Taub.
Das war das Wort für seine Hände und das seltsame, kalte Gefühl in den Lippen. Leider traf es nicht für seinen Geisteszustand zu. James starrte auf den zerknüllten Zettel, den er gerade aus der Tasche gezogen hatte: eine halbe Seite einfachen Papiers, säuberlich zweimal zusammengefaltet und adressiert an Herrn J. Easton in mühsamer, ziemlich krakeliger Druckschrift. Es war Alfred Quigleys Brief. James hatte ihn ganz vergessen, bis er nach einem frischen Taschentuch gesucht hatte.
Er war jetzt natürlich unwichtig – genauso wie James’ Pläne, den Jungen richtig anzustellen oder ihm zu helfen, eine anständige Ausbildung zu bekommen, oder jede andere der guten Absichten, die er am Morgen verworfen hatte. Was zum Teufel sollte er jetzt noch mit der Notiz machen? Sie schien bedeutungsvoll zwischen seinen Fingern zu vibrieren – in Wirklichkeit wahrscheinlich ein Zittern, das von der leichten Brise oder James’ eigener Unruhe ausgelöst wurde – und diese Bewegung ließ das Stück Papier lebendig wirken. Mit einem Seufzen entfaltete er es.
Samstag 9 Uhr abends
Liber Mr Easton,
mit dem asül Haus für Matrosen stimt was nich, es hat was mit der Fammilie in Chelsy zu tun und dem Chinesen. Ich erklere alles, wenn ich Sie sehe, aber ich wollte es schon mal sagen.
Gruß A. Quigley
James überlief plötzlich eine Übelkeit, die nichts mit dem Gestank des Flusses zu tun hatte. Gestern Abend war Alfred Quigley noch am Leben und wohlauf gewesen und hatte sich für den nächsten Tag etwas vorgenommen. Und heute Nachmittag war er mausetot. Sicher, das Leben war hässlich, brutal und kurz – vor allem, wenn man arm war –, aber das war einfach ein zu merkwürdiges Zusammentreffen. Quigley hatte etwas über die Thorolds und das Wohnheim für Seeleute gewusst; Quigley teilte es James mit; Quigleys Leiche tauchte auf einer von James’ Baustellen auf. Der Junge war nicht nur umgebracht worden, weil er im Weg war, sondern weil er etwas Wichtiges aufgedeckt hatte. Und dieser Zettel war die Verbindung zwischen der Entdeckung und dem Mord.
James musste von der Baustelle aus mehrere Straßen entlanglaufen, ehe er eine Droschke fand, und selbst dann weigerten sich die beiden ersten Kutscher wegen des Zustands seiner Kleidung, ihn mitzunehmen. Es waren etwas mehr als drei Meilen nach Limehouse, und der Kutscher, beflügelt von der Aussicht auf ein Trinkgeld, fuhr mit schnellem Tempo.
»Halten Sie hier«, sagte James am Anfang von George Villas.
»Hier wart ich aber nicht«, sagte der Kutscher unwirsch. »In diesem Teil der Stadt wart ich auf keinen, nicht mal auf den Prinz von Wales.«
Kluger Kerl, dachte James und holte eine Handvoll Münzen aus der Tasche.
Die Fassade des Laskarenheims war wie ein blindes Gesicht. Er zog heftig am Glockenstrang und wartete. Nichts. Er läutete erneut. Wieder nichts. Als er kräftig an die Tür klopfte, ging sie etwas auf.
»Mr Chen?«, rief er und trat vorsichtig in die Eingangsdiele. Der Geruch des Hauses schlug ihm entgegen und kam ihm vom letzten Besuch her bekannt vor. Räucherstäbchen, erinnerte er sich. Mottenkugeln. Chinesische Arzneien aus Kräutern. Ungewohnte Gewürze. Und dazu noch gewöhnlicher englischer Schimmel und Moder, der ihm den Hals abschnürte. Seine Stimme schien die Luft in der Diele aufzuwirbeln.
»Hallo? Mr Chen?«, rief er wieder, doch die Antwort war Stille.
Bei seinem letzten Besuch war Mr Chen sofort an der Tür gewesen. Vielleicht hatte er sonntags frei?
