Nach diesem ereignisreichen Tag fand es Mary schwierig, einzuschlafen. Ihr Kopf brummte vor sorgenvollen Überlegungen. Sie konnte ihre verschiedenen Mutmaßungen nicht abschalten: über Michael Gray, über Angelica, über die fehlenden Beweise gegen Mr Thorold. Sie versuchte sich zu konzentrieren und ihre Gedanken kehrten mit aufsässiger Beharrlichkeit zu dem Thema der »Ärzte« von Mrs Thorold zurück. Bloße Lust? Oder war der Geliebte auch Teil ihres Ränkespiels? Womöglich – dieser Gedanke huschte so schnell durch Marys erschöpfte Überlegungen, dass sie ihn kaum festhalten konnte – steckten alle in der Sache: Ehemann, Ehefrau und Liebhaber? War das zu unerhört? Wirklich zu abwegig, wenn man bedachte, welche Persönlichkeiten beteiligt waren? Sie wusste nicht … vielleicht …
Sie wurde vom Schlaf überwältigt, ehe sie zu Ende denken konnte. Plötzlich war es Morgen, der sich durch das Quietschen der rostigen Türangeln ankündigte.
»Tee.« Cass stellte die Tasse etwas sanfter auf ihrem Nachttisch ab als üblich.
Mary stützte sich auf den Ellbogen und sah das Mädchen verschlafen an. »Danke.«
Statt der üblichen Frage nach dem Bad schwieg das Mädchen. Dann fragte sie: »Stimmt das eigentlich?«
Mary setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Ob was stimmt?«
»Was Mr Brown gesagt hat.«
Oje. »Über Mrs Thorold? Ich weiß nicht.« Mary nahm einen Schluck Tee und sah Cass an. »Glaubst du mir?«
Cass zuckte die Schultern. »Weiß nich.«
»Warum fragst du dann?«
Wieder ein Schulterzucken. Das hätte das Ende des Gesprächs sein sollen, aber stattdessen blickte Cass zu Boden und rang die Hände. Sie waren rau und aufgesprungen und um die Nägel verschorft.
»Tun dir die Hände nicht weh?«
Ein drittes Schulterzucken. »Kann nichts dagegen tun. Vom vielen Abwaschen.«
Mary sah sie einen Moment nachdenklich an. »Reich mir mal das Gefäß vom Waschtisch – das aus blauem Glas.«
Cass gehorchte mechanisch.
»Setz dich her.« Mary deutete auf den Stuhl neben dem Bett. »Roll deine Ärmel auf.« Die Aufschläge waren schmutzig und ausgefranst und das Kind roch nach Hammelfett und ungewaschenem Haar. War sie überhaupt noch ein Kind? So aus der Nähe fiel Mary zum ersten Mal auf, dass sie alte und müde Augen hatte. Mindestens zwölf Jahre alt. Vielleicht sogar vierzehn, in dem dürren Körper einer Zehnjährigen.
Als Mary ihre Hände berührte, waren sie zunächst ganz starr, aber nach einer Minute entspannte Cass sich ein wenig. »Das Zeug riecht aber gut«, flüsterte sie.
Mary nickte und achtete darauf, Cass nicht direkt anzusehen. »Am Anfang brennt es ein bisschen, aber es hilft.« Sie massierte die kleinen klauenartigen Hände ein paar Minuten, etwas länger als nötig, aber sie wurden bereits weicher, und Cass schien es nicht eilig zu haben.
»Sind Sie eine Dame?«
Mary sah sie überrascht an. Das Mädchen hatte kluge Augen. »Wie meinst du das?«
Cass verzog das Gesicht. »Genau so, sind Sie ’ne Dame?«
»Äh … nun, ich muss arbeiten, weil ich kein Geld besitze«, erwiderte Mary vorsichtig. »Aber ich wurde wie eine Dame erzogen. Du weißt schon, Französisch und Geografie und Geschichte und dergleichen.«
»Dann war Ihr Vater ein Gentleman?«
»Nein, das war er nicht«, sagte Mary ironisch. »Warum fragst du?«
»Weil Sie wie ’ne Dame aussehen, aber Sie sind nicht so wie eine.«
»Was meinst du?«
»Sie reden mit mir. Sagen Danke. Und Miss Thorold würde sich nie um meine Hände kümmern.«
Mary tätschelte die Hände ein letztes Mal. »Ich bezweifle, dass dich Miss Thorold überhaupt wahrnimmt.«
Cass schüttelte den Kopf. »Nö.«
Mary wartete, doch das Mädchen rührte sich nicht von der Stelle.
