Mary packte ihre Truhe, als eine Handvoll Kiesel an ihr Fenster geworfen wurde. So dumm es auch war, sie hielt den Atem an. James hatte eindeutig klargemacht, was er von ihr hielt. Sie zögerte und wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte. Nach ein paar Sekunden flogen wieder kleine Steine an die Scheibe. Sie riss das Fenster auf und sah hinunter auf den Gehweg. Aber statt eines großen jungen Mannes stand da ein dünnes Kind. Das mausbraune Haar verdeckte fast das ganze Gesicht. Das musste doch ein Irrtum gewesen sein. Doch die kleine Gestalt winkte eifrig. Nach einem Augenblick nickte Mary und deutete auf den Gesindeeingang.
Ein letzter Blick durch ihr Zimmer bestätigte ihr, dass alles in Ordnung war. Ihre Truhe war ordentlich verschnürt, und einer der Hausdiener hatte den Auftrag, sie zu transportieren. Als Mary ein letztes Mal durch das Treppenhaus der Thorolds ging, verfolgte sie dieser ungute Tag: Thorolds empörtes Abstreiten jeglicher Schuld; James’ Verärgerung; Angelicas Schluchzen und Michaels Schmerz; Mrs Thorolds Schadenfreude. Mary konnte es kaum abwarten, in das ruhige Institut zurückzukehren.
Ohne ein Wort ging sie an der Köchin vorbei und öffnete die Gesindetür. Sie musste zweimal hinschauen. »Cass?« Ihre Blicke trafen sich nur kurz, dann sah Cass auf den Boden. Eine Menge Fragen gingen Mary schlagartig durch den Kopf. Warum bist du hier? Bist du verletzt? Hast du es dir anders überlegt? Was ist los? »Hallo«, sagte sie nur.
»Miss.« Cass’ Stimme war kaum hörbar.
Mary wartete, aber es kam nichts mehr. »Hier können wir nicht reden«, sagte sie leise. »Ich treffe dich hinten beim Pferdestall.« Sie wartete wieder. »In Ordnung?«
Ein stummes Kopfnicken zeigte, dass Cass verstanden hatte. Als Mary durchs Haus zurückging, merkte sie plötzlich, dass sie das Falsche vorgeschlagen hatte. Es war unwahrscheinlich, dass Cass zu den Stallungen gehen würde. Nicht nur, dass dort wahrscheinlich Brown und die Lakaien herumlungerten, um zu rauchen und zu tratschen. Nein, so hatte Cass auch wieder Zeit, es sich anders zu überlegen. Bestimmt würde sie abhauen, statt mit ihr zu reden. Verdammt. Nun hatte sie die zweite Chance, dem Mädchen zu helfen, auch vertan. Sie eilte durch die Küche und zur Hintertür hinaus. Auf dem Weg über den Hof stellte sie beiläufig fest, dass die Kutsche fort war. Die Bedeutung dessen war ihr nicht sofort klar.
Jetzt hatte sie doch einmal ein wenig Glück. Die männlichen Bediensteten waren nicht zu sehen, aber in der hintersten Ecke entdeckte sie die wartende Cass Day. Mary ging langsam auf sie zu, als würde sie sich einem verschreckten Tier nähern, und ließ Cass als Erste das Wort ergreifen.
»Tut mir leid, dass ich davongelaufen bin, Miss«, sagte die Kleine schließlich mit belegter Stimme.
»Habe ich dir Angst gemacht?«
Cass sah nervös zur Seite. »Nicht Sie, Miss. Ich meine – nichts, was Sie gemacht haben. Es war einfach dumm.« Nach einer beklommenen Pause stieß sie hervor: »Die anderen Mädchen haben ständig über weißen Sklavenhandel getuschelt, Miss, und erzählt, dass er von ganz anständig wirkenden Damen betrieben wird. Sie sind ganz voll davon, wirklich, und als Sie – ich meine, als ich – äh …«
Mary riss erstaunt die Augen auf. »Du hast geglaubt, dass ich dich entführen will?«
Cass wurde rot wie eine Tomate. »Ich hab gedacht, deshalb wären Sie so nett zu mir. Ich hab mir nicht vorstellen könne, warum ’ne Dame nett zu mir sein soll, außer wegen dem.«
Mary verspürte warmes Mitleid mit der Kleinen. Hatte sie Anne Treleaven vor Jahren nicht das Gleiche vorgeworfen?