»Ist jemand da?«, rief James, diesmal sehr laut. Irgendein Angestellter musste doch da sein. Als der Hall seiner Stimme erstarb, wurde James von einem ersten unguten Gefühl überfallen. Erst Alfred Quigley. Dann die Festnahme von Thorold. Was war sonst noch los? Hatten sich hier alle davongemacht? Sie konnten doch nicht sämtlich an der Geschichte beteiligt sein – diese gebrechlichen alten Männer? Chen allerdings schon. Chen konnte das Haus als Hauptquartier für illegale Transaktionen benutzt haben und er konnte inzwischen getürmt sein. Das klang logisch: die alten Männer rausschmeißen, den Angestellten einen Tag freigeben und verschwinden.
Verdammt. Während ihm dieser alte Kerl die Ohren mit Unsinn über verarmte Laskaren vollgedröhnt hatte, hatte er die ganze Zeit mit Thorold zusammengearbeitet. Das war natürlich eine famose Deckadresse. Wer verdächtigte schon einen freundlichen alten Chinesen?
Die Tür zum Büro des Heimleiters war angelehnt, und als James sie aufstieß, erschrak er. Der Raum war durchsucht worden. Doch dieses Wort deutete eine methodische Vorgehensweise an, die hier nicht ganz zutraf. Der Boden war mit Papierstößen übersät, die größtenteils von schweren Stiefeln zertrampelt und zerfetzt worden waren. Alle Schubfächer und Aktenschränke waren aufgerissen und ihre Inhalte auf dem Boden verstreut. Die Regale waren umgekippt. Dass jemand in das scheußliche Ölbild getreten und den vergoldeten Rahmen zerbrochen hatte, tat ihm nicht leid. Doch auch die Vorhänge waren heruntergerissen und ein Ende der Messingstange hing auf den Boden. Das war mehr als ein Einbruch. Hier hatte jemand gewütet.
James dachte an seine Begegnung mit Mr Chen zurück und revidierte seine Vermutungen. Mr Chen hatte es ja nicht nötig, sein eigenes Büro so zu durchwühlen. Was er gebraucht hätte, hätte er ohne Weiteres finden können. Warum also den Raum verwüsten? Um eine falsche Fährte zu legen? Oder steckte jemand ganz anderes dahinter? Ihm drehte sich der Kopf, und er bückte sich, um einen dunklen, nassen Fleck auf dem Boden zu untersuchen. Kaffee. Kein Blut, Gott sei Dank. Und der Fleck war kalt, was allerdings nur bedeutete, dass das Chaos vor mindestens zehn Minuten angerichtet worden war, schätzte James. Der andere feuchte Fleck war Öl – der zerbrochene Schirm der Lampe, der auf dem Teppich lag, bestätigte das.
Ein lautes Klack ließ ihn aufblicken – und erstarren.
»Ganz recht«, sagte die Gestalt in der Tür. »Keine Bewegung!«
James konnte den Blick nicht von dem Ding nehmen, das das Klack verursacht hatte: eine elegante Handwaffe. Einer der neueren Revolver, wenn er sich nicht täuschte. Es war der erste, den er sah, doch jedermann wusste, dass diese Waffen viel zielsicherer waren als die alten Pistolen.
»So. Stehen Sie langsam auf.«
James nickte und konnte sich endlich die Person ansehen – eine Frau, wie er erschrocken feststellte –, die die Schusswaffe auf ihn richtete. Sie war groß und athletisch, ihr Blick kalt und direkt. Und sie kam ihm äußerst bekannt vor …
»Kommen Sie.« Sie winkte mit der Waffe nach ihm. »Zeit, mit dem Spielchen aufzuhören, junger James.«
Plötzlich durchzuckte ihn die Erkenntnis, wer das war. »Mrs Thorold?«
Sie lächelte grimmig. »Ganz recht.«
Er starrte sie wie ein Idiot an. Sie trug die gleiche Frisur und die gleichen Sachen wie sonst, aber alles andere – die Art, wie sie sich bewegte und sprach, selbst der Raubtierblick, mit dem sie ihn ansah – war ihm völlig unbekannt. Selbst an dem Tag in Pimlico hatte man nichts von dieser totalen Verwandlung erraten können. »Haben Sie das alles angerichtet?«
Sie lächelte. »Was sind Sie doch für ein kluger Junge. Jetzt drehen Sie sich um und nehmen Sie die Hände hoch.« Fragen überfielen ihn, doch ehe er eine stellen konnte, fuhr sie ihn an: »Los!«
Ein Vorteil des überall verstreuten Papiermülls war, dass es leichter war, ihre Schritte zu hören. Sie nahm sich Zeit, sich einen Weg durch das Chaos zu bahnen. »Bewegen Sie sich.« Etwas wurde ihm in den Rücken gestoßen – die Mündung der Waffe wahrscheinlich. Hände fuhren ihm in die Taschen, untersuchten seinen Bund und seine Weste. Sie zog seine Brieftasche aus der Brusttasche und warf sie beiseite. Versuchsweise drehte er den Kopf ein paar Zentimeter nach links, verharrte aber, als sich die Pistole tiefer in seinen Rücken bohrte. »Keine Mätzchen, junger Mann.«
Wieder Schweigen, dann suchten die Hände den Schaft seiner Stiefel ab. Er war sehr versucht, nach hinten auszutreten. Seine Beinmuskeln spannten sich schon mal an, aber er würde auf keinen Fall schneller sein als der Revolver.
