James’ Pläne für einen faulen Sonntagnachmittag waren von Anfang an ein Reinfall. Er war Samstagnacht lange im Büro geblieben, um die Arbeit zu erledigen, die er vernachlässigt hatte, weil er lieber mit dieser Frau durch London gefahren war. Er hätte es wirklich besser wissen sollen: Jede Person, die man beim Herumschnüffeln in einem Schrank kennenlernte, musste doch Ärger bedeuten. Das traf doppelt – nein dreimal – so viel auf eine Göre zu, die sich als Dame ausgab, deren Benehmen sie aber mit jeder Bewegung verriet. Die kleine Gaunerin war eine gewiefte Ränkeschmiedin. Er und George konnten von Glück sagen, die Thorolds und ihr Umfeld los zu sein. Wobei ihm George allerdings nicht zustimmen würde.
Gerade als es James gelang, sich mit einem Buch abzulenken, brachte die Haushälterin ihm eine Nachricht von Alfred Quigley. Es war nicht die Schuld des Jungen: Er hatte keine Ahnung, dass der »Fall« in sich zusammengefallen war. Aber es erinnerte ihn erneut unangenehm daran, wie viel Zeit und Energie er die letzten vierzehn Tage verschwendet hatte. James knüllte die Notiz in die Tasche und fing an, sich stattdessen über Quigley Gedanken zu machen.
Er sollte dem Knaben eine andere Arbeit suchen. Ein kluges Kind wie er war zu gut für solch kleine Botendienste – aber in seinem Alter war es wohl das Einzige, womit er etwas Geld verdienen konnte, um seine verwitwete Mutter zu unterstützen. Konnte ihre Firma den Jungen anheuern, als Hilfslehrling sozusagen? Oder vielleicht sollte man ihm eine anständige Schule finanzieren … Er brauchte mehr Wissen, wenn er etwas Richtiges aus seinen Talenten machen wollte. Wie auch immer, der Junge war eine neue Verantwortung, um die er sich dank dieser verdammten Thorolds kümmern musste.
So ein Gespräch mit sich selbst war ziemlich aufreibend, und er war fast erleichtert, als er hörte, wie die Tür zur Bibliothek aufging. »Was ist los, Mrs Lemmon?«
»Verzeihung, Mr Easton. Da ist ein Polizist, der mit Ihnen oder Mr George sprechen will.«
»Hat er gesagt, worum es geht?«
»Mir gegenüber wollte er nichts sagen, Sir. Hat aber gemeint, dass es dringend ist.«
Und das an einem Sonntag. »Na gut.« James erhob sich. »Wo haben Sie ihn hingeführt?«
Constable Thomas Huggins fuhr spielerisch mit dem Finger über den geschnitzten Rahmen eines Bildes im Frühstückszimmer. Er war jung und hatte besorgte, weit auseinanderstehende Augen. Schuldbewusst drehte er sich um, als James eintrat. »Mr Easton?«
»Ja.« James setzte sich und forderte den Mann auf, es ebenfalls zu tun.
»Tut mir sehr leid, Sie am Sonntag stören zu müssen, Sir.« Huggins blieb stehen. Verlegen hielt er seine Mütze in der Hand. »Eine ziemlich unerfreuliche Nachricht, fürchte ich.«
»Die mich betrifft?«
»So hat es den Anschein, Sir.«
James wartete mit versteinertem Gesicht.
»Auf einer von Ihren Baustellen ist eine Leiche entdeckt worden, Sir.«
Eine Leiche. James war sich plötzlich ganz sicher. Er sah die schlanke zusammengesunkene Gestalt in einem schmalen Reifrock und einem Schwall dunkler Haare. »Wie? Wo?« Seine Stimme war plötzlich rau und zu laut.
Constable Huggins wischte sich die Stirn. »Direkt am Fluss, Sir.«
James war froh, dass er saß. Nach einem Augenblick fragte er: »Wie kann ich helfen?«
Huggins nickte, denn das war jetzt wieder sein Gebiet. »Sieht nach einem Unfall aus, Sir – er muss die Balance verloren haben und in die Grube gestürzt sein, aber wir –«
Durch den Schleier der Übelkeit, der ihn umhüllte, begriff er das entscheidende Wort. »Er? Es war ein Mann?«
Huggins nickte. »Baugelände sind so verlockend für Streuner und Gassenjungen, wissen Sie … Sie halten sie für eine Schatzkiste.«
Doch keine Frau. Nicht – er holte tief Luft.
