Aus dem Schutz seiner Kutsche beobachtete James das Laskarenheim mit zusammengekniffenen Augen. Er hatte sein Gespräch mit dem Heimleiter bis zum Geht-nicht-mehr hingezogen, ehe er wieder in die Kutsche gestiegen war. Und jetzt hatte er nochmals eine halbe Stunde gewartet. Es kam ihm allerdings länger vor.
Sein Blick wanderte zu Marys Handtasche, die ordentlich auf dem gegenüberliegenden Sitz lag. Sollte er es wagen? Die Situation auszunutzen war natürlich unfair und unfein, egal, wie man es nannte … aber zum Teufel. So verhielt sich Mary ja auch. Abgesehen von dem üblichen Kram – ein paar Münzen, ein sauberes Taschentuch – lag ein Brief darin mit dem Poststempel vom Vortag. James überflog ihn rasch. Meine liebe Mary, ich schreibe Dir mit einer tragbaren Briefmappe, die für den Fall einer Reise praktisch ist … Was für eine unsinnige Nachricht. Was kümmerte es Mary denn, was die alte Schachtel mit ihren Schutzbefohlenen machte?
Er hatte den Brief schon zurückgelegt, als ihn etwas zögern ließ. Irgendetwas kam ihm seltsam vor … er konnte nicht genau sagen, was. Erneut las er den Brief durch. Was war das denn für eine Schulleiterin, die damit prahlte, eine Reisebriefmappe zu haben, während sie sich Sorgen um ihre Schülerinnen machte? Wer war die Frau überhaupt? Er musste diese Anne Soundso doch mal überprüfen. Er hielt den Briefbogen gegen das Licht, wenn auch voller Selbstironie. Unsichtbare Tinte und Briefcodes waren doch etwas aus abenteuerlichen Ammenmärchen und hatten nichts mit echten Untersuchungen zu tun. Und doch war ja alles an Mary ein bisschen abenteuerlich.
Ein schwacher Hauch von Zitronenseife hing noch im Wagen – ein Duft, der ihm sofort das Bild von Mary in nichts als ihrer Unterwäsche vor Augen rief. Ihre nackten Schultern und Arme hatten in der düsteren Kutsche geschimmert. Er hatte nicht vorgehabt, wie ein Schuljunge zu glotzen. Aber es tat ihm auch nicht leid.
Der Anblick einer großen rostbraunen Stute riss ihn aus seinen Träumereien. Sie blieb direkt vor dem Laskarenheim stehen. Der Reiter, ein hübscher blonder Herr, kam James sofort nur allzu vertraut vor. Er runzelte die Stirn, blickte noch einmal kurz die Straße entlang und zog sich vom Kutschenfenster zurück. Tatsächlich, gleich hinter Pferd und Reiter erschien ein Schlachterjunge mit sandfarbenem Haar und einem Korb am Arm. Er blieb auf der Straße stehen, las etwas von einem Zettel ab und murmelte ein paar Punkte davon vor sich hin. James lächelte beim Anblick seines jungen Komplizen: Alfred Quigley hatte doch wirklich eine schauspielerische Ader.
Als der Reiter in dem Heim verschwunden war, sah James auf seine Taschenuhr. Mary war inzwischen fast eine Stunde in dem Haus. Nachdem jetzt unerwartet Michael Gray aufgetaucht war, würde sie bestimmt noch mindestens eine Viertelstunde brauchen. Nun gut: Er würde sich nicht aufregen, sondern die Zeit sinnvoll nutzen. An die unzähligen Dinge denken, die er heute noch erledigen musste. Auf Antworten zu seinen eigenen Untersuchungen sinnen. Er streckte die langen Beine aus und schlug sie wieder übereinander. Und merkte, dass er ungeduldig mit den Zähnen knirschte.