»Kein Messer?« Ihre Stimme war spöttisch. »Sie sehen nicht aus, als würden Sie eine Schusswaffe tragen, aber Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie mit nichts als einer Brieftasche zum Schutz nach Limehouse gekommen sind!« Ein paar Spritzer Speichel sprühten ihm ans Ohr.
»Ich bin Geschäftsmann. Warum sollte ich denn wohl bewaffnet sein?«
»Ha, ich bin Geschäftsfrau, aber so dumm wäre ich nie«, höhnte sie.
»Ich werde es mir merken.«
Sie gluckste. »Tun Sie das. So.« Sie wechselte zu einem scharfen Befehlston. »Gehen Sie schön brav und langsam zur Tür und steigen Sie die Treppe hinauf. Ich bin hinter Ihnen und meine Pistole ist auf Ihren Hinterkopf gerichtet.«
»Hände oben? Oder unten?« James’ Ton war erlesen höflich.
»Was für feine Manieren«, spöttelte sie. »Kein Wunder, dass Angelica Sie mochte.«
Er ließ die Arme sinken, riss sie aber wieder hoch, als sie ihn mit der Waffe anstieß. »Hände auf den Kopf.«
James verließ das Zimmer und ging durch die muffige Diele auf das Treppenhaus zu. Als sie um eine Ecke bogen, fragte er: »Woher wussten Sie, dass ich hierherkommen würde?«
»Sie sind sehr leicht zu durchschauen.«
Er war gekränkt. »Wie das?«
»Tja, Sie sind sofort angerannt gekommen, nachdem Sie die Nachricht gelesen hatten.«
Quigleys Nachricht? »Woher haben Sie denn davon gewusst?«
Sie lachte gellend. »Können Sie sich das denn nicht denken?«
Sein Magen krampfte sich zusammen. Es war ja offensichtlich. »Sie haben das geschrieben, stimmt’s?«
»Mit der linken Hand. Die unbeholfene Rechtschreibung war doch eine hübsche Note, was?«
»Und das erklärt auch den Zeitverzug der Nachricht: Sie ist auf Samstagabend datiert, ich habe sie aber erst heute erhalten. Sie hätten Quigley jederzeit umbringen können, aber Sie mussten sichergehen, dass ich erst heute Nachmittag kommen würde.«
»Und da sind Sie.«
Als sie den ersten Stock erreichten, zögerte er, denn er wusste nicht, ob er sich nach rechts oder links wenden sollte. Das Haus wirkte wie eine Gruft oder ein Verlies. Aber vielleicht war das auch nur seine fantasiereiche Reaktion darauf, dass eine Pistole auf seinen Kopf gerichtet war. Wie auch immer, von den Bewohnern des Laskarenheims war nichts zu sehen. Er fragte sich, ob sie alle tot hinter den Türen lagen.
»Was wollen Sie von mir?«
»Guter Gott, sind Sie nervtötend. Weiter.«
Er ging weiter in den zweiten Stock. »Na gut. Was will Mr Thorold von mir?«
Sie lachte zufrieden. »Mein lieber Junge – wer hat denn was von meinem Mann gesagt?«
»Leugnen Sie, dass Sie seine Partnerin sind?«
»Nach den Gesetzen dieses Landes ist eine Frau ein Besitz, keine Partnerin.«
»Sie sind also nicht seine Geschäftspartnerin.« Erneut musste er seine Vermutungen revidieren und neu anfangen.