Schließlich fragte sie: »Glauben Sie, dass ich auch ’ne Dame werden könnte? Wie Sie, meine ich«, setzte sie erklärend hinzu. »Nicht ’ne richtige Dame.«
Mary unterdrückte ein Lächeln. »Möchtest du denn gerne damenhaft werden?«
Cass zuckte die Schultern. »Ich hab keine Lust auf Französisch und Geschichte …«
»Aber es kommt dir angenehmer vor als die Spülküche?«
»Ja.«
»Ist es wahrscheinlich auch.« Mary blickte in die wachen Augen, die halb hinter einem Wust von schmutzigen Haaren verschwanden. Es versetzte ihr einen plötzlichen Stich. So musste sie auch einmal ausgesehen haben. »Es wird Zeit«, sagte sie und steckte den Pfropfen wieder auf das Glas mit der Salbe. »Komm zu mir, ehe du heute Abend ins Bett gehst; ich reib dir die Hände noch mal ein.«
***
Das Frühstück war eine stille Mahlzeit in Cheyne Walk. Mr Thorold verschwand hinter seiner Ausgabe der Times, während Michael andere Zeitungen nach Beiträgen über das Unternehmen absuchte. Im Institut war das Frühstück schlicht und laut: Es gab Haferbrei an langen Holztischen, inmitten von schnatternden Mädchen. Angesichts der erstaunlichen Auswahl warmer Speisen, die unter silbernen Hauben warteten, und der luxuriösen Ruhe hier fragte sich Mary, wie sie jemals wieder zu der lärmenden Nüchternheit der Schule zurückkehren konnte, nachdem ihr Auftrag hier beendet war. Sie löffelte sich gerade Quittengelee auf eine Scheibe Toast, als einer der Hausdiener mit der ersten Post des Tages neben ihr auftauchte.
Mary sah auf. »Danke.« Es war der erste Brief, den sie erhielt, seit sie in Cheyne Walk wohnte, und auf der Stelle erkannte sie die krakelige Schrift von Anne Treleaven. Ein leichtes Kribbeln rann ihr über den Rücken und rasch brach sie das Siegel auf. Ihre Hand zitterte, als sie die einzelne Seite entfaltete.
Meine liebe Mary,
ich schreibe Dir mit einer tragbaren Briefmappe, die für den Fall einer Reise praktisch ist, da sie mit Leichtigkeit öffnet und schließt. Während ich den Brief schreibe, sitze ich mit den Mädchen in der Schule. Ich bin ihretwegen leider sehr beunruhigt, denn die drei Dutzend Schülerinnen fühlen sich gar nicht wohl und sind seit Tagen unpässlich, was an dem unerträglichen Wetter liegt. Es weht ja kein Lüftchen. Wir haben beschlossen, aufs Land zu reisen, um kein Risiko hinnehmen zu müssen. Auch Du solltest achtgeben und kein Risiko eingehen. Vielleicht kannst Du Deine Herrschaft höflich ansprechen und auf die Gefahr aufmerksam machen. Sie werden sicher wissen, dass der Gesundheit Schaden droht. Passe gut auf Dich auf, liebe Mary.
Mit freundlichen Grüßen
Anne Treleaven
Was für ein furchtbarer Brief – gestelzt, ungenau und überhaupt nicht typisch für Anne Treleavens scharfen Verstand. Und doch versah er Mary mit mehr Informationen, als sie seit ihrer Ankunft in Cheyne Walk bekommen hatte. Der vereinbarte Code war lächerlich einfach: Aus jedem elften Wort im Hauptteil des Briefes setzte sich Anne Treleavens Botschaft zusammen. Sie und Felicity Frame hatten unermüdlich darüber debattiert; Anne Treleaven hatte einen komplizierteren Code befürwortet, während Felicity Frame etwas rasch Entzifferbares bevorzugte. Felicity Frame hatte mit dem Argument überzeugt, dass Mary kaum ungestört sein und wenig Muße haben würde, um einen ausgeklügelten Code zu knacken. Außerdem sei der Sinn des Codes nur, die Information vor flüchtigen Blicken zu schützen. Während Mary nun also am Frühstückstisch saß und Toast aß, konnte sie den vorgeschobenen Text rasch überfliegen und die Warnung von Anne Treleaven herauslesen: Fall schließt in drei Tagen – kein Risiko eingehen – Gefahr droht.