»Also hat man mich geschickt, um Sie zu bitten, zum Fundort zu kommen.«
»Selbstverständlich.« James erhob sich. »Ich bezweifle allerdings, dass ich in der Lage sein werde, den Leichnam zu identifizieren, Constable. Ein Vagabund, haben Sie gesagt?« Jetzt, wo er den ersten Schrecken überwunden hatte, ärgerte er sich, dass er voreilige Schlüsse gezogen hatte. Falls Mary tot aufgefunden wurde, dann bestimmt nicht auf einer seiner Baustellen. Er würde sie aus seinen Gedanken verbannen, und zwar ab sofort.
»Ja, Sir. Ist schwerlich ein angenehmes Thema für einen Sonntag, aber ’ne Leiche ist ’ne Leiche, selbst wenn der Tote wie ein Rumtreiber aussieht. Hat sich wahrscheinlich an den Baumaschinen zu schaffen gemacht oder so.«
Sie nahmen die wartende Droschke zur Baustelle des zukünftigen Eisenbahntunnels. Der Nachmittag war relativ frei von Gestank, was James dankbar registrierte. Die Männer würden morgen gut arbeiten können, wenn das kühle Wetter anhielt.
Als er aus der Droschke stieg, bemerkte er eine kleine Gruppe von Menschen. Die Baustelle wurde von einem entnervt wirkenden Polizisten gesichert, der sich als Sergeant Davis vorstellte. Die anderen waren Gassenjungen, Plünderer, Hausierer und Trödler, die sich über die Leiche hermachen wollten.
James entdeckte ein kleines Bündel am Ende der Tunnelöffnung. »Eine Ahnung, wie der Mann da hingekommen ist?«, fragte er den Sergeanten.
»Na, gefallen, nehm ich an.«
James sah den Sergeanten scharf an, aber er hatte nicht sarkastisch klingen wollen. »Haben Sie nach einem Arzt geschickt?«
Sergeant Davis machte ein störrisches Gesicht. »Wozu? Den kann nicht mal mehr der Herr Jesus selbst lebendig machen.«
Die Umstehenden kicherten verhalten.
»Schaffen Sie die Leute fort«, knurrte James. Er legte seine Jacke ab und kletterte in die Grube. Sie führte vom Eingangsbereich des Tunnels in die Tiefe. Er rutschte fast aus und schlitterte seitlich wie ein Krebs auf Händen und Füßen hinunter. Unten richtete er sich wieder auf und stapfte über den schlammigen Boden. Hier war der feuchtkalte Geruch des Flusses stärker, fast wie eine Flüssigkeit, die ihm in die Lungen sickerte.
Die Füße der Leiche waren klein und steckten – was für einen Bettler ungewöhnlich war – in Schuhen. Das Gesicht war in den Schlamm gedrückt, die Arme lagen seitlich ausgestreckt. James lief rascher, als er dem Toten näher kam, und er drehte ihn unsanft um. Der Körper war klein und mager, keineswegs ein ausgewachsener Mann. Also ein Junge. Warum war das so viel schlimmer?
Er tastete den schlammüberzogenen Hals ab und suchte sinnloserweise nach einem Pulsschlag, erkannte aber fast sofort, dass es vergeblich war. Ein Blick zum Tunneleingang zeigte ihm, dass Huggins und Davis die Menschenmenge in Schach zu halten versuchten. Sie hatten wohl beide nicht besonders viel Autorität.
Mit seinem Taschentuch wischte James jetzt den Schlamm vom Gesicht. Es war unwahrscheinlich, dass das Kind jemals identifiziert würde, aber er musste es versuchen. Sein Magen zog sich etwas zusammen, als er Sommersprossen freilegte. Die glasigen Augen schienen auf einen Punkt hinter seinem Kopf gerichtet. Die Wimpern waren schlammverkrustet.
Sein Taschentuch war bereits ganz schmutzig, aber es genügte auch so. James presste die Lippen aufeinander, als er auf den Jungen vor sich hinuntersah. Das Gesicht war verzerrt und verschmiert, die Lippen bläulich. Aber er war es eindeutig.
Weder ein Streuner noch ein Bettler.
Und nicht irgendein Kind.
Alfred Quigley.
Sein Inneres drehte sich plötzlich und er konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite treten, ehe er sein Mittagessen von sich gab. Das Würgen hörte nicht auf, auch als sein Magen schon leer war; er wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt. Er konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, ehe Constable Huggins ihn an der Schulter berührte. Sein Gesicht war tiefrot vor Verlegenheit.