Sie schnaubte verächtlich. »Sie sind ganz schön langsam.«
»Wer ist denn dann Ihr Geschäftspartner?«
»Gehen Sie schneller.«
Er wartete einen Moment, dann versuchte er es auf andere Weise. »Haben Sie vor, mich umzubringen?«
»Was glauben Sie denn?« Ihre Stimme triefte vor Verachtung.
Sie waren jetzt im Flur des zweiten Stockwerks und die Pistole bohrte sich ihm wieder in den Rücken. »Nach rechts.«
Sie betraten einen kleinen Raum, der spärlich ausgestattet war mit einem einzelnen Bett, einem Tisch und einem Waschtisch. Zwei weitere Gegenstände fielen James auf. Der erste war eine große Wasserpfeife, die mitten auf dem Boden stand. Der zweite war der Körper von Mr Chen, gefesselt an Händen und Füßen und zusammengesunken neben der Wasserpfeife.
James sah von Mr Chen zu Mrs Thorold und wieder zurück. »Ist er tot?«
Sie zuckte die Schultern. »Vielleicht. Ich habe ihm nur eins auf den Kopf gegeben, aber er ist ein alter Mann.«
James kniete sich hin und berührte Mr Chens Hals. Der Körper war warm, aber er konnte den Puls nicht fühlen. Vielleicht schlug auch sein eigener Puls so heftig, dass er den des anderen nicht finden konnte. Seine Fassungslosigkeit wurde von Ärger verdrängt und er starrte sie böse an. »Warum er? Was hat er Ihnen getan?«
Ihre Pockennarben waren tief und zeichneten ein hässliches Muster auf ihre blasse Haut. »Wie Sie hat er zu viele Fragen gestellt. Ich bin hergekommen, um ihn zum Schweigen zu bringen.«
»Das ist also Ihr großer Plan? Vorzutäuschen, dass wir uns zu Tode geraucht haben? Das glaubt doch keiner.«
»Kommen Sie. Sie können ja nicht mehr richtig denken. Der Tod durch eine Überdosis Opium ist langsam. Ich habe nicht den ganzen Abend Zeit, zu warten und zu überprüfen, ob Sie genug genommen haben.«
James richtete sich langsam auf und sah ihr in die hellblauen Augen. Sie waren genauso wie die von Angelica. Zum ersten Mal hatte er das sichere Gefühl, dass er in diesem armseligen Haus sterben würde. In diesem Zimmer.
Sie zog einen Strick aus ihrer Tasche und warf ihn James zu. »Fesseln Sie Ihre Fußgelenke.«
Der Strick war aus grob gedrehtem Hanf. Ein stabiles Seemannstau. »Und wenn nicht?«
Sie seufzte. »Sie haben immer was zu diskutieren, Sie Dummkopf. Sie haben die Wahl. Die bequemere Variante ist, dass Sie sich fesseln. Ich gebe Ihnen eins über den Kopf. Dann brenne ich die ganze Bude ab, aber Sie merken nichts davon.«
James zog eine Augenbraue hoch und tat so, als ob er das als ein geschäftliches Angebot auffasste. »Und die zweite Möglichkeit?«
»Ich schieße ein- oder zweimal auf Sie, aber nicht gleich tödlich – eher in den Bauch. Sie sterben einen langsamen und qualvollen Tod. Dann brenne ich das Haus trotzdem nieder und keiner hat was davon.«
»Schießen macht Lärm. Und vielleicht bin ich auch ein Feigling. Die Leute hören meine Schreie.«
Sie grinste höhnisch. »Schon möglich. Aber in dieser Gegend achtet man nicht darauf.«
James dachte kurz nach, dann setzte er sich hin und fing an, seine Füße zusammenzubinden. Er ließ sich Zeit, und während er sich fesselte, sagte er: »Weiß Mr Thorold, was Sie treiben?«
Sie zuckte die Schultern. »Ich würde sagen, er weiß so viel, wie ihm lieb ist.«
»Also so wenig wie möglich.«
»Genau.«
»Er kennt dieses Wohnheim hier.«
»Ach tatsächlich?«
»Er hat es in seinem Testament bedacht«, sagte James. »Auf die Weise habe ich es gefunden.«
Ihr Ausdruck wurde hässlich. »Das hätte ich mir denken können.«
»Er will dem Verein eine beträchtliche Menge hinterlassen und unterstützt ihn auch regelmäßig.« James beobachtete ihre Züge aufmerksam. »Aus Schuldgefühlen? Wegen Ihres Verhaltens?«
Ihr Gesicht wurde von kleinlicher Missgunst verzerrt. »Er war immer ein weichlicher Mensch. Ohne Schneid.«
James schlang den Strick ein letztes Mal um die Beine und verknotete ihn. »So.«
»Mit so einer Schleife? Verkaufen Sie mich nicht für dumm, James.«
Er zuckte die Schultern. »Ich dachte, einen Versuch ist es wert.«
»Bei meinem Mann hätten Sie damit vielleicht Erfolg gehabt«, schnaubte sie. »Verknoten Sie es richtig!«
»Ihr Mann hat also asiatische Matrosen auf seinen Schiffen beschäftigt – oder zumindest hat er das behauptet, und die Versicherung hat gezahlt«, sagte James nachdenklich vor sich hin, während er knotete. »Aber die Schiffe sind ständig gesunken. Und deswegen hat er sich schuldig genug gefühlt, um dem Wohnheim Geld zukommen zu lassen …« Die einzelnen Fakten lagen offen vor ihm, aber er wusste noch nicht, wie er sie verknüpfen musste. »Es ist, als ob sein Plan mittendrin torpediert worden ist, aber er konnte nichts dagegen tun.«
Ehemann und Ehefrau, entschieden auf Gegenkurs.