Drei Tage bedeutete, dass die Untersuchung nach Plan verlief. Es bedeutete jedoch auch, dass sie fast keine Zeit mehr hatte, vor allem unter dem Aspekt, dass sie bisher so wenig erreicht hatte. Mary seufzte.
»Hoffentlich keine schlechten Nachrichten.«
Sie sah auf und starrte in Michaels fragende Augen. »Nein … aber ganz im Einklang mit unserem Tischgespräch gestern Abend. Meine frühere Arbeitgeberin, Miss Treleaven, lässt mich wissen, dass sie vorhat, ihre Schülerinnen den Sommer über aus London zu bringen. Sie macht sich große Sorgen, wie sich die Hitze auf die Gesundheit der Mädchen auswirken könnte.«
Er runzelte die Stirn. »Wirklich? Ist die Schule nicht ganz im Norden?«
»Ja, in St. John’s Wood. Aber Miss Treleaven sorgt immer sehr gut für ihre Schülerinnen und behandelt sie sehr zuvorkommend.« Zu spät bemerkte Mary die unschmeichelhafte Implikation ihres Satzes. »Äh … so wie Mr Thorold sich um die Seinen kümmert natürlich.«
Michael schenkte seinem Arbeitgeber kaum einen Blick. »Natürlich. Sie müssen ein gutes Verhältnis zu Ihrer früheren Arbeitgeberin haben, dass sie Ihnen wegen so einer Bagatelle schreibt.«
»Das stimmt«, erwiderte sie vorsichtig. »Ich schulde ihr eine Menge: Sie hat mir zu einer Ausbildung verholfen und mir die erste Stelle besorgt. Ohne sie wäre mein Leben ganz anders verlaufen.«
Michaels nächste Bemerkung wurde unterbrochen vom raschelnden Zusammenfalten der Zeitung, mit dem Mr Thorold das Ende der Mahlzeit andeutete. Während sich Michael erhob, sagte er leise: »Sie haben mich neugierig gemacht, Mary. Sie müssen mir später mehr von Ihrem Leben erzählen.«
Sie lächelte nur. Er schien seinen Auftrag, mit ihr zu »flirten«, sehr pflichtgetreu auszuführen.
Nach dem Frühstück schrieb auch sie einen Brief mit dem vereinbarten Code:
Liebe Miss Treleaven,
recht herzlichen Dank für Ihren freundlichen Brief. Das Vorhaben, ein Haus auf dem Lande zu beziehen, klingt gut. Sie werden es in vollen Zügen genießen. So ein spontaner Urlaub wie damals in Brighton ist immer besonders schön. Auch das Anwesen, das wir dort gemietet hatten, war wunderbar.
Mir geht es sehr gut und die Familie hat mich äußerst zuvorkommend aufgenommen. Sogar genug Zeit zum Spazierengehen bleibt mir während meiner Arbeitszeit. Miss Thorold wünscht, dass ich sie vorerst am Nachmittag allein lasse, damit sie ungestört Klavier spielen kann. Jedoch dehne ich meine Spaziergänge aufgrund der stickigen, schwülen Luft hier in London nicht aus. Deshalb bin ich über die Grenzen von Chelsea noch nicht hinausgekommen. Ich freue mich auf Ihren nächsten Brief!
Herzliche Grüße
Mary Quinn
***
Nachdem sie gesehen hatte, dass Mr Thorold und Michael das Haus verlassen hatten, machte sie sich um halb zehn rasch auf und steckte den Brief in einen Briefkasten in der Nähe. Um diese Stunde war der Tag noch kühl und der Fluss stank noch nicht so widerlich. Dennoch war sie froh über eine leichte Brise aus dem Norden, die den Gestank nach Verwesung und Abwässern in die andere Richtung trug. An der Ecke zur Oakley Street wurde sie von einem kleinen Burschen überholt, der sie am Ellbogen anstieß.
»Autsch!« Automatisch packte sie den Jungen beim Schlafittchen: So ein »zufälliges« Anstoßen war ein allzu bekannter Trick von Taschendieben. Sie hatte ihn in ihrer Kindheit selbst angewendet, ehe sie sich lukrativeren Untaten zugewandt hatte.
