Kein Grund, Angst zu bekommen, Ah Mei.« Sein Gebrauch der Höflichkeitsanrede überraschte und rührte sie. Sie war nicht mehr mit »kleine Schwester« angeredet worden, seit sie ein Kind war. »Viele junge Leute kommen her und suchen nach ihren Angehörigen.«
Sie holte tief Luft und ihr war plötzlich ganz schwindelig. Ihre Handflächen und Achselhöhlen wurden feucht vor Schweiß, was nichts mit dem Wetter zu tun hatte. »Es tut mir leid, dass ich Sie angelogen habe, Ah Gor.« »Älterer Bruder« – ein Ausdruck der Ehrfurcht – fiel ihr ohne Überlegen und ganz mühelos ein. Sie wusste nicht, dass er in ihr überlebt hatte.
»Warum hast du gelogen?«
»Ich habe – Angst gehabt.« So weit stimmte das. »Ich weiß, ich hätte nicht nach oben gehen dürfen.« Stimmte auch. Obwohl sie sich schämte, dass sie erwischt worden war – dass sie erkannt worden war –, fühlte sich die Wahrheit gut an.
»Du suchst nach etwas. Nach einer Auskunft.«
Sie nickte vorsichtig.
Er schwieg und betrachtete sie. »Du bist ein Mischling.«
Sie konnte nicht verhindern, dass ihr ganz heiß in der Kehle wurde und ihr die Röte in die Wangen stieg. »Meine Mutter war Irin.«
»Und dein Vater ein chinesischer Matrose.«
Das war keine Frage. Unterdrückte Panik breitete sich in ihrer Brust aus, erreichte den Magen, ihre plötzlich zitternden Gliedmaßen. Ihr Puls ging zu schnell und war zu laut – er dröhnte ihr in den Ohren und erstickte alle anderen Geräusche. Sie hatte seit Jahren nicht an ihre Eltern gedacht. Zumindest nicht unter diesem Aspekt … dem ihrer eigenen Herkunft.
Mr Chen beobachtete sie noch immer mit wachsamem Blick. Er wartete auf ihre Antwort. War es zu spät, um zu fliehen? Er war alt und sie schnell – aber auch feige, wenn sie jetzt davonrannte. Mal wieder.
Mary reckte das Kinn. »Ja.« Scham, Erleichterung, ein seltsames Gefühl von Trotz und Schmach durchströmte ihren Körper. Irgendwie war es befreiend, ihr Geheimnis zu teilen – ihre wahre Herkunft zuzugeben –, und zwar zum ersten Mal, seit ihre Eltern tot waren. Nicht einmal Anne Treleaven und Felicity Frame wussten das. Und doch war dieses Eingeständnis erschreckend. Sogar demütigend.
»Dein Vater ist tot?«
Es tat noch immer weh, daran zu denken. »Auf See gestorben.«
Er machte eine kleine, auffordernde Bewegung. »Erzähl.«
Es war eine einfache Bitte, doch plötzlich fiel Mary nichts mehr ein. Jahrelang hatte sie sich nicht erlaubt, an ihren Vater zu denken. Jetzt, als sie in Mr Chens kluge Augen blickte, wusste sie nicht, wo sie anfangen sollte.
»Er war ein guter Vater?«, fragte er sanft.
Sie nickte.
»Du warst noch ziemlich jung, als er gestorben ist?«
»Acht Jahre. Vielleicht auch erst sieben.«
»Also erinnerst du dich an ihn.«
Mary schloss die Augen und das Gesicht ihres Vaters tauchte vor ihr auf. Ein gut aussehender Mann mit einem schüchternen Lächeln. »Er war lieb«, sagte sie. »Wir sind oft am Fluss spazieren gegangen und er hat mir von seiner Jugend in Kanton erzählt.« Sie lächelte. »Die Leute in Poplar haben ihn den Prinz genannt, weil er ein bisschen wie Prinz Albert ausgesehen hat.«
Mr Chen blinzelte und beugte sich etwas vor. »Weißt du seinen chinesischen Namen?«
Mary runzelte die Stirn. »Es hat ihn nie jemand bei seinem Namen genannt. Unser Familienname war – ist – Lang, aber an seine Vornamen kann ich mich nicht erinnern.«
Mr Chen atmete etwas rascher. »Lass dir Zeit«, sagte er mit Nachdruck.