Versicherungsbetrug.
Gesunkene Schiffe.
Ein durchwühltes Büro.
Mindestens ein Detail fehlte noch …
Mrs Thorold sah ihm an, wie es in seinem Kopf arbeitete, und grinste höhnisch. »Sie armer dämlicher Kerl«, sagte sie fast zärtlich. »Sie sind fast so dumm wie mein Mann.«
Diese Verachtung. Diese Arroganz. Blitzartig kam ihm eine Idee. »Sie haben gegen Ihren Mann gearbeitet! Seine Frachten sabotiert!«
»Ah! Das männliche Hirn, träge und unzulänglich, wie es ist, fängt allmählich zu begreifen an.« Sie wedelte die Pistole in Richtung seiner Hände. »Nicht aufhören.«
Sie war arrogant, unverschämt und entschlossen. Sie wusste immer alles am besten. Es gefiel ihr, ihn zu beleidigen. Schlagartig wurde ihm klar, dass er und Mrs Thorold sich mehr ähnelten, als er sich hatte vorstellen können. Und mit dieser schockierenden Erkenntnis kam verwegener Mut in ihm auf. Sein vorrangiges Ziel war jetzt nicht, zu überleben oder die Frau zu überlisten. Aber es ärgerte ihn, so kurz vor der Lösung des Rätsels aufzugeben. Es störte seinen Sinn für Ordnung.
Ganz bewusst hörte er zu knoten auf. Er sah mit seinem gewinnendsten Lächeln zu Mrs Thorold hoch und sagte: »Mein armer Kopf ist nicht in der Lage, gleichzeitig zu überlegen und Knoten zu machen. Können Sie mich nicht erlösen – ich meine, ehe Sie mich endgültig erlösen?«
Sie schnaubte verächtlich. »Das ist hier keine Komödie am Drury Lane-Theater.«
»Für mich auf keinen Fall; Komödien enden gut.«
»Also?«
»Es ist Ihr Stück. Sie haben es geschrieben und sind seine Heldin.«
»Schmeicheleien retten Ihr Leben auch nicht.«
»Ich bin nicht daran interessiert, mein Leben zu retten.«
Sie tat so, als sei sie überaus überrascht. »Tapfere Worte, kleiner Junge.«
»Mich interessiert die Geschichte, das Stück sozusagen. Sie sabotieren die Ladungen Ihres Mannes. Aber das hat mit den gestohlenen Kunstschätzen aus Indien nichts zu tun, oder?«
Sie beobachtete ihn jetzt amüsiert. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, wenn sie die Pistole auch nicht eine Sekunde sinken ließ. »Sparen Sie sich Ihre Worte, mein Lieber. Ich werde Sie trotzdem töten.«
»Das habe ich nur zu gut verstanden, glauben Sie mir.«
»Was dann?«
Er hatte sich jetzt gefesselt. »Ich bin Ingenieur. Ich will gerne wissen, wie die Dinge ineinandergreifen. Ehe Sie mich töten, können Sie mir Ihren raffinierten Plan nicht verraten? Mit etwas, wofür man in Kauf nimmt, drei Menschen umzubringen – ganz zu schweigen von den vielen Seeleuten –, kann man doch sicher ein bisschen prahlen …«
»Die kleine Rotznase zählt ja wohl nicht.«
»Chinesen sind keine richtigen Männer.«
»Also gut. Ein Junge, ein Ausländer und ein Engländer. Immer noch eine Menge Blut an den Händen.«
Sie musste unwillkürlich grinsen. »Sie sind eigenartig überzeugend.«
Der Druck in seinem Inneren ließ plötzlich ganz rasch nach. Ein Tropfen Schweiß rann ihm über die Stirn und brannte im Auge. »Das hat man mir schon öfter gesagt.«