»Es tut mir leid, Sir. Ich habe nicht geahnt, das es Sie so mitnehmen würde …«
James nahm das Taschentuch, das Huggins ihm anbot. Tränen mischten sich mit Schweiß auf seinem Gesicht. Nachdem das Dröhnen in seinen Ohren endlich nachließ, konnte er die Zuschauer johlen hören – aus sicherem Abstand natürlich. »Danke«, sagte er, als er wieder reden konnte.
Huggins errötete erneut und wandte den Blick ab. »Lassen Sie sich Zeit, Sir.«
James richtete sich auf. »Ich kann den Jungen identifizieren. Er hat für mich gearbeitet.« Huggins’ Mund öffnete sich zu einem kleinen Oh und James redete eilig weiter. »Glauben Sie, dass es ein Unfall war?«
Huggins sah sich hilflos um. »Es gibt doch keinen Grund, einen Jungen umzubringen, Sir. Also, wenn’s ein Mädchen wär, dann wär’s was anderes, vor allem bei einer – Sie wissen schon. Aber ein Junge? Und ganz angezogen? Ich habe keine andere Erklärung.« Als James die Stirn runzelte, fuhr er schnell fort: »Ich lass das auf dem Revier natürlich untersuchen, aber leider sind wir zurzeit etwas knapp mit Personal. Das hier – das hier ist mein erster Fall mit verdächtiger Todesursache, Sir.« Er errötete wieder.
James nickte langsam. »Er heißt Quigley. Hat bei seiner Mutter gewohnt, einer Witwe. Ich kann Ihnen ihre Adresse geben.«
Huggins nickte und seine Haltung drückte Erleichterung aus. »Je eher das erledigt ist, desto besser, Sir.« Er sah zu dem Sergeanten hinüber und machte eine vielsagende Bewegung.
»Sie bringen das Kind gleich weg?«
»Je eher, desto besser«, wiederholte Huggins. »Die da drüben brechen ihm sonst die Zähne aus, sobald wir ihm den Rücken zukehren.«
James bückte sich und schloss dem Jungen die Augen.
Huggins schien nichts dagegen zu haben. »Gute Idee, Sir. Bisschen angenehmer für die Mutter.«
Angenehmer. Natürlich. Auf jeden Fall angenehmer, wenn man die Mutter eines toten Kindes war. Er zog mit schmutzigen Fingern seine Brieftasche heraus und stopfte dem erschrockenen Huggins den Inhalt in die Hand. »Für die Mutter«, murmelte er. »Beerdigung.« Verdammtes Geld.
James sah der tragikomischen Prozession nach: der mürrische Sergeant, der den Leichnam über die Schulter geworfen hatte, gefolgt von dem nicht sehr beherzten, aber beruhigend menschlichen Constable Huggins. Fliegen surrten bereits herum, wo er sich übergeben hatte. Er warf einen letzten Blick auf den Boden und die Stelle, wo Alfred Quigley im Schlamm erstickt war. Dann wandte er sich ab und folgte Huggins aus der Baugrube.
***
Mörder. Mörder. Mörder. James war sich nicht bewusst, wie lange er am Rand des Baugeländes gestanden, auf den Fluss gestarrt und nur dieses eine Wort im Kopf hatte: Mörder. Alfred Quigleys Tod war seine Schuld. Da gab es nichts zu deuten. Und statt den Mut aufzubringen und es Mrs Quigley selbst zu sagen, hatte er Huggins die Adresse gegeben und es dabei belassen. Es gab keinen besonderen Grund mehr, auf der Baustelle zu bleiben, außer, dass er nicht wusste, was er sonst machen sollte. Sich in die Bequemlichkeit seines Hauses zurückzuziehen hatte er nicht verdient.
Sein Blick glitt über den Haufen von Leuten an dem rutschigen Flussufer. Die meisten waren enttäuschte Leichenfledderer. Außer – plötzlich entdeckte er eine vertraute Gestalt. Was zum Teufel machte sie hier auf seiner Baustelle? Angespornt von Ärger, und ehe er sich daran erinnern konnte, dass er sich geschworen hatte, nicht mehr an sie zu denken, lief er über den aufgewühlten Matsch, um sie aufzuhalten.
»Was zum Kuckuck machen Sie denn hier?«, bellte er, sobald sie in Hörweite war.