»Tut mir ja so leid, Miss.« Der Junge zog entschuldigend seine Kappe. Erst jetzt fiel Mary auf, dass er ordentlich gekleidet und überraschend sauber war. Vielleicht so eine Art Laufjunge?
»Nichts passiert.«
»Ich glaub, Sie haben das da fallen lassen, Miss.« Er bückte sich und reichte ihr einen versiegelten Brief.
Gerade wollte sie verneinen, da las sie die Anschrift auf dem Umschlag. Miss M. Q. »Oh, danke.«
»Gern geschehen, Miss. Guten Tag.« Er berührte noch mal seine Kappe, dann war er verschwunden.
Mary sah sich vorsichtig um – lächerlich, denn sie befand sich auf einer belebten Straße – und riss den Umschlag auf. Kommen Sie in meine Geschäftsräume. JE. Darunter stand eine Adresse. Nur einen Moment lang regte sie sich über sein knappes Kommando auf. Schließlich hatte sie ja selbst keinen stichhaltigen Plan. Drei Tage. Drei Tage. Drei Tage. Die Worte tönten wie Trommelschläge in ihrem Kopf.
Als sie in der Great George Street aus der Pferdedroschke stieg, stand auf dem ersten Messingschild, das ihr auffiel, der Name Isambard Kingdom Brunel. Das war der bedeutendste Bauingenieur des Landes. Doch im Gegensatz zu Brunels Geschäftsräumen waren die des Bauunternehmens Easton unscheinbar. Im Hauptraum beugten sich die Köpfe der Angestellten tief über Schreib- und Zeichentische. Weder Marmor noch Mahagoni: nur ein hoher Empfangstresen. Dahinter betrachtete sie ein dünner bebrillter Mann argwöhnisch. Nach einer Weile öffnete er den abweisend geschlossenen Mund und stieß ein trockenes »Ja?« hervor.
»Ich möchte zu Mr Easton.«
»Ihr Name, Miss?«
»Geben Sie ihm das.« Sie schob den zerknitterten Umschlag über den Tresen.
Er rümpfte leicht die Nase und zögerte, schließlich nahm er den Umschlag mit zwei spitzen Fingern auf. »Warten Sie hier.« Nach einer halben Minute kam er zurück. Er wirkte starr vor Missbilligung. »Folgen Sie mir bitte, Miss.«
Unter den neugierigen Blicken der Angestellten folgte ihm Mary bis ans Ende des Raumes und durch eine schwere Holztür. James’ Büro war ebenso funktional wie der große Raum. Er saß hinter einem unglaublich unaufgeräumten Schreibtisch: Papierstapel, Rollen technischer Zeichnungen und Dutzende kleiner Skizzenblätter lagen auf der Tischplatte. Auf einer Ecke stand eine leere Kaffeetasse, an deren Untertasse ein angebissener Muffin lehnte. James war in Hemdsärmeln.
Er blickte kurz auf, als sie den Raum betrat, erhob sich jedoch nicht. »Keine Unterbrechung, Crombie«, sagte er zu dem dürren Mann. »Vor allem nicht von George.« Der alte Angestellte grunzte etwas und schloss die Tür fest hinter sich. James legte seinen Stift nieder. »Sie können Ihren Schleier zurückschlagen; ich sehe meinem Gegenüber gerne ins Gesicht.«
Sie nahm ihren Hut lieber ganz ab und legte ihn auf eine Ecke des Schreibtischs. »Sie sind heute wohl besonders guter Laune.«
Er sah den Hut stirnrunzelnd an. »Es ist fast zehn. Warum haben Sie so lange gebraucht?«
»Ich kann nicht aus dem Haus, ehe Thorold und Gray gehen.«
Sie zog die Handschuhe aus.
Er grunzte, dann musterte er sie mit kritischem Blick. »Sie sehen ja furchtbar aus. Haben Sie letzte Nacht überhaupt geschlafen?«
»Danke, ganz ausreichend.«
»Hm. Dann muss es an dem Kleid liegen. Was soll denn das für eine Farbe sein?«
»Es ist senffarben. War vor drei oder vier Jahren sehr in Mode.«
»Sie sehen darin fast grün aus.«
Der gefährlich sanfte Ton gewann endlich die Oberhand über seine schlechte Laune. »Was ist denn los? Warum sind Sie so höflich?«
Sie riss theatralisch die Augen auf. »Ich bin immer höflich, Mr Easton. Sie sind derjenige, der mit schlechten Manieren seine übergroße Bedeutung betont.«
»Blödsinn. Warum setzen Sie sich nicht?«
»Weil Sie mich noch nicht dazu aufgefordert haben.«
Ziemlich verärgert kam er um den Schreibtisch und rückte ihr den Stuhl davor zurecht. »Meine liebe Miss Quinn, warum setzen Sie sich nicht?« Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.