»Das heißt doch wohl, dass ich zu dumm bin, um zur Schule zu gehen … oder?« Trotz der Worte schien das Mädchen hoffnungsvoll.
»Hast du noch mal darüber nachgedacht, zur Schule zu gehen?«
Cass nickte so eifrig, dass ihre Haare wild herumflogen. »Ich will schon … wenn ich noch kann. Wenn Sie mir nicht zu böse sind.«
»Ich bin dir nicht böse, und in der Schule, die ich erwähnt habe, gibt es noch Platz.«
»Ich streng mich auch an, das versprech ich. Ich bin nicht klug, Miss, aber ich tu mein Bestes, das schwör ich …«
Mary legte ihr die Hände auf die Schultern. »Versprich es nicht mir, Cass. Halte dich nur selber daran.«
Cass nahm das mit großen Augen auf. Dann nickte sie. »Sie sind so gut zu mir, Miss Quinn.«
»Bist du sicher, dass ich keine weiße Sklavenhändlerin bin?«, sagte Mary lächelnd.
Cass wurde tiefrot. Dann lachte sie halbherzig über sich selbst. Das Lachen war ein dünnes, behutsames Quieken, ein Geräusch, dem man entnehmen konnte, dass sie es nicht gewohnt war zu lachen. Immerhin war es das erste Mal, dass Mary sie lachen hörte. »Ja, Miss.«
***
Sie saßen in einer Droschke nach St. John’s Wood, als Cass ein Notizbüchlein hervorzog. »Ich glaub, ich bin ziemlich dumm, Miss Quinn, weil – die Zahlen und ein paar Buchstaben kann ich ja, aber das hier ergibt einfach keinen Sinn für mich.«
Mary nahm das Büchlein zögernd entgegen. Jetzt, nachdem ihr Auftrag ein Ende gefunden hatte, war sie erschöpft. In ihrem Kopf wirbelten alle möglichen Informationen durcheinander, die sie einfach nicht zu einem zusammenhängenden Ganzen verbinden konnte. Und sie wollte eigentlich lieber allein sein und über ihren Vater nachdenken.
Cass sah sie jedoch erwartungsvoll an. Mary schlug das Büchlein auf und überflog die Seiten mit Zahlenreihen. »Das ist eine Bilanzaufstellung, Cass. Da stehen die Geldsummen eines Unternehmens, die ein- und ausgehen.« Sie deutete auf eine beliebige Seite. »Schau mal: Hier steht ein Datum, gefolgt von verschiedenen Einträgen über Einnahmen und Ausgaben mit einem Gesamtprofit von vierhundertzweiundsechzig Pfund, acht Schillingen und vier Pence. Das versteht man eigentlich nur dann, wenn man ein bisschen Buchhaltung gelernt hat.«
Cass sah sie bestürzt an. »Muss ich das auch lernen?«
»Wenn du möchtest«, murmelte Mary gedankenverloren und blätterte weiter.
»Können das alle Damen?«
»Die meisten nicht. Das ist die Arbeit von Buchhaltern und es gibt kaum weiblichen Buchhalter.«
Cass sah immer noch verständnislos drein.
Mary überflog noch weitere Einträge, dann sah sie sich die erste und die letzte beschriebene Seite an. Die Aufzeichnungen umfassten mehr als zwei Jahre und waren pedantisch sorgfältig. Jemand musste verzweifelt nach diesem Ding suchen. »Cass, wem gehört das Notizbuch?«
Cass sah sofort schuldbewusst aus. »Ich – ich weiß nicht, Miss.«
»Aber du hast doch gerade gefragt, ob Damen sich mit Buchhaltung auskennen …«
»Ich meine, ich hab’s gefunden, Miss.«
»Wo?«
»N-neben den Stufen zur Haustür, Miss. Als ich sie geputzt habe.«
Mary zwang sich, ganz ruhig zu sprechen. »Vor dem Haus von den Thorolds?«
»Ja, Miss.«
»Wann?«
»Ich weiß nicht mehr genau. Vor einer Woche? Vielleicht auch weniger?«
»Hast du irgendjemandem erzählt, dass du das Büchlein gefunden hast? Der Köchin vielleicht?«
Cass schüttelte den Kopf.