Mary drehte sich suchend um und sah schließlich zu ihm hinunter. Sie schien überrascht, ihn zu sehen. »Auch Ihnen einen guten Nachmittag.«
Er kletterte die Böschung hinauf, wischte sich die Handflächen an seiner ruinierten Hose ab und sah sie finster an. »Sie sollten sich an einem sicheren Ort aufhalten, daheim. Haben Sie denn keine Aufgabe dort?«
»Hören Sie mir zu«, sagte sie ruhig. Sie trat näher und rümpfte etwas die Nase über den übel riechenden Schlamm, mit dem er überzogen war. »Es hat eine neue Wendung gegeben.«
Er wollte nicht über eine neue Wendung reden. Er wollte sie am liebsten anschreien, bis sie weinte, und sie dann irgendwo hinbringen, wo sie sicher war – wo immer das auch sein mochte. Er wollte gerade loslegen, aber da redete sie bereits.
»Thorold ist festgenommen worden. Die Polizei hat eines seiner Schiffe in den Docks durchsucht.« Anscheinend war das Schiff früher als erwartet eingetroffen.
Er wurde mit einem Schlag aufmerksam. »Und weiter?«
»Zwei Inspektoren von Scotland Yard sind während des Mittagessens ins Haus gekommen. Sie haben ihn mitgenommen. Die Lager werden gerade durchsucht und seine Akten beschlagnahmt. Es kam als totale Überraschung – Thorold selbst hat nichts geahnt. Er dachte, sie wollten ihn zu den Einbrüchen in dem Speicherhaus befragen!«
»Was legt man ihm denn zur Last?«
»Schmuggeln gestohlener Waren.« Mit leiser Stimme berichtete sie von den indischen Kunstgegenständen. Er hörte aufmerksam zu und sah stirnrunzelnd zu Boden. Schließlich fragte er: »Wo ist Gray?«
»Im Haus. Die Inspektoren haben gesagt, er soll sich morgen im Yard melden.«
»Und Mrs Thorold?«
»Ich bin ihrer Kutsche gefolgt. Sie hat einen Anwalt aufgesucht – ich nehme an, um Thorolds Kaution und Verteidigung zu verhandeln. Ich bin stehen geblieben, als Sie mir zugewinkt haben, aber sie war sowieso schon auf dem Heimweg.«
Er betrachtete sie stumm. Sie schien erregt zu sein – sogar richtig begeistert – vor lauter Abenteuerlust. »Sind Sie sicher, dass sie Sie nicht gesehen hat?«
»Ich habe aufgepasst.«
»Das hoffe ich, um Ihrer Sicherheit willen.«
Sie runzelte über seinen Ton die Stirn. »Was soll das bedeuten?«
Das Bild von Alfred Quigleys totem Gesicht, schlammverschmiert und mit blauen Lippen, tauchte vor ihm auf. Er musste Mary vor dem gleichen Schicksal bewahren. »Ich kann nicht darüber sprechen«, sagte er mit angespannter Stimme. »Aber hören Sie gut zu, Mary. Die Sache geht uns nichts mehr an. Thorolds Geschichten werden jetzt unter die Lupe genommen. Sie brauchen nichts weiter tun. Suchen Sie sich eine neue Stelle und denken Sie nicht mehr daran.«
»Aber –«
»Wenn es eine Spur zu dem vermissten Stubenmädchen gibt, das Thorold geschwängert hat – und ich bezweifle das sehr –, dann findet die Polizei das raus. Das Beste, was Sie tun können, ist, sich aus der Sache rauszuhalten.«
»So haben Sie das beschlossen?« Seltsamerweise war sie nicht wütend. Ihre Augen waren heute eindeutig grün und schimmerten vor Erregung.
Er bemühte sich, seine Stimme zu beherrschen. Kühl zu bleiben. »Ja.«
»Also gut. Wie sieht Ihr Plan aus?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie hören mir nicht zu. Es gibt keinen Plan. Sie müssen die Thorolds verlassen – den ganzen verdammten Haushalt –, und zwar so schnell wie möglich und ehe Thorold auf Kaution freikommt. Heute noch.« Er sah, wie sich ihr offener, erwartungsvoller Ausdruck in Enttäuschung verwandelte, als sie begriff, was er meinte. Endlich.
Sie schloss eine Weile die Augen, und er freute sich, ihr Gesicht betrachten zu können. In Ruhe. Sich alles einzuprägen. Der Moment verging zu schnell. »Dass ich das auch richtig verstehe: Sie sagen, ich soll aufhören? Weglaufen und mich um meinen eigenen Kram kümmern? Wie ein braves Mädchen?«
Er trat unbehaglich von einem auf den anderen Fuß. »So habe ich es nicht gemeint.« Wenn sie ihn ansah, fühlte er sich immer in die Defensive gedrängt.