Als Mary auftauchte, diesmal durch die Haustür, bewegte sie sich wie in Trance. Ihr Ausdruck, der normalerweise so wach war, wirkte völlig abgelenkt. Ehe Barker den Tritt für sie herunterklappen konnte, ergriff James sie bei den Armen und hob sie praktisch in die Kutsche.
Mit einem Plumps, der ihren Rock stauben ließ, landete sie auf ihrem Platz, legte jedoch keinen Protest ein. »Sie müssen genug haben vom Warten«, sagte sie.
»Ein wenig.« Sein Ton war unter den gegebenen Umständen überraschend ruhig.
»Tut mir leid.« Sie klang ganz untypisch kleinlaut und sah ihn nicht an.
Er wartete mit zuckenden Mundwinkeln. »Und?«, fragte er schließlich.
»Ach so – Sie wollen hören, was ich herausgefunden habe.« Ihre Augen waren gerötet. Staub vielleicht.
»Ja.«
Sie starrte einen Augenblick aus dem Fenster und schien sich zu fassen. »Schließen Sie die Augen«, sagte sie. »Ich erzähle, während ich mich umziehe.«
James legte sicherheitshalber die Hand über die Augen und hörte ungeduldig ihrer kurzen Beschreibung des Gebäudes und der Schlafsäle der Matrosen zu. »Mehr haben Sie nicht gesehen? Was hat Sie so lange aufgehalten?«
»Tja – der Heimleiter hat mich erwischt. Ich musste so tun, als würde ich Arbeit suchen. Gut, dass ich so verkleidet war.« Sie knöpfte ihr Kleid fertig zu und überprüfte, dass der Anhänger nicht zu sehen war.
»Ich nehme an –« Sie verstummte, als sie Anne Treleavens Brief auf dem Sitz neben sich liegen sah. Mit langsamer Bewegung nahm sie ihn an sich und starrte ihn verwundert an. »Das ist … wie ist der … Sie – Sie Dreckskerl! Sie haben in meinen Sachen herumgestöbert und einen Privatbrief von mir gelesen! Wie konnten Sie es wagen!« Ihre Augen wurden schmal und blitzten vor Zorn; ihr Körper war angespannt und sprungbereit.
James schämte sich etwas, verbarg das jedoch unter aufkommendem Ärger. »Sie sind wohl kaum in einer Position, um mir vorzuwerfen, mit verdeckten Karten zu spielen«, entgegnete er. »Was ist mit Ihrem geheimen Treffen und dem Grund, warum sie so lange in dem Heim waren?«
»Sind Sie jetzt verrückt? Was für ein geheimes Treffen?« Ihr Gesicht war gerötet und sie sah ihn ausweichend an. Oder sogar schuldbewusst.
»Ich bin doch kein Narr!«, brüllte er. »Es ist ganz eindeutig, dass Sie da drin was im Schilde geführt haben. Nach Arbeit zu fragen, kann ja wohl nicht so lange dauern!«
»Ich habe getan, was wir vereinbart haben. Falls Sie sich erinnern, war es Ihr Plan!«
»Da muss ich Ihnen ja schön in die Hände gespielt haben. Es war reiner Zufall, dass ich gesehen habe, wie er in das Heim gegangen ist. Das haben Sie schlau gedeichselt, dass ich dieses Haus vorgeschlagen habe! Nur Pech, dass Sie nicht bedacht haben, mich fortzuschicken, nachdem ich den Heimleiter erst mal abgelenkt hatte. Ich habe ihn gesehen, Mary!«
»Sie haben ihn gesehen?« Jetzt schien sie ehrlich verblüfft. »Was zum Teufel meinen Sie?«
Er verzog den Mund. »Sie leugnen weiter? Ich habe Sie für klüger gehalten, Miss Quinn.«
