Sie nahmen einen Umweg über den Norden, statt den Fluss direkt zur Isle of Dogs zu überqueren. Er machte in einer zwielichtigen Gasse in Holborn halt, wo er aus der Kutsche sprang, sich leise mit einer dreckigen, einäugigen alten Frau unterhielt und wieder einstieg, den Arm voller schmutziger Sachen.
Sie rümpfte die Nase. »Puh. Was zum Teufel ist denn das für Zeug?«
»Das ist ein Kleid.«
»Oh nein. Das zieh ich nicht an. Es stinkt ja nach dem Abwasch von letzter Woche.«
»Es riecht nach Menschen.«
»Und wie soll das eklige Ding uns bei den Ermittlungen helfen?«
»Einer von uns lenkt den Heimleiter ab und der andere schlüpft durch den Hintereingang hinein.«
Sie seufzte. »Ich vermute mal, dass Sie an die Haustür gehen und ich mich durch die Küchentür reinschleiche? Warum darf ich nicht die Lady spielen und Sie den müffelnden Diener?«
»Ohne Begleitung einer Zofe können Sie nicht als Dame durchgehen.«
Sie sah ihn einen Augenblick finster an, aber seine Logik war unbestreitbar. »Na gut. Machen Sie die Augen zu«, befahl sie und zog die Vorhänge der Kutschenfenster zu.
»Als ob ich so was nicht schon mal gesehen hätte!«
»Aber nicht von mir.«
Er grinste, schloss jedoch folgsam die Augen. »Für eine Frau, die nachts in Hosen durch die Gegend schleicht, sind Sie ziemlich prüde.«
Es war schwieriger als erwartet, in dem engen Kutschenraum das Kleid zu wechseln. Auch war es wenig hilfreich, dass sie praktisch dem Gefühl nach gehen musste und dass der Rock ihres eigenen Kleides so viele Meter Stoff hatte. Nach einem Kampf von mehreren Minuten hatte sie sich endlich aus dem senffarbenen Modell gepellt und warf es James zu. »Hier, halten Sie mal.«
»Das hat aber lang gedauert«, prustete er.
»Ich hab nicht gesagt, dass Sie gucken dürfen!«
»Immer noch nicht angezogen?« Das war eine dumme Frage: Sie trug ein leichtes Korsett über ihrem dünnen Hemdchen und der Batistunterhose. Wenn sie so aus der Kutsche gestiegen wäre, hätte sie mit Sicherheit einen Aufruhr verursacht.
»Nein!« Schützend verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Augen zu!«
Es folgte ein Rascheln, das noch mal mehrere Minuten anhielt, dann sagte sie: »Jetzt.«
Als er die Augen öffnete, probierte sie gerade die zerfledderte Haube auf. »Die Farbe steht Ihnen.«
»Ich sehe also nicht mehr grün aus?« Obwohl sie beklommen war, grinste sie zurück.
Sie hielten hinter der nächsten Ecke. »In einer halben Stunde treffen wir uns wieder hier.«
***
Das Imperial Baptist East London Asyl für verarmte asiatische Seeleute lag im Bezirk Limehouse, in der Nähe des East India Hospitals. Es bestand aus zwei miteinander verbundenen schmutzigen Reihenhäusern aus rotem Backstein und war zu erkennen an einem großen angelaufenen Messingschild an der Haustür, neben dem sich eine gleichermaßen vernachlässigte Glocke befand. Nach einem Blick auf diese traurige Fassade war Mary plötzlich froh, dass nicht sie für die Ablenkung sorgen musste. Das Letzte, was sie wollte, war, hier gesehen zu werden.
Sie schlich sich in die Gasse, die hinter den Häusern entlanglief. Sie war voll mit dem üblichen Unrat – Schrott, Müll, Asche – und stank stark nach vergammelndem Abfall. Der Hintereingang zu dem Wohnheim war nicht besser oder schlechter als die anderen in der Gasse. Der Farbanstrich war gesprungen und blätterte in Fetzen ab und das Fenster neben der Tür war zugenagelt. Aber die Türschwelle war kürzlich gefegt worden und der Ascheneimer stand ordentlich daneben. Seltsame Mischung aus Reinlichkeit und Verfall.
Sie horchte einen Moment an der Tür. Nichts. Irgendwo tief im Inneren des Hauses konnte sie es rumoren hören – das Klingeln einer Glocke, Schritte, das quietschende Öffnen einer Tür. Aber nichts in ihrer Nähe. Sie war nicht überrascht, dass sich der Türknopf ohne Weiteres drehen ließ.
Wie sie es erwartet hatte, trat sie in eine düstere Spülküche. Die Wände waren aus unverputzten Ziegeln, der Boden nackter Stein. Sie lauschte wieder aufmerksam und hörte leises Gemurmel von Männern. Schritte – zwei Personen? Und dann verstummten die Stimmen hinter einer Tür, die geschlossen wurde. Im hinteren Teil des Hauses rührte sich immer noch nichts.