Mary sah das Ding in ihrer Hand nachdenklich an. Es war klein und abgegriffen, und etwas von dem Goldschnitt war abgewetzt, aber ursprünglich war es ein teurer Gegenstand gewesen. »Hast du die Person gesehen, die das hier hat fallen lassen, Cass?«
Cass erschrak und drückte sich auf einmal tief in den Sitz. »Ich … ich weiß nicht, Miss.«
Mary sah sie aufmerksam an. »Wirklich nicht?«
Cass richtete den Blick auf das Buch. »Das ist sehr wichtig, Miss, nicht?«
Mary nickte. »Viel wichtiger, als du dir vorstellen kannst.«
Cass starrte noch einen Augenblick länger hin, dann holte sie tief Luft. »Ich hab’s nicht genau gesehen, Miss, aber ich glaube, es war Mrs Thorold. Sie ist aus dem Haus gekommen, als ich die Stufen gewischt habe, und da musste ich noch mal neu anfangen. Als ich unten wieder angefangen hab, da ist es daneben gelegen. Davor war es noch nicht da.« Sie unterbrach sich, dann sagte sie eilig, wie um sich zu entschuldigen: »Aber es kann ja nicht ihres sein, oder, weil sie ’ne Dame ist und kein Buchhalter oder so?«
Mary dachte zurück. Ja, das passte irgendwie. Mrs Thorold war am Mittwochmorgen eilig davongestürzt – an dem Tag, an dem sie selbst Angelica und Michael im Salon belauscht hatte –, und sie war absolut schlechter Laune gewesen, als sie zurückgekehrt war. Wenn das Buch aber Mrs Thorold gehörte, dann warf das ein ganz neues Licht auf die Pimlico-Geschichte. War das denn möglich, dass Mrs Thorold, statt zu Ärzten zu gehen oder eine Affäre zu haben, in Wirklichkeit heimlich Geschäfte machte? Aber was für Geschäfte?
Mary blätterte die Seiten erneut durch. Sie hatte inzwischen keine Skrupel mehr, in den Privatdingen von anderen zu schnüffeln. Es gab eine aktuelle Aufstellung der Konten für diesen Monat, aber ohne genaue Daten. Zwischen den Transaktionen gab es öfter große Lücken – manchmal von einigen Monaten –, dann wiederum häuften sich die Einträge. Es handelte sich also um saisonale oder von anderen Umständen abhängige Geschäfte.
Wenn Mary nur mehr Informationen gehabt hätte … Sie überblätterte die leeren Seiten, von denen es viele gab; das Notizbuch war erst halb voll. Und dann, ganz am Ende des Buches, entdeckte sie einen winzigen Bleistifteintrag, der halb ausradiert war: Ch: G. V.7,Lh.
Verblüfft lehnte Mary sich in den Sitz zurück. Aber natürlich!