»Grr, ich könnte schreien. Zum letzten Mal, Mr Easton, ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Sie haben doch vorgeschlagen, dieses Laskarenheim auszuspionieren. Sie haben den Plan gemacht und diese stinkenden Lumpen besorgt. Ich habe einfach mitgemacht. Und jetzt werfen Sie mir vor, jemanden getroffen zu haben, der eindeutig Ihrer Fantasie entspringt!«
»Michael Gray soll eine Ausgeburt meiner Fantasie sein? Erzählen Sie das mal Ihrem werten Arbeitgeber.«
»Michael Gray?« Jetzt war sie vollkommen außer sich. »In dem Heim? Was für ein Blödsinn!«
»Ich nehme an, es stellt sich noch raus, dass Sie alle miteinander da drin stecken, die ganze verdammte Familie, aus irgendeinem obskuren Grund, den ich noch nicht durchschaue.«
»Sie sind ja total besessen von dem Mann. Oder besser: Sie sind total besessen von der Idee, dass ich mit Gray unter einer Decke stecke.«
Ach, was hätte er nicht darum gegeben, die Frau kräftig zu schütteln. In Augenblicken wie diesem war es ein eindeutiger Nachteil, ein Gentleman zu sein. »Sie leugnen also, Gray da drinnen getroffen zu haben?«
»Natürlich leugne ich es, Sie Idiot!«, rief sie. »Wie soll ich ihn auch getroffen haben? Er war nicht da!«
»Idiot?« James merkte, wie er die Kontrolle über sich verlor. »Sie unverschämte kleine –«
»Halten Sie an. Ich will aussteigen!«
»Gerne!«, fauchte er und klopfte energisch ans Dach. Es war ihm egal, wo sie sich befanden; er würde sie sogar glatt in den Fluss werfen.
Die Kutsche wurde langsamer und Mary stieß die Tür auf. Er sah, dass sie tatsächlich direkt am Fluss waren, der im Mittagslicht wie öliger Teer schimmerte. Der Gestank nach verfaulendem Abfall drang in die Kutsche und beide mussten heftig würgen.
»Tür zu!«, keuchte James, sobald er wieder sprechen konnte.
Mary sah zwar grün aus, war jedoch bereit, auszusteigen. Er packte sie am Ellbogen und zog sie wieder hinein. »Bleiben Sie.«
Ihr war anscheinend zu übel, um sich zu widersetzen, und sie warf rasch die Tür ins Schloss, während die Kutsche in westlicher Richtung anfuhr. James konnte sich kaum vorstellen, wie Barker es da draußen im Freien aushielt. Es folgte ein längeres Schweigen, denn beide mussten mit Taschentüchern vor der Nase gegen ihre Übelkeit ankämpfen.
Nach mehreren Minuten holte Mary versuchsweise Luft. »Es ist nicht mehr so schlimm.«
»Gut.« Doch als er sein Taschentuch fortnahm, traf ihn wieder ein Schwall des faulen Gestanks. Er bedeckt die Nase erneut und versuchte, normal zu atmen.
Mary runzelte die Stirn. »Ist Ihnen schlecht?«
»Nein.« Sein Speichel schmeckte äußerst salzig.
»Sie sehen kreidebleich aus.«
»Es geht schon«, brummte er. Warum hatte sie sich schon erholt, während er selbst sich noch wie eine jüngferliche Mamsell zierte? Auf keine Fall wollte er sich in ihrer Gegenwart übergeben.
Nach einer Pause bot sie ihm vorsichtig ihr Taschentuch an. Er nahm es zögernd an. Ihr lieblicher Zitronenduft half mehr, als er zugeben wollte.
»Wie halten Sie das aus?«, murmelte er durch das Tuch.