»Sie können die Kurzversion hören: Mein Mann ist ein Tor, der sich für einen Schwarzhändler wertvoller Kunstgegenstände hält. Aber er hintergeht auch die Versicherung, was die Aufmerksamkeit der Behörden auf ihn lenkt. Das bringt nicht nur die Schmuggelei, sondern unsere gesamte Lebensgrundlage in Gefahr.«
Ihr Gebrauch des Wörtchens »unsere« war interessant. »So viel habe ich auch schon rausgekriegt.«
»Natürlich ist so ein kleiner Angestellter bei Lloyd’s dahintergekommen und hat ihn damit erpresst.« Ihr Mund verzog sich angewidert. »Man stelle sich vor, jemanden zu bezahlen, um die eigene Blödheit zu decken!«
»Da haben Sie eingegriffen?«
»Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Unternehmen untergegangen wäre – entweder wegen der Erpressung oder weil Scotland Yard irgendwann gemerkt hätte, was da läuft.
Ich habe seinen Plan dann logisch weitergeführt: Ich habe eine Piratenmannschaft angeheuert, die die Schiffe meines Mannes angreift und plündert. Eine perfekte Lösung. Weniger Kapitaleinsatz und Betriebskosten, und wenn ich den Profit zwischen mir und meinem Partner aufgeteilt habe, gehört der Rest mir allein.«
»Sie teilen also nicht mit Ihrem Mann?«
Sie lachte. »Sagen Sie mir einen Grund, warum ich das tun sollte.«
Er blinzelte verwirrt. Eine gute Frage – und eine, die er völlig außer Acht gelassen hatte. Warum sollte Mrs Thorold zugunsten ihrer Familie arbeiten, wo sie sich doch nur für sich selbst interessierte?
Sie beobachtete ihn mit einem sinnierenden Lächeln. »Sehen Sie?«
Er versuchte sich zu sammeln. »Wie bringen Sie die laskarische Besatzung der Schiffe, die Sie überfallen lassen, zum Schweigen?«
Sie zuckte die Schultern. »Piraten sind geldgierig. Ich nehme an, die Überlebenden werden als Sklaven in den Fernen Osten verkauft.«
James nickte, auch wenn sich ihm der Kopf drehte. Das war alles zu viel, um es zu verarbeiten. Aber er musste sie dazu bringen, weiterzureden … und zumindest musste er herausfinden, ob Mary in Gefahr war.
»Genug geplappert. Hände auf den Rücken.« Ihre Stimme war wieder knapp und geschäftlich.
»Das Haus in Pimlico«, sagte er hastig. »Ihr Hauptquartier?«
Sie lächelte nur und zog ein zweites Stück Hanfseil hervor.
»Und Ihr Mitarbeiter – dieser Mr Samuels. Er kümmert sich um die Piraten?«
»Ich bin es leid, mit Ihnen zu reden. Das Spiel ist aus, James.«
Zu seiner Schande geriet er in Panik und schlug um sich und trat mit den gefesselten Füßen nach ihr. Ein paar gut platzierte Tritte in die Rippen setzten dem ein Ende. Unbarmherzig kniete sie sich auf seinen Rücken. Rasch und schmerzlich fest band sie ihm die Handgelenke zusammen.
»Eine letzte Frage«, keuchte er, als sie aufstand, um ihr Werk zu betrachten. »Haben Sie keine Angst, dass mich meine Verbündeten suchen?«
Sie lachte nur. »Das war schwach und Ihrer nicht würdig, muss ich sagen.«
»Warum? Sie glauben nicht, dass ich einen Mitwisser habe?«
»Wer würde schon mit Ihnen zusammenarbeiten wollen?«
James entspannte sich vor Erleichterung. Er sah noch ein hämisches Grinsen auf sich zukommen. Dann wurde alles schwarz.