Mary war verwirrt. »Aber Sie können doch bestimmt nichts von ihm wissen … oder?«
»Aber er ist auf See gestorben! Sein Schiff ist untergegangen, und jemand von der Reederei ist vorbeigekommen … hat uns ein bisschen Geld gegeben – seine Heuer.« Ihre Hände zitterten und ihr Gesicht glühte. Sie konnte sich an den Tag erinnern. Aber irgendetwas war in Mr Chens Ausdruck … »Sie können das nicht wissen! Woher sollten Sie etwas wissen?«
»Beruhige dich«, sagte er ernst. »Über einen Mann, dessen Namen du nicht mehr weißt, kann ich nichts sagen.«
Verschiedene Silben huschten ihr durch den Kopf. Sie hatte weder Mandarin noch Kantonesisch gelernt, abgesehen von vereinzelten Wörtern oder Begriffen; hatte auch nie die Geduld gehabt, die chinesischen Schriftzeichen zu lernen. Plötzlich war sie wütend auf sich selbst, dass sie sich nicht darum gekümmert hatte. Sie war das Einzige, was noch von ihrem Vater blieb, die Einzige, die noch an ihn dachte, und sie konnte sich nicht einmal an seinen Namen erinnern. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Aus der Unzahl schwieriger Wörter, die ihr im Kopf herumschwirrten, tauchte es schließlich auf: »Lang Jin Hai!«
Er sah sie unverwandt an. »Bist du sicher? Lang Jin Hai?«
»Ja.« Genau. Es bedeutete »goldene See«.
Mr Chens Augen funkelten erregt. »Dann bist du Mary, seine einzige Tochter.«
Sie konnte ihn nur anstarren. Es war schrecklich genug, dass er ihr auf den Kopf zugesagt hatte, sie sei Halbchinesin, aber dass er nun auch noch zu wissen behauptete, wer sie war …? Da musste doch ein Trick dahinterstecken. Schließlich brachte sie flüsternd hervor. »Unmöglich.«
Er schien es ihr nicht übel zu nehmen. »Wieso?«
»Wie sollten Sie – mein Vater – vor Jahren …« Sie konnte nicht einen zusammenhängenden Satz hervorbringen. Argwohn, Hoffnung, Angst und Verwirrung brachen über sie herein. »Das ist unmöglich«, sagte sie noch einmal.
Mr Chen lächelte etwas. »Du hast Limehouse verlassen, als du noch ganz jung warst, und seitdem bist du als weiße Engländerin durchs Leben gegangen.«
Woher konnte er so viel über sie wissen? Sie stand mühsam auf, aber ihre Knie waren so wackelig, dass sie sich schließlich am Stuhl festhalten musste.
Der alte Mann trat zurück und hob die Hände hoch. »Ich will nicht versuchen, dich hier festzuhalten, Mary Lang. Aber ist es klug, vor einer Erklärung davonzulaufen?«
Wenn sie die Augen schließen würde, würde sich der Raum um sie drehen. Daher konzentrierte Mary sich auf Mr Chen und etwas an seinem Ausdruck erinnerte sie merkwürdigerweise an Anne Treleaven. Vielleicht war es nur die Situation: Sie fühlte sich wieder wie die Zwölfjährige, aufgewühlt und verloren, und sah sich plötzlich etwas Neuem gegenüber, das ihr Angst machte. Sie umfasste die Stuhllehne fester und sagte heiser: »Ich höre.«
»Es ist offensichtlich für mich, dass du Poplar ganz jung verlassen hast, da du nicht zu wissen scheinst, wie klein unsere chinesische Gemeinschaft ist. Es gibt ungefähr zwei Dutzend chinesische Matrosen, die sich hier niedergelassen und weiße Frauen geheiratet haben.«
Das klang völlig nachvollziehbar.
»Du gehörst nicht zu unserer Gemeinschaft, sprichst nur Englisch. Es hat dich überrascht – und sogar empört –, als Mischling erkannt zu werden.«
Sie hätte sich gerne gerechtfertigt, obgleich das, was er sagte, ja stimmte. Dennoch … »Ich schäme mich nicht, einen chinesischen Vater zu haben«, sagte sie vorsichtig. »Aber die meisten Engländer sind voreingenommen. Sie halten Ausländer, vor allem diejenigen mit dunklerer Haut, für minderwertig. Sie glauben, dass wir charakterschwach sind und keine moralischen Werte haben.«
»Natürlich, dagegen müssen wir hier alle ankämpfen.«
»Aber ich lebe mittlerweile unter den Engländern. Wenn ich ihnen erzählen würde, dass ich ein Mischling bin, würde das ihre Haltung mir gegenüber verändern. Ich würde keine Arbeit finden, außer als niederer Dienstbote; manche Leute würden mich verachten und mich behandeln, als sei ich ein Untermensch. Das könnte ich nicht ertragen!«
»Und doch ist es das Schicksal der meisten Asiaten – oder auch anderer dunkelhäutiger Menschen – in diesem Land. Du, Mary, fällst nur aus diesem Schema, weil dir deine Rasse nicht besonders auffallend ins Gesicht geschrieben ist. Verglichen mit den meisten chinesischen jungen Frauen ist das ein Segen, aber auch ein Fluch: Du kannst deine Herkunft leugnen, wenn dir das günstiger erscheint.«
Sie warf die Hände hoch und versuchte, ihm ihren Standpunkt deutlich zu machen. »Aber ich gehöre weder zu den einen noch zu den andern! Für die Chinesen bin ich nur halb chinesisch; und für die Weißen ist mein Blut auch nicht rein. Ich habe keine Familie, ich gehöre nirgendwo hin!«
Er sah sie lange an. »Das verstehe ich. Auch wenn ich hoffe, dass du das eines Tages anders sehen wirst.«
Mary sah ihn verwirrt an. »Aber wie …?«
Er ging nicht darauf ein. »Um also eine Anstellung zu bekommen, hast du die Verbindungen zu Poplar und Limehouse abgebrochen und angefangen, dich als Weiße auszugeben.«
Sie nickte langsam.
»Und die Leute glauben das?« Seine Stimme klang leicht skeptisch.
»Sie sind meistens zufrieden mit der Erklärung, dass meine Mutter Irin war. Andere glauben, dass ich französisches oder spanisches Blut habe oder sonst eine südliche Abstammung.« Ihr Mund verzog sich. »Und wenn man gegenüber den Europäern vom Kontinent auch Vorbehalte hat, sind sie doch immer noch besser angesehen als … die Wahrheit.«
Das Wort »Wahrheit« hing schwer und drückend in der Luft. Als Mary klein war, hatte jemand – ihre Mutter? – ihr beizubringen versucht, dass »die Wahrheit« sie »befreien« würde. Sie verstand nicht, wie das möglich sein sollte. Das war doch nur so eine Binsenweisheit für Naive – oder für die Privilegierten.
Behutsam räusperte sich Mr Chen. »Aber wir sind abgeschweift. Ich erinnere mich an deinen Vater, weil er ein ungewöhnlich hochgewachsener und gut aussehender Bursche war; jeder kannte ihn, wenn auch vielleicht nicht persönlich.«
Sie zwang sich, wieder an ihre ursprüngliche Frage zu denken: woher Mr Chen wusste, wer sie war. Doch, seine Erklärung klang logisch.
»Ich bin ihm nur wenige Male begegnet, und dich habe ich auch einmal gesehen, mit drei oder vier Jahren.« Er lächelte leicht. »Es ist lange her, aber du bist eindeutig Mary Lang.«
Sie begriff nur ganz langsam. Ihre Aufnahmefähigkeit schien schwerfällig, als würde sie nur mit einem Bruchteil ihrer üblichen Geschwindigkeit arbeiten. Aber alles klang ganz logisch. Zu logisch?