»Halte ich was aus?«
»In Cheyne Walk zu wohnen. Wie halten es die Thorolds aus?«
Mary überlegte. »Also, Miss Thorold hält es nicht gut aus. Mr Thorold sagt, der Fluss habe ihn reich gemacht, daher sagt er nichts Schlechtes über ihn. Und Mrs Thorold scheint der Gestank nicht zu stören.«
»In den Zeitungen wird die Situation schon als ›Das große Stinken‹ bezeichnet, haben Sie das gehört?«
»Die Themse riecht doch nie gut.«
»Aber sie hat noch nie so schlimm gerochen«, entgegnete er. »Sogar die Fährmänner haben den Dienst eingestellt.«
Es war richtig: Die übliche Betriebsamkeit der kleinen Flussfähren war nirgends zu sehen. »Stimmt es, was man über die Ursache des Gestanks sagt?«
»Menschlicher Abfall, tote Tiere, verrottende Pflanzen, Abwasser aus Gerbereien und chemischen Manufakturen und Gott weiß was.« James hatte all das – und noch mehr – gesehen, als er bei der Tunnelausgrabung gearbeitet hatte.
»Aber das alles ist doch seit Ewigkeiten in die Themse gelangt. Seit Jahrzehnten.«
»Es ist schlimmer geworden«, sagte er. »Steigende Einwohnerzahlen bringen mehr Abfall mit sich. Und inzwischen sind es nicht mehr nur tote Katzen und anderer Müll. Alle Wasserklosetts in London werden direkt in die Themse entleert.«
Mary schauderte. »Es ist also nicht die Hitze, die den Gestank verursacht; sie macht den normalen Gestank nur schlimmer.«
James nickte. »Da muss bald eine Lösung gefunden werden. London wächst so schnell.«
»Aber wie kann man den Fluss sauber bekommen? Und wo soll das ganze Abwasser hin?«
»Die einfachste Lösung ist, es an andere Stellen zu leiten – unterirdische Leitungen zu bauen, die das Abwasser fortbringen. Und man muss den Fabriken verbieten, alles ins Wasser zu befördern.«
»Unterirdische Leitungen? Ich nehme an, da kommen Sie und Ihr Bruder ins Spiel!«
Vorsichtig nahm er das Taschentuch von der Nase. »Oder Brunel. Oder die vielen anderen Bauunternehmer, die sich um die Arbeit reißen.«
Abrupt wechselte sie das Thema. »Wo sind wir? Ich nehme mal an, dass es jetzt sicher genug ist, um auszusteigen.«
Er hielt sie mit ausgestreckter Hand zurück. Ihr Streit kam ihm jetzt albern vor, aber er musste es wissen. »Mary, er war wirklich dort.«
»Gray? Wann?«
»Als Sie drin waren, kam Gray angeritten. Er ist durch die Haustür eingetreten. Danach waren Sie noch eine Weile drin.«
Sie runzelte die Stirn. »Geritten. Auf dem Rostbraunen, der draußen angebunden war?«
»Genau!«
»Aber warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«
»Lassen Sie uns jetzt nicht wieder streiten, ja?«, meinte er grinsend.
Sie lächelte offen und breit, was nur selten vorkam und ihr Gesicht veränderte. »Wir sind ja nicht handgreiflich geworden.«
»Wofür meine Nase dankbar ist.«
»Ihre Prellung heilt ziemlich rasch, wie ich sehe.«
»Ja. Und Ihre Hand?«
»Schon viel besser, danke.«
Die Kutsche hielt an. Barker machte die Tür geräuschlos auf und klappte den Tritt herunter. »Lawrence Street, Miss Quinn.«
Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: »Ich halte Sie auf dem Laufenden.«
»Ebenso.«
***
Nach dem Abendessen zogen sich die Damen immer in den Salon zurück, während Thorold und Gray im Esszimmer Portwein tranken und noch etwas Stilton-Käse aßen. Mrs Thorold nickte meistens in ihrem Sessel ein und Angelica spielte Klavier. An diesem Abend kam Angelica jedoch überhaupt nicht zur Ruhe. Sie blätterte raschelnd ihre Noten durch, legte sie beiseite, setzte sich dann ans Fenster und sah trübsinnig vor sich hin. Den ganzen Tag war sie schon so gewesen.
»Ich glaube, ich hole meinen Nähkorb«, sagte Mary schließlich. »Kann ich Ihnen etwas mitbringen?«
Angelica wandte nicht mal den Kopf.