Wenn sich hier gestohlene Güter oder Unterlagen befanden, wo würden sie versteckt sein? In den obersten Winkeln des Hauses wahrscheinlich. Der Keller war bestimmt zu feucht und voller Ungeziefer. Und wenn die Unterlagen im Zimmer des Heimleiters waren … darüber würde sie sich später Gedanken machen. Sie glitt durch die Hauptküche und gelangte in den zentralen Flur. Vorsichtig sah sie sich um. Das Haus war schwach erleuchtet, und wenn man die Wetterlage bedachte, noch überraschend kühl. In den Ecken hatten sich kleine Schimmelflecken gebildet und sie nahm einen scharfen, warmen Duft wahr: asiatisches Essen, asiatische Arzneien und Gewürze … der Ferne Osten zu einem häuslichen Geruch verdichtet. Ganz zwangsläufig und unvermittelt wurde sie plötzlich an Poplar erinnert. Ihr Zuhause.
Es gab keinen Läufer auf der Treppe nach oben. Sie trat vorsichtig auf und versuchte, keinen Lärm zu machen und ihre zitternden Gliedmaßen unter Kontrolle zu bringen. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock befanden sich drei Türen. Am Ende der Treppe war eine säuberliche Öffnung in die Wand gehauen, die den Flur mit dem Nebenhaus verband, das wahrscheinlich spiegelbildlich zu diesem gebaut war.
Wo waren die ganzen betagten Seeleute? Wurden sie tagsüber nach draußen geschickt? Sie kaute auf der Unterlippe. Wenn sie den Versuch unternahm, eines der Zimmer zu betreten, platzte sie vielleicht in eine Runde unschuldiger alter Männer. Oder sie entdeckte Kisten mit Schmuggelware. Oder sie stieß womöglich auf Mr Thorold selbst, der seine Goldschätze zählte …
Sie musste handeln, ehe sie völlig durchdrehte. Sie wählte das nächstgelegene Zimmer. Durch die dünne Holztür war nichts zu hören, und als sie den Türknopf drehte, quietschten die Angeln nur ganz leise. Ein kleines Fenster ließ etwas graues Tageslicht einfallen – genug, dass sie eine doppelte Reihe Pritschen sehen konnte, die sehr eng nebeneinanderstanden. Sie waren schmal und niedrig, und auf jeder lag ordentlich zusammengefaltet eine dünne Decke auf einer klumpigen Strohmatratze. Keine Kopfkissen. Eine kleine offene Kiste stand an jedem Fußende. Für persönliche Habe. Der Boden bestand aus einfachen Holzdielen, im Lauf der Jahre glatt gescheuert und sauber gefegt. Der Raum roch nach Talgkerzen, Kernseife und Verfall.
Mit einem Schaudern schloss sie die Tür und betrat das nächste Zimmer. Es ging zur Seite des Hauses und hatte kein Fenster. Mithilfe einer Kerze stellte sie fest, dass es fast das Gleiche enthielt wie das vorige, nur dass hier noch mehr Betten standen, die so nahe aneinandergeschoben waren, dass sie sich fast berührten. Der Raum war etwas weniger sauber als der andere, es roch stärker nach alten Männern und ein wenig nach Opium.
Als das dritte und größte Zimmer wieder die gleichen armseligen Sachen enthielt, begann Mary sich zu fragen, was sie hier eigentlich tat, indem sie in die Privatsphäre dieser anständigen, verarmten alten Männer eindrang. In diesem schäbigen beengten Wohnheim war kein Platz für die Dinge, nach denen sie und James suchten … und falls doch, würden die Bewohner dann keine neugierigen Fragen stellen? Sie hatte auf dieser Seite des Gebäudes ungefähr zwanzig Betten gezählt. Wenn sie die gleiche Anzahl im Nebenhaus annahm, gab es insgesamt ungefähr fünfunddreißig bis fünfundvierzig Bewohner. Sie konnten ja nicht alle hilflose, gebrechliche Trottel sein. Entweder die gestohlenen Waren und Papiere befanden sich nicht hier oder sie wurden in einem gesonderten Teil des Gebäudes aufbewahrt. Vielleicht doch im Keller. Oder im Büro des Heimleiters.
Sie hatte gerade beschlossen, wieder hinunterzugehen, als sie Schritte im Treppenhaus hörte. Die natürlich heraufkamen. Verdammt.
»Wer sind Sie? Was machen Sie hier oben?« Es war die vorwurfsvolle Stimme eines älteren Mannes.
Sie stieß ein albernes kleines Blöken aus. »Oh! Entschuldigen Sie, Sir … hab nach dem Herrn gesucht, der das Heim hier verwaltet.« Ein rascher Blick zeigte ihr einen mageren Chinesen, mindestens Mitte sechzig, aber noch ganz rüstig. »Sind Sie das, Sir?« Vorsichtshalber machte sie einen artigen Knicks.