Ein spontaner Gedanke schoss ihr durch den Sinn. »Wenn das so ist«, sagte sie und ihre Stimme war plötzlich hoch und scharf, »wenn Sie sich so um die asiatische Gemeinschaft sorgen, warum haben Sie uns nicht geholfen, als er für tot erklärt wurde? Warum haben Sie meine Mutter im Stich gelassen, verhungern lassen, sie gezwungen –« Sie bebte jetzt vor Zorn.
Mr Chen sah sie bekümmert an. »Das war eine Tragödie.«
»Das kann man wohl sagen! Aber es hätte nicht so kommen müssen!«
Er seufzte und rieb sich die Nasenwurzel. »Das ist richtig.« Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Nachdem die Nachricht vom Tod deines Vaters kam, hat eine Dame von einer benachbarten Kirchengemeinde deine Mutter aufgesucht. Sie suchte nach einem Hausmädchen und wollte dich kaufen.
Deine Mutter hat äußerst verärgert reagiert. Sie lehnte das Angebot ab und forderte die Dame auf, ihr Haus sofort zu verlassen. Die Dame war sehr gekränkt. Sie entschied daraufhin – auf die Ablehnung ihres Angebots, das sie als sehr großzügig ansah –, dass deine Mutter überhaupt keine Hilfe bekommen sollte.«
Er schien auf alles eine Antwort zu haben. Und dennoch … »Und Sie?«, fragte Mary trotzig. »Sie wussten über alles Bescheid, haben sich aber auch geweigert, uns zu helfen?«
Mr Chen machte ein beschämtes Gesicht. »Ich hatte Angst. Die Gemeinde, zu der die Dame gehört, hilft uns, dieses Wohnheim zu betreiben. Ich hatte Angst, dass sie ihre Zuschüsse streichen würden, wenn wir geholfen hätten.«
Seine Scham schien aufrichtig zu sein. Nach und nach drangen seine Worte zu ihr durch, und Mary merkte, dass sie ihm glaubte. Langsam setzte sie sich wieder. Ihre Hände taten weh, so fest hatte sie die Stuhllehne umklammert. »Sie haben meinen Vater also gekannt.«
Er erhob sich und ging auf einen Aktenschrank zu. »Ich habe seit einigen Jahren eine Akte über ›vermisste‹ Laskaren – Männer, die auf Überfahrten verschollen sind. Segeln ist zwar eine gefährliche Angelegenheit, aber es gibt einige ungeklärte Fälle, bei denen speziell ausländische Seeleute verschwunden sind. Um diese Fälle ranken sich einige Gerüchte. Die Dockarbeiter reden gerne, verstehst du? Die asiatischen Matrosen, die verschollen sind, verbindet alle etwas. So viel ich weiß, gehörte dein Vater zu dieser Gruppe.
Aber da war noch etwas anderes«, fuhr Mr Chen fort. »Ehe er 1848 in See stach, suchte mich dein Vater auf. Er hatte das ungute Gefühl, von jener speziellen Reise möglicherweise nicht zurückzukommen, aber er wollte deine Mutter nicht beunruhigen. Er überließ mir ein Zigarrenkistchen, das er wieder an sich nehmen wollte, wenn er zurückkehren würde; sollte das jedoch tatsächlich nicht der Fall sein, dann wollte er, dass ich es dir zukommen ließe, wenn ich die Zeit für gegeben hielte.« Mr Chen sah sie bedauernd an. »Ich hatte zu viel Angst, deiner Familie zu helfen, und ich habe es versäumt, dir das hier zu geben, ehe du verschwunden bist. Dieses Versäumnis kann ich mir nicht verzeihen. Aber nun bist du hier. – Dein Vater liebte dich von Herzen, Mary. Das hier hat er dir hinterlassen.«
So viele Fragen hatten sich in ihr angestaut, aber Mary konnte den Blick nicht von der Zigarrenkiste wenden. Sie starrte sie nur an, voller Angst, dass es sich um einen bösen Scherz handeln könnte – oder dass sich die Kiste, sobald sie gierig die Hand danach ausstreckte, um sie zu berühren, in Luft auflösen oder zu Staub werden könnte.
Der gedämpfte Klang der Türglocke unterbrach sie. »Ich lasse dich allein, damit du dir dein Erbe ansehen kannst«, sagte Mr Chen leise. Sie brachte keine Antwort heraus, aber als sie wieder aufsah, war er verschwunden.
Die Zigarrenkiste war mit Bindfaden umwickelt. Als Mary ihn löste, erinnerte sie sich plötzlich wieder, wie ihr Vater ihr verschiedene Seemannsknoten beigebracht hatte: den Palstek, den Achterknoten, den Kreuzknoten. Mit zitternder Hand klappte sie den Deckel auf, sodass der Klebstreifen aus Papier an der hinteren Kante fast zerriss. Obenauf lag ein Umschlag, auf dem in sorgfältiger, kindlicher Handschrift einfach nur »Mary« stand. Daraus zog sie eine halbe Briefbogenseite und ein zusammengefaltetes Stückchen Papier, das etwas enthielt, was sich wie ein Pflaumenkern anfühlte.
Meine liebe Mary,
als Erstes und Wichtigstes: Ich liebe Dich von Herzen. Ich bin stolz auf Dich und werde es immer sein.
Ich gehe auf eine gefährliche, aber wichtige Reise. In dieser Kiste hinterlasse ich ein paar Informationen, die eines Tages bedeutungsvoll für Dich sein könnten. Du kannst auf die Hilfe von Mr Chen vertrauen.
Ich muss nun los. Pass gut auf Deine Mutter und Dein neues Schwesterchen oder Brüderchen auf und hilf ihnen, sich an mich zu erinnern.
Dein Dich liebender Vater
Er war so kurz. Mary las ihn immer wieder und hoffte jedes Mal, etwas mehr herauszulesen. Mehr über ihn selbst, mehr über sie, überhaupt mehr. Sie merkte nicht, dass sie weinte, bis ihre Tränen auf den Bogen fielen und die Unterschrift verwischten.
Da musste sie noch heftiger weinen, und ihre Finger zitterten, als sie das zusammengefaltete Stück Papier öffnete. Darin war etwas, das sie ganz und gar vergessen hatte: ein kleiner Anhänger aus geschnitzter Jade, nicht größer als ihr Daumennagel. Er sah wie eine kleine Frucht aus – eine Birne vielleicht. Die Kette war schwarz angelaufen, aber sie hatte ihr gehört – vor langer Zeit. Etwas von ihrem chinesischen Erbe, das sie an Feiertagen hatte tragen dürfen. Aber was machte es hier? Warum hatte ihr Vater den Schmuck so vorsichtig versteckt, an einem Ort, den sie möglicherweise niemals gefunden hätte?
Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie zusammenfahren; hastig wischte sie sich die Tränen ab. »Ja?«
Mr Chen kam herein. »Es tut mir leid, dass ich stören muss, aber ich brauche dieses Büro, um einen geschäftlichen Besuch zu empfangen. Würdest du ins Wohnzimmer gehen? Dort kannst du dir Zeit lassen, so viel du brauchst.«
Das Wort »Zeit« rief ihr plötzlich ihre Situation ins Gedächtnis. »Ich muss gehen!«, stieß sie aus. Wie lange war sie schon hier drin?
»Aber nein, Mary, bleib doch!«
Sie versuchte zu lächeln. »Ich muss los – in eigener Sache.« Sie sah auf die Zigarrenkiste hinunter. Sie enthielt einen weiteren Umschlag, der an ihre Mutter adressiert war, sowie eine Rolle mit Dokumenten, die ebenfalls mit Bindfaden umwickelt war. »Mr Chen«, sagte sie, »darf ich diese Kiste bei Ihnen lassen? Ich kann sie jetzt nicht mitnehmen.«
»Aber gerne. Sie hat ja schon zehn Jahre auf dich gewartet; sie wird noch ein bisschen länger warten.«
Mary packte alles wieder ein, zögerte, nahm die Kette heraus, legte sie an und steckte den Anhänger unter ihre Bluse. »Danke«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ich komme bald wieder.«
Mr Chen verbeugte sich leicht. »Bis zum nächsten Mal, Mary.«