Leise schloss Mary die Salontür hinter sich. Im Flur war es still. Die Bediensteten waren inzwischen in ihrem eigenen Bereich und aßen zu Abend. Die Esszimmertür unten stand offen. Das war nicht üblich, aber angesichts der Hitze verständlich. Gelbliches Gaslicht drang in den Flur, dazu leise, angeregte Stimmen.
»Bei allem Respekt, Sir, Sie sollten sich das mit Brighton noch mal überlegen.«
»Ich sagte Ihnen doch schon – das ist nicht möglich.«
Mary blieb mit einer Hand auf dem Treppengeländer stehen. Das war ja günstiger, als sie gehofft hatte.
»Ich habe gemerkt, dass die Damen London nicht verlassen wollen, aber unter den Umständen –«
»Sie waren ja bei dem Gespräch dabei, Gray. Mrs Thorold war deutlich genug. Es geht nicht darum, was vorzuziehen wäre, es ist eine medizinische Notwendigkeit.«
»Es gibt auch medizinische Gründe, warum man sie aus der Stadt bringen sollte, Sir. Könnte sie denn nicht in Brighton einen Arzt aufsuchen?«
Schweigen. Dann: »Mischen Sie sich nicht in Dinge ein, die Sie nicht verstehen.«
»Sir, ich –«
»Genug!« Die plötzliche Verärgerung in Thorolds Stimme war überraschend. »Ich habe Sie von meinem Entschluss in Kenntnis gesetzt; er ist unwiderruflich.«
Grays Stimme war jetzt hart. »Ich war heute in George Villas, Sir.«
Wieder Schweigen. »Was waren Sie?«
»In George Villas in Limehouse. Wo das Imperial Baptist East London Asyl für verarmte asiatische Seeleute steht, Sir.«
»Was wollten Sie denn dort, zum Teufel? Das geht Sie gar nichts an.«
Michael Gray redete jetzt drängend auf ihn ein. »Ich habe ein paar Unregelmäßigkeiten in der Abrechnung vom letzten Quartal gefunden.« Er legte eine effektheischende Pause ein, aber Thorold wollte anscheinend nichts erwidern. »Ich habe mich gefragt, Sir, warum das Unternehmen zahlt für die …«
Die Schritte eines Bediensteten im Flur ließ die beiden Männer verstummen. Dann sagte Thorold mit kalter Stimme: »Wie ich schon sagte, das liegt außerhalb Ihrer Kompetenz, Gray. Wenn Sie Ihre Stellung behalten wollen, dann kümmern Sie sich gefälligst um Ihren eigenen Bereich.«
Schweigen.
»Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Jawohl, Sir.«
Mary verharrte noch einen Moment, aber die Unterhaltung war eindeutig beendet. Trotzdem, was für ein Glück. Sie eilte in ihr Zimmer und schloss auf. Einen Moment lang kramte sie herum, um nach einer Kerze zu suchen, da sagte eine raue Stimme plötzlich: »Ich hab ein Binsenlicht in der Tasche, Miss.«
Mary unterdrückte einen Aufschrei. Als sie wieder sprechen konnte, wurde sie ziemlich heftig, so sehr hatte sie sich erschrocken. »Cassandra Day! Was um Himmels willen machst du in meinem Zimmer?« Ihre Finger schlossen sich um die Schachtel mit Schwefelhölzern. Als das Hölzchen aufflammte, sah sie, dass Cass auf dem Boden beim Waschtisch kauerte und die Knie ans Kinn gezogen hatte. Sie zwinkerte und blinzelte heftig, was darauf schließen ließ, dass sie eine Weile im Dunklen gesessen hatte. Mary nahm sich Zeit und zündete ein zweite Kerze an.
»Nun? Was soll das?«, fragte sie knapp.
»Nicht böse sein, Miss Quinn: Es ist wichtig.«
»Was ist wichtig?«
Cass richtete sich ungelenk auf und krampfte die Hände um die Schürze. »Etwas, das ich heute gehört hab. Ich wusste nicht, wie ich es Ihnen sonst sagen sollte.«
»Vermisst man dich nicht in der Küche?«
»Ich hab die Töpfe schon abgewaschen, Miss. Die Köchin hat erlaubt, dass ich gehe, um meine Schürzen zu flicken.«
Wenn man sich diejenige ansah, die sie gerade trug, dann war das auch nötig. Mary nickte. »Na gut. Setz dich. Ich reibe deine Hände ein, während du mir erzählst, was du gehört hast.«
Selbst in dem dämmrigen Licht konnte sie sehen, wie Cass vor Eifer rot wurde. Sie setzte sich vorsichtig auf einen Korbstuhl und passte auf, dass ihre Röcke nicht das saubere Bettzeug berührten.
»So.« Mary entkorkte das kleine Salbengefäß. »Was bereitet dir Sorgen?«
Cass reckte die schmalen Schultern und holte tief Luft. »Ganz früh heute Morgen hab ich in der Vorratskammer vom Butler das Tafelsilber poliert.«
Mary runzelte die Stirn. »Das ist doch die Aufgabe von einem Hausdiener.« Sie aus der Spülküche zu lassen – ganz zu schweigen davon, ihr das hässliche, aber wertvolle Familiensilber zu überlassen –, war ein schwerer Verstoß gegen die häusliche Ordnung. Wenn Cass dabei erwischt worden wäre, hätte man sie fristlos entlassen können.
»Ich weiß, Miss. Es ist nur, weil die Köchin in William verliebt ist. Sie hat mir den Auftrag gegeben, während sie ihm ein warmes Frühstück gemacht hat.«
»Hmm. Na gut. Du hast also das Silber geputzt. Wann war das?«
»Die Uhr hat sieben geschlagen, kurz nachdem ich angefangen hab. Und als ich gerade fertig war, da ist Mr Gray in den Frühstücksraum runtergekommen. Die Verbindungstür ist auf gewesen, aber ich hab nicht gewollt, dass er mich sieht und fragt, was ich da mache, deshalb hab ich mich hinter der Tür versteckt.« Sie kniff schmerzlich die Augen zusammen, während ihr Mary Salbe in ihre eingerissene Nagelhaut massierte, doch sie zuckte nicht zurück. »Die Zeitungen sind schon auf dem Tisch gewesen, aber er hat sie nicht gelesen, er ist im Zimmer auf und ab gelaufen. Hab mir nichts dabei gedacht; ich wollte doch nur mit dem Silberputzen fertig werden und wieder in die Spülküche. Erst als Mr Gray plötzlich ganz laut gesagt hat: ›Was zum Teufel spielen Sie?‹, da hab ich angefangen aufzupassen. Das hat er zu Miss Thorold gesagt, die dann gesagt hat, er soll leise sein.«
Mary zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »War Mr Thorold auch im Zimmer?«
»Nein, Miss. Es war ja noch vor acht, wissen Sie, und er kommt erst um Viertel nach acht runter.«
»Sprich weiter.«
»Ich hab Miss Thorold noch nie vor dem Mittagessen gesehen, ich war ganz überrascht; ich hab gedacht, dass ich mich vielleicht getäuscht hätte, aber ich konnte einen kleinen Streifen vom Zimmer durch den Türschlitz sehen – Sie wissen schon, da, wo die Angeln sind –, und da konnte ich sie erkennen. Sie war noch im Morgenmantel und hatte das Haar offen. Sie ist sehr hübsch, nicht, Miss?«
Mary nickte. »Ja.«