Man hörte ihm sein missbilligendes Stirnrunzeln praktisch an. »Wie sind Sie reingekommen?«
»D-durch die Küchentür, Sir. Hab nach ’ner Stelle gesucht, wissen Sie?«
»Das Büro vom Verwalter ist im Erdgeschoss.« Seine Stimme war steif und misstrauisch.
Mary versuchte es mit Cockney-Charme. »Nichts für ungut, Sir: Bin nur auf der Suche nach Arbeit, wissen Sie? Es gibt ja nicht viele Stellen für ein braves Mädchen in der Gegend hier.« Sie sah auf und versuchte, so naiv-hoffnungsvoll wie möglich auszusehen. »Sind Sie der Heimleiter, Mr …?«
Der Mann presste die Lippen aufeinander. »Chen. Ja, der bin ich.«
»Ach!« Sie tat so, als wolle sie auf ihn zulaufen. Wie sie erwartet hatte, wurde sie von einer scharfen Bewegung seiner Hand zurückgehalten. »Ach, geben Sie mir doch Arbeit, Sir. Ich kann auch richtig zupacken, nur dass ich keine Gelegenheit gehabt hab, wo es meiner Schwester so schlecht gegangen ist und –«
»Kommen Sie nach unten, junge Frau.«
Sie blieb zögernd stehen. Doch dann gehorchte sie einer knappen Geste des Heimleiters und stieg vor ihm die Treppe hinunter. Sie kamen in einen Raum im vorderen Teil des Hauses, der von dem Hauptflur abging. Er war so karg und verblichen wie alles andere in dem Wohnheim, obwohl hier der Versuch gemacht worden war, ihn ein wenig wohnlich zu gestalten. Die Wände waren mit einem dunklen Farnmuster tapeziert, das sich an einigen Stellen wegen der Feuchtigkeit löste. Die Farbe der Samtvorhänge, die aufgezogen waren und helles Tageslicht hereinließen, passte weder zum Grün der Tapete noch zu dem abgewetzten Teppich. Zentraler Blickfang des Raumes war ein knallbuntes Ölporträt eines beleibten Kaufmanns mit zynischem Blick und unwahrscheinlich rosigen Wangen. Auf dem breiten Goldrahmen war ein Namensschild angebracht: Wm Bufferton (1801 – 1852) Wohlwollender und treuer Diener und wahrhaftiger Mann Gottes. Mary verzog angewidert den Mund und wandte sich ab, um sich dem scharfen Blick des Heimleiters zu stellen.
Er deutete auf einen wackeligen Holzstuhl. Sie setzte sich.
Er blieb stehen. »Sie sagen, Sie suchen nach Arbeit?«
»J-ja, Sir.«
»Was für Arbeit?«
»Irgendwas, Sir.« Sie verbarg die Hände in den Falten ihres Rockes. »Mädchen für alles, Nähen, alles, was so im Haus anfällt.«
Sein Blick wanderte zu ihrem Schoß. »Ah ja.«
Es folgte ein langes Schweigen, und Mary wagte nicht, aufzusehen. Sie suchte ihr Blickfeld nach Hinweisen ab, aber von Mr Chen kam weder ein verräterisches Geräusch noch eine Bewegung. Es war absolut still im Raum. Sie zählte bis zwanzig, dann bis vierzig und schließlich bis sechzig. Eine Uhr im Nebenzimmer schlug die halbe Stunde.
Als er schließlich wieder sprach, war seine Stimme kühl. »Ich glaube Ihnen nicht.« Instinktiv holte Mary Luft, um zu protestieren, doch er schüttelte sanft den Kopf, und sie schloss den Mund wieder. »Sie suchen nicht nach Arbeit«, fuhr er etwas milder fort. »Ihre Hände sind zu weich; das sind nicht die Hände einer Dienstmagd. Sie suchen etwas anderes.«
Ihr Magen drehte sich um. Was war nur los mit ihr? Warum fiel ihr keine glaubwürdige Ausrede ein? Gab er möglicherweise sogar zu, dass die geschmuggelte Ware hier war? Wie konnte sie entkommen und die Agentur informieren? Bestimmt würde James Alarm schlagen, wenn sie nicht zurückkehrte. Während ihr diese Gedanken durch den Kopf jagten, wurde sie von der nächsten Bemerkung des Heimleiters total überrumpelt.
Seine Frage war ganz einfach: »Wer sind Ihre Leute?«
Aber er fragte in Mandarin.
Mary starrte ihn einen Moment an und wurde rot.
Der Heimleiter lächelte etwas über ihre Bestürzung und versuchte es auf Kantonesisch. »Sie können Ihre Sprache gar nicht?« Er zuckte die Schultern und wechselte wieder zu Englisch. »Wie ist der Name Ihres Vaters?«
Sie schluckte heftig. Genau davor hatte sie Angst gehabt, als sie heute in diese Gegend gekommen war. Es war genau das, woran sie nicht denken wollte.
Einfach so hatte er ihr Geheimnis gelüftet.