Sie kam der Bitte gnädig nach.
Er ließ sich wieder in seinen Stuhl fallen und schlug ein Bein über das andere. »Also: Haben Sie seit unserem letzten Treffen etwas herausgefunden?«
Sie beschrieb kurz, was sich am Abend zuvor während des Essens zugetragen hatte. »Da der Aufenthalt in Brighton abgelehnt worden ist, können wir den Aspekt vielleicht fallen lassen?«
Er nickte. »Mein Anwalt untersucht gerade alle Gerichtsverfahren, in die Thorold in den letzten zwanzig Jahren verwickelt gewesen ist. Bisher ohne Erfolg.«
Mary biss sich auf die Lippe. Sie hätte ihm von Thorolds Verstrickungen erzählen sollen: von dem Verdacht auf Steuerhinterziehung und Versicherungsbetrug, der allerdings auch nicht bewiesen worden war. Aber konnte sie ihm davon erzählen, ohne die Arbeit der Agentur aufzudecken?
»Ich habe auch sein Testament beim Staatsnotariat überprüfen lassen.«
»Weil Liebe nicht ohne Geld zu haben ist«, spottete sie.
Er war kein bisschen beleidigt. »Es ist ganz gewöhnlich und vernünftig: alles an seine Frau, wenn sie ihn überlebt. Andernfalls ein großzügiger lebenslanger Zinsanteil an Miss Thorold und das Gesamtvermögen an ihre Erben.«
»Die klassische Methode, um Mitgiftjäger abzuschrecken.«
»Genau.«
»Nichts an alte Freunde, Geschäftspartner, keine Zuwendungen an die Wohlfahrt?«
»Nichts Außergewöhnliches – ein paar Tausend hier und dort. Ich erinnere mich an eine Missionarsgesellschaft und ein Heim für betagte Seeleute – genauer gesagt Laskaren, also asiatische Matrosen.«
Mary zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Er hinterlässt Geld für asiatische Seeleute, aber nicht für englische?«
»Ich nehme an, weil für die englischen besser gesorgt wird. Zumindest haben sie Familien. Die Asiaten, die hier stranden, benötigen tatsächlich Hilfe.«
Mary nickte. Als Kind in Poplar hatte sie einige laskarische Familien gekannt. Selbst die Matrosen, die sich in London niederließen und englische Frauen heirateten, waren meistens arm.
»Laskaren könnten das Bindeglied zu meinen illegalen Frachtsendungen sein«, überlegte James.
Dieses Thema wollte sie nicht eingehender verfolgen. »Alte, schlecht bezahlte Seeleute, die für Schmuggelware verantwortlich sein sollen?«, spottete sie. »Kommt mir unwahrscheinlich vor.«
»Nein, keine alten Seeleute. Aber es muss doch auch jüngere geben, die Kontakt zu ihm haben – Matrosen, die erst kürzlich aus dem Subkontinent gekommen sind.«
Sie machte ein skeptisches Gesicht. »Warum sollte Thorold ausländischen Matrosen seine geschmuggelte Fracht anvertrauen?«
»Wenn sie erwischt werden, kann er jede Beteiligung leugnen. Jeder glaubt doch nur zu gerne, dass Ausländer zu den schlimmsten Verbrechen fähig sind. Und die stereotype Verbindung zwischen Orientalen und Opium ist nützlich.«
Sie stritten noch eine Weile über dies Thema, bis Mary sich schließlich geschlagen geben musste. Sie nickte langsam. »Ich nehme an, es kann nicht schaden, sich das mal anzusehen. Ich überlege mir inzwischen was anderes.«
Er sah sie überrascht an. »Kommen Sie nicht mit?«
Sie starrte ihn an. Ihr Magen krampfte sich zusammen. »Warum? Das ist doch wohl – unnötig.«
»Ich habe einen Plan. Ich erzähle Ihnen unterwegs davon.«