»Na ja, dann haben Miss Thorold und Mr Gray über was zu reden angefangen. Er hat sie Angie genannt und sie ihn Michael. Es war nicht so das übliche Geplauder: eher geschäftlich als freundschaftlich.« Sie legte die Stirn in Falten. »Ich hab nicht hören können, was sie gesagt haben. Sie waren ganz hinten im Zimmer, bei den Fenstern, und haben mit zusammengesteckten Köpfen gemurmelt. Aber er hat schließlich gesagt: ›Ich regle das so schnell wie möglich‹, und sie hat gesagt: ›Je eher, desto besser.‹ Dann haben sie noch ’ne Weile gemurmelt.«
Mary strich Cass ein letztes Mal über die Hände, dann verkorkte sie das Gefäß wieder. Obwohl sie froh war, dass sich die Verbindung zwischen Michael und Angelica bestätigte, verstand sie nicht ganz, warum ihr Cass das hatte erzählen wollen. Doch als das Mädchen weitersprach, horchte sie auf. »Dann hat Miss Thorold gesagt: ›Und was ist mit Miss Quinn?‹ Mr Gray hat nicht so recht gewusst, was er sagen soll, aber dann hat er gemeint: ›Sie ist keine Bedrohung; das wissen Sie doch.‹ Dann sind sie beide ein paar Minuten ruhig gewesen, dann hat er gesagt: ›Wenn es so weit kommt, was ist mit George und James Easton?‹, und Miss Thorold hat die Nase gerümpft und gesagt: ›Denken Sie doch mal nicht an die beiden.‹«
Mary warf instinktiv einen Blick zur Tür. Aber natürlich kam kein Geräusch oder keine Bewegung vom Gang draußen. »Und was ist dann geschehen?«
Cass schüttelte unglücklich den Kopf. »Nichts mehr, Miss. Direkt danach war nämlich ein Geräusch in der Diele und Miss Thorold hat das Zimmer verlassen. Ich hab ihre Pantoffeln gehört, aber ich weiß nicht, wo sie hin ist. Und ein paar Minuten später ist Mr Thorold ins Zimmer gekommen und Sie auch.«
Mary ließ sich diese neuen Informationen eine Weile durch den Kopf gehen, da fiel ihr noch etwas auf. »Hast du das ganze Frühstück über hinter der Tür vom Butler festgesessen? Nachdem ich auch runtergekommen bin?«
Cass machte ein verschmitztes Gesicht. »War nicht so schlimm; hab mich schön ausgeruht, Miss.«
Unten schlug die Standuhr zehn. Gedämpft drang ihr Ton durch die geschlossene Tür. »Wo wir gerade beim Thema Ausruhen sind, du solltest zu Bett gehen.«
Cass erhob sich folgsam. »Ja, Miss Quinn.«
»Danke, dass du mir das erzählt hast.«
Cass schüttelte heftig den Kopf. »Ich hab’s Ihnen einfach erzählen müssen, Miss.«
Dabei beließen sie es.
***
Während Mary später im Bett lag und sich die Ereignisse des Tages noch mal durch den Kopf gehen ließ, konnte sie nicht anders: Sie musste Spekulationen über den Inhalt der Zigarrenkiste anstellen. Darin würde auf jeden Fall stehen, wohin ihr Vater gefahren war – vielleicht sogar die genaue Route. Es würde auch erklären, warum er um seine Sicherheit bangte und wer hinter dieser Gefahr steckte. Vielleicht würde auch mehr darüber herauskommen, wer er war – und damit auch, wer sie selbst war. Wie würde sie die Wahrheit über ihren Vater bewältigen und in ihr eigenes Leben einfügen? Sie hatte keine Ahnung. Aber bald würde sie Bescheid wissen. Sie würde einige der Antworten bekommen, die sie so dringend brauchte.
Mary hatte ihre Kette um, als sie einschlief, und die Finger um den Jadeanhänger geschlossen. Sie konnte es kaum erwarten, die Papiere ihres Vaters zu studieren, und verfluchte den Fall bei den Thorolds, der sie daran hinderte. Aber sie musste ihre Pflicht erfüllen. Und wie Mr Chen gesagt hatte, sie hatte ja schon zehn Jahre verstreichen lassen. Zwei Tage, sagte sie sich. Nur noch zwei Tage.