Sie wollte nicht, dass James um sie warb oder etwas ähnlich Lächerliches. Sie waren beide viel zu jung und außerdem aus verschiedenen Welten. Sie würde ihm nie von der Agentur erzählen dürfen und schon gar nicht von ihrer kriminellen Vergangenheit und ihrer Familiengeschichte. Sie waren sogar zu verschieden, um richtige Freunde zu werden. Und doch verspürte sie ein schmerzliches Bedauern, wenn sie an das Ende ihrer Partnerschaft dachte. Sie hatten gut zusammengearbeitet, trotz der Missstimmigkeiten und dem gegenseitigen Argwohn. Und er würde ihr fehlen.
Egal. Als Mary in Limehouse aus der Pferdekutsche stieg, verdrängte sie die Gedanken an James, die Agentur und die Thorolds. Sie hatte heute endlich frei und konnte an ihre eigenen Interessen denken. Als sie sich dem Laskarenheim näherte, wurde das Flattern in der Magengegend stärker. Es gab keinen Grund zu vermuten, dass sie die Zigarrenkiste noch finden könnte. Mr Chens Büro war gründlich durchwühlt worden. Aber sie würde nicht ruhen können, bis sie sich selbst überzeugt hatte.
Mary war schon fast bei dem Wohnheim, als sie eine kleine Anzahl von asiatischen Männern sah, die Eimer und Kisten von Gerümpel aus der Haustür zu einem großen Wagen trugen, der die Straße versperrte. Sie bewegten sich langsam, viele von ihnen waren anscheinend schon von Arthritis geplagt. Ein weißer junger Mann mit Melone gab ihnen Anweisungen.
Der junge Mann entdeckte Mary und kam angelaufen. »Ab hier ist gesperrt, Miss.«
Sie kämpfte gegen eine Welle der Übelkeit an. »Entrümpeln Sie das ganze Gebäude?«
Er nickte. »Am Wochenende hat’s da gebrannt. Alles, was drin war, ist hin, aber Gott sei Dank ist das Gebäude verschont geblieben.«
»Alles, was drin war? Das wird alles einfach weggeschmissen?« Ihre Stimme klang hoch und dünn.
»Es war nichts dabei, was man noch hätte gebrauchen können«, verteidigte sich der Aufseher, »außer ein paar klapprigen Möbeln. Die hat der Schrotthändler schon geholt. Denken Sie nur, das ist schon die dritte Wagenladung heute! Ja, ja, wir sind sehr fleißig gewesen …« Er gab den Männern wieder ein paar Anweisungen. Worte, die sie zwar hörte, deren Sinn jedoch nicht bis zu ihr durchdrang.
»Wie schade«, brachte sie schließlich würgend hervor. Das war’s dann: Die Hinterlassenschaft ihres Vaters war endgültig verloren. Sie hatte nicht mal die Gelegenheit gehabt, sich die Dokumente in der Zigarrenkiste anzusehen.
»Das ist nicht schade, Miss«, schalt sie der junge Mann. »Das ist Glück im Unglück. Der Herr gibt, der Herr nimmt, und hier hat er uns eine neue Möglichkeit geboten. Das Haus muss renoviert werden und diese alten Männer brauchen Arbeit. Na bitte, so fügt sich eins zum anderen!«
Sie nickte zögernd.
»Wir müssen allerdings neue Geldmittel finden, weil wir einen unserer Wohltäter kürzlich verloren haben, aber …« Munter plauderte er drauflos, über Geldbeschaffung und Pläne einer famosen Sanierung.
»Was ist mit Mr Chen passiert?«, unterbrach ihn Mary.
»Der alte Mann, der hier nach dem Rechten gesehen hat? Ach, das war wirklich schade. Muss am Rauch erstickt sein, obwohl – unter uns gesagt« – der junge Mann beugte sich vertraulich vor – »das war kein zu großer Verlust. Der Mann war angeblich opiumsüchtig.«
»Das stimmt nicht!«
Er sah sie herablassend an. »Tja, Beweis ist Beweis, egal, was Sie gerne von ihm halten möchten. In seinem Zimmer war eine riesige Drogenpfeife, als er starb. Aber er kriegt trotzdem ein anständiges christliches Begräbnis!«
Mary wandte sich ab.
»Hören Sie!«, rief er ihr nach. »Nun seien Sie doch nicht gleich böse. Wie heißen Sie eigentlich?«
Sie ließ seine Rufe unbeachtet. So schnell sie konnte, lief sie davon, taub und blind für alles um sie herum. Doch als sie zum Victoria Park kam, blieb sie plötzlich stehen. Sie wusste nicht recht, was sie tun oder wohin sie gehen sollte.
