin!«, schnarrte eine vertraute Stimme. »Hören Sie auf, sich zu wehren, dann tu ich Ihnen auch nicht weh.«
Mary, die die Ellbogen bereits erhoben hatte, erstarrte. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie dankbar oder entsetzt sein sollte. »Lassen Sie mich raten«, sagte sie matt. »Sie möchten gerne Walzer tanzen.«