»Sie arroganter Kerl! Schreiben mir vor, was ich tun soll – wollen immer bestimmen –, wo wir doch übereingekommen waren, als Partner zu arbeiten. Als gleichberechtigte Partner. Wir haben das per Handschlag besiegelt!«
»Ich weiß. Ich würde es ja erklären, wenn ich könnte …«
»Aber Sie können nicht oder wollen nicht oder haben keinen guten Grund, deshalb muss ich mich einfach auf Ihr Wort verlassen!«
»Stimmt, aber ich würde das nicht sagen, wenn es nicht äußerst wichtig wäre. Verstehen Sie nicht?«
Sie sah ihn herausfordernd an. »Erklären Sie es mir.« Er wollte schon loslegen, da setzte sie noch hinzu: »Und sagen Sie jetzt bloß nicht, dass es zu meiner eigenen Sicherheit ist!«
Er presste die Lippen zusammen. Ausnahmsweise fehlten ihm die Worte. Was konnte er ihr sagen? Thorold macht vor nichts halt. Er hat ein unschuldiges Kind ermordet und jetzt habe ich Angst um Ihr Leben. Die Situation sah so an den Haaren herbeigezogen aus und Mary war so verwegen. Angetrieben von ihrem Gerechtigkeitssinn, geblendet von ihrer Furchtlosigkeit – sie würde ja doch nicht auf ihn hören. Womöglich würde sie sich noch zur Rächerin von Alfred Quigley aufschwingen. Und der Gefahr direkt in die Arme laufen. Er stöhnte. Es war hoffnungslos.
»Ich würde ja sagen, ›lassen Sie sich Zeit‹, aber haben Sie nicht gesagt, dass es eilt?«
Er hatte das Gefühl, dass ihr Blick ihn gefangen hielt. Dass er wie ein Insekt in einem Schaukasten auf einen Karton geheftet war. Die Sekunden, eine ganze Minute, dann zwei vergingen.
Sie kniff die Augen zusammen. »Nein? Dann können Sie vielleicht das beantworten: Wer sind Sie, dass Sie entscheiden, was für mich das Beste ist?«
Das war einfach – oder? Ursprünglich ein Kollege. Oder eher ein Mitverschworener. Sicher ein Freund. Aber diese Beschreibungen kamen ihm auf einmal so blass vor, wenn er an seine Gefühle dachte. Und diese Erkenntnis machte ihm genau so viel Angst wie alles, was er heute gesehen hatte.
»James …?«
Sein Herz schlug viel zu schnell. Er spürte die Schlagader im Hals. »Es ist zu gefährlich. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Sie müssen auf mich hören.« Seine Stimme war zu laut.
Sie wurde rot vor Zorn. »Weil ich nichts als eine schwache Frau bin?«
»Nein. Weil Sie noch eine Anfängerin sind, eine viel zu wagemutige; und egal, was Sie tun, es hilft doch keinem weiter.« Er versuchte, so kühl und sachlich wie möglich zu klingen.
Ihr Blick zeigte, dass sie verletzt war.
»Mary?« Er hasste es, den Bösen spielen zu müssen. »Schauen Sie mich doch nicht so an.«
Sie rührte sich nicht und erwiderte nichts.
»Sie kommen schon klar, Mary. Sie finden bestimmt eine andere Stelle. Sie können doch immer noch einen Brief, eine Empfehlung von Ihrer ehemaligen Schule bekommen, nicht? Sie waren ja nicht lange bei den Thorolds –«
Wütend schüttelte sie seine Hände ab. »Rühren Sie mich nicht an.«
Er hatte gar nicht bemerkt, dass er nach ihr gegriffen hatte. »Entschuldigung. Aber sagen Sie mir …«
»Ich muss gehen.«
»Darf ich Sie wenigstens nach Hause bringen?«
Sie richtete sich auf und erwiderte seinen Blick und statt Enttäuschung sah er jetzt Verärgerung.
»Wie Sie so richtig bemerkten, Mr Easton, können wir uns beide freuen, diesen Schlamassel los zu sein. Daher gibt es keinen Grund, unsere Unterhaltung fortzusetzen, und Sie brauchen sich auch keine Gedanken um mich zu machen.« Seinen Versuch, etwas zu erwidern, wischte sie mit einer Handbewegung fort. »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich wünsche Ihnen für Ihre geschäftlichen Unternehmungen alles Gute.«
»Also …« Er sah sie forschend an. »Ist das ein endgültiges Lebewohl?«
Sie reckte das Kinn. »Freut Sie das nicht? Mich schon.«