Sie hatte den Kampf gegen die Tränen gerade gewonnen, als jemand sie leicht am Ellbogen berührte. Sie drehte sich um und stand dem Unausweichlichen gegenüber.
Er sah elegant aus und trug einen gut geschnittenen Anzug und gewienerte Stiefel. Als er seinen dunklen Blick über sie gleiten ließ, wollte sie am liebsten davonlaufen. Sie trug ein altes, verschossenes Kleid; ihr Haarknoten löste sich etwas auf; und zu allem Übel war ihr noch heiß und sie schwitzte.
»Guten Tag«, sagte sie und spürte gleich, wie unzulänglich das klang.
»Ich bin Ihnen eine Weile nachgegangen, aber Sie haben mich nicht rufen hören. Alles in Ordnung?«
Sie nickte.
»Sie sind vom Laskarenheim gekommen?«
»Waren Sie auch dort?«
»Ich habe gehofft, dass ich Mr Chen die letzte Ehre erweisen könnte.«
Schweigen dehnte sich zwischen ihnen aus.
»Sie sehen ja wieder ganz gesund aus«, murmelte sie schließlich. »Tut Ihr Kopf noch weh?«
Er verneinte. »Das war nichts Schlimmes: ein paar angebrochene Rippen, Kopfschmerzen. Nichts Ernstes.« Es entstand eine kurze Pause, dann sagte er rasch: »Sie sehen auch gut aus.«
Lügner. Unwillkürlich strich sie sich das Haar glatt. »Danke.« Wieder entstand eine dieser peinlichen Pausen. Dann sagte sie verlegen: »Sie sind bestimmt sehr beschäftigt. Ich sollte Sie nicht aufhalten.«
Er hielt ihr den Arm hin. »Lieber möchte ich mit Ihnen spazieren gehen. Falls Ihre Arbeitgeberinnen so etwas erlauben?«
»Aber natürlich ist das erlaubt!«, gab sie schnell zurück, dann grinste sie. »Sie holen das Schlimmste aus mir heraus. Was Benehmen angeht zumindest.«
Er grinste zurück. »Ich glaube, ich mag Sie besonders, wenn Sie unhöflich sind.«
Sie nahm seinen Arm und sie schlenderten durch den Park auf einen kleinen See mit Booten zu. Er schwieg wieder und die leichte Unmutsfalte zwischen seinen Augenbrauen kam ihr herrlich vertraut vor. Er schien nach Worten zu suchen.
Er lächelte ihr zu, doch sein Blick war ernst. »Ich wollte Sie etwas fragen.«
»Was?«
»Ich hatte gehofft, dass Sie mir etwas erklären können.« Die kleine Falte wurde tiefer und er fuhr eilig fort: »Ich kann die Motive der Thorolds ja verstehen – genau so etwas hatte ich befürchtet. Aber wie passt Mr Chen ins Bild? Warum hat Mrs Thorold ihn umbringen müssen?«
Zurück zur Tagesordnung. Das hätte sie sich denken können. »Hat Sie Ihnen das nicht erzählt?«
»Sie fand es wohl nicht der Rede wert, damit anzugeben.« Genauso wenig wie mit dem Mord an Alfred Quigley. Ihm wurde immer noch schlecht, wenn er daran dachte. Sein Besuch bei Mrs Quigley am Vormittag zählte zu den ungemütlichsten Vorkommnissen seines Lebens.
»Mr Chen war ihr auf der Spur. Manchmal überlebten ein paar der asiatischen Seeleute einen Piratenüberfall, gewöhnlich deshalb, weil sie gebraucht wurden, um der Piratenmannschaft zu helfen, den Heimathafen zu erreichen. Ich nehme an, dass sich Mrs Thorold von den asiatischen Seeleuten nicht bedroht fühlte, denn wer würde ihnen eher glauben als einem englischen Kapitän? Aber als in dem Wohnheim immer wieder Laskaren mit ähnlichen Geschichten aufgetaucht sind, hat Mr Chen angefangen, nachzuhaken. Er ist Gerüchten aus den Docks nachgegangen. Er hat die Teile zusammengefügt und war schon bereit, zur Polizei zu gehen.«
»Und deshalb ist er zum Schweigen gebracht worden.«
»Ja.«
Sie erreichten den See und James bückte sich und nahm eine Handvoll Kiesel auf. Nacheinander warf er sie in den See. »Das bringt mich zu meiner zweiten Frage«, sagte er und wandte sich etwas heftig nach ihr um. »Sie können doch nicht gewusst haben, dass ich am Sonntagnachmittag in dem Wohnheim war. Ich bin hingegangen, weil ich mich wie ein trotteliger Idiot von Mrs Thorold habe hinlocken lassen.«
»Ich bin auch wegen Mrs Thorold gekommen. In dem Notizbuch stand zwar nichts Konkretes, aber als ich den Eintrag sah, habe ich mir Sorgen um die Sicherheit von Mr Chen gemacht … und um Ihre.«
Er starrte sie an. »Das müssen Sie mir erklären.«
Was nicht ganz leicht war. »Ich habe zwar nicht erwartet, Sie dort zu finden, aber ich war auch nicht überrascht.« Er sah sie immer noch mit beunruhigender Eindringlichkeit an. Sie hielt seinem Blick nicht länger stand und sah weg. Und zuckte die Schultern. »Ich hatte … eben so eine Gefühl. Ich war irgendwie … überzeugt, dass Sie dort sind.«
»In Gefahr?«
»Schon möglich.«
Er warf den letzten Stein in den See. »Mary? Da ist noch was.« Er klang nervös und sah sie nicht direkt an.