Was war sie nur für eine blinde, begriffsstutzige, beschränkte Person. Und jetzt war die Kutsche fort! Mrs Thorold hatte zwar gesagt, dass sie in ihr Zimmer gehen würde, aber das hatte in dem ganzen Aufruhr niemand überprüft …
Mary beugte sich aus der Droschke und gab dem Kutscher ein paar rasche Anweisungen. Dann setzte sie sich wieder zurück und sagte: »Hör zu, Cass. Du hast mir da etwas ganz Wichtiges erzählt, dem ich sofort nachgehen muss. Der Fahrer bringt mich jetzt in den Osten der Stadt. Dann bringt er dich zu der Schule in der Acacia Road. Sie heißt Miss Scrimshaws Mädcheninstitut. Dort fragst du nach Miss Treleaven. Sag ihr, dass ich dich als neue Schülerin geschickt habe, und gib ihr das Notizbuch. Sag ihr, dass ich Mrs Thorold in George Villas Nummer sieben in Limehouse treffe und dass sie da sofort hinkommen soll. Hast du das verstanden?«
Cass machte ein besorgtes Gesicht. »Ja.«
Mary legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie tat so, als hätte sie nicht bemerkt, dass das Mädchen wieder in Erwartung eines Klapses zurückgeschreckt war. »Du hast nichts Schlimmes gemacht, Cass, überhaupt nicht. Und du hast mir unermesslich geholfen. Es tut mir leid, dass ich dich Miss Treleaven nicht persönlich vorstellen kann, aber verstehe bitte, dass ich erst etwas ganz Wichtiges erledigen muss.«
Cass nickte zaghaft. »Ich verstehe.«
»Gut.«
***
Schon als sie den Kutscher bezahlte, damit er Cass sicher zum Institut brachte, fragte sich Mary, was sie in Limehouse eigentlich zu tun gedachte. Sie hatte sich in den letzten Tagen so oft getäuscht, und ihre Gewissheit verließ sie mehr und mehr, als sie in den quietschenden Matsch auf dem Weg nach George Villas trat. Mrs Thorolds Notizbuch – falls man nachweisen konnte, dass es ihres war – zeigte nur, dass sie Geschäfte machte. Es enthielt keinerlei konkrete Hinweise, und es gab nichts, was sie mit dem Laskarenheim in Verbindung brachte, außer der codierten Adresse. Aber dennoch – tief in Marys Kopf – passten die Puzzleteile zusammen. Sie konnte immer noch nicht sagen, warum sie so sicher war, dass hier die Antwort lag. Und doch setzte sie mehr auf ihren Instinkt als auf Logik, auf ihr Bauchgefühl statt auf Anweisungen.
Sie entdeckte sie, kaum, dass sie um die Ecke bog: eine Rauchfahne, die aus einem der hohen, schmalen Häuser am Ende der Straße aufstieg. Eine kleine Menschenmenge hatte sich vor den Gebäuden eingefunden. Sie sahen dem Feuer wohl lieber zu, als es zu löschen.
Mary fing zu laufen an. »Wie lange brennt das schon?«, fragte sie eine rundliche ältere Frau, die ihr am nächsten stand.
»Bin grade selbst erst gekommen.« Die Frau klang unbeteiligt und gelassen. Sie verschränkte die Arme über der fleckigen Schürze und schien sich über das Schauspiel zu freuen.
Mary schob sie aus dem Weg und drängte sich durch die Menge. »Ist da jemand drin?«, rief sie.
Die Gesichter um sie herum sahen sie verständnislos an.
»Du da.« Mary sprach ein in einen Schal gewickeltes Mädchen an, das barfuß war und aussah, als sei es gerade aus dem Bett gefallen. »Hat jemand nachgeschaut, ob da noch jemand drin ist?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Dazu ist es zu spät.« Sie streckte die Hand aus. »Sehen Sie, wie schnell es sich ausbreitet?« Und tatsächlich, aus dem nächsten Fenster drangen auch schon Flammen.
»Wer wohnt denn nebenan?«, fragte Mary verzweifelt. »Die wollen doch sicher, dass das Feuer gelöscht wird.«
Das Mädchen sah sie mit schläfrigen, aber intelligenten Augen an. »In dem Loch? Warum sollte sich da jemand drum kümmern?« Wie um ihre Worte zu bekräftigen, warf jemand einen Ziegelstein durch eins der unteren Fenster, und die Menge jubelte laut.
Mary blickte verzweifelt auf das Gebäude. Da war doch bestimmt niemand mehr drin. Die alten Seeleute wurden zumindest jeden Morgen hinausbefördert und Mr Chen war umsichtig und vernünftig. Er würde sein Leben nicht aufs Spiel setzen, um ein paar Habseligkeiten zu retten – auch nicht die Zigarrenkiste. Und dennoch … trotz dieser vernünftigen Überlegungen war sie immer noch nicht überzeugt. Sie warf einen letzten forschenden Blick in die Menge – es war kein Polizist in der Nähe – und stürzte sich in das Gebäude.