Sie wartete schweigend.
»Ich, äh … das kommt jetzt sehr plötzlich und ich will nicht … Was ich Ihnen sagen will …« Er seufzte und drehte das Gesicht zum See. Als er wieder sprach, kamen die Worte hervorgesprudelt. »Ich gehe fort.«
Mary starrte ihn an. Auch wenn sie nicht genau gewusst hatte, was er sagen würde, kam das doch völlig unerwartet. »Wohin?«
»Kalkutta. Wir – die Firma – haben einen Vertrag, um dort eine Eisenbahnlinie zu bauen.«
Sie versuchte, um seinetwillen erfreut auszusehen. »Aber das ist doch eine herrliche Nachricht.«
Er sah sie forschend an. »Finden Sie?«
»Aber ja! Das ist doch ein guter Weg, um die Firma weiterzubringen.«
Er nickte. »Ich freue mich, dass Sie das so sehen.«
»Wann fahren Sie?«
»Ich segle nächste Woche.«
Sie zog die Luft ein. »Das geht ja schnell.«
»Eigentlich sollte George fahren und ich die Dinge von hier aus überwachen. Aber diese Geschichte um die Thorolds hat alles durcheinandergebracht und er hat es sich anders überlegt.« Belustigung schlich sich in seine Stimme. »Wussten Sie, dass er Angelica heiraten und direkt mit nach Indien nehmen wollte?«
Mary lachte. »Nein!«
»Paradox, was? Dass ihr Schicksal sowohl über ihren Vater als auch über ihren Verehrer mit Indien verknüpft war.«
»Es ist ihr ja gelungen, beiden Schicksalen aus dem Weg zu gehen.« Mary gab ihm eine kurze Beschreibung von Angelicas neuen Plänen.
James stieß einen Pfiff aus. »Ob ich George wohl erzählen soll, dass sie wieder frei ist?«
»Aber Ihre schlimmsten Befürchtungen bezüglich der Thorolds sind doch eingetreten. Trotzdem hätten Sie nichts gegen die Heirat?«
Er zuckte verlegen die Schultern. »Tja, doch, schon … aber wenn George das Schlimmste erfährt und sie immer noch heiraten will, was kann ich dann sagen? Vielleicht liebt er sie ja wirklich.«
Sie lachte. »Das ist ja ein ziemliches Zugeständnis von Ihrer Seite.«
»Eines Tages werden Sie die anständigeren Seiten meines Charakters noch zu schätzen lernen.«
»Anständigere Seiten? Plural?«
»So viele, dass Ihnen beim Zählen schwindelig wird.«
Sie standen eine Weile da und lächelten sich an. Dann holte Mary tief Luft. »Tja, dann ist das wohl ein Abschied.«
»Ist es wohl.«
»Sie schlagen sich bestimmt bestens in Indien.«
»Meinen Sie?«
»Mit diesen ganzen anständigen Seiten Ihres Charakters …«
Er lachte, dann wurde er wieder ernst. »Mary …«
Der Ausdruck in seinen Augen ließ ihr Herz wild schlagen. »Ja?«
Zweimal versuchte er, einen Satz zu formulieren, und zweimal versagte ihm die Stimme.
Mary hatte trotzdem das Gefühl, ihn zu verstehen. Was konnte er ihr denn jetzt sagen, wo er dabei war, für immer abzureisen? Selbst so etwas Einfaches wie die Bitte, ihm zu schreiben, beinhaltete doch bereits ein gewisses Versprechen; ein Versprechen, von dem er zehn Jahre und eine halbe Erdkugel zu weit entfernt war, um es geben zu können.
Sie zwang sich zu einem höflichen Lächeln und hielt ihm die Hand hin. »Viel Glück, James.«
Bedauern – und Erleichterung – flackerte in seinem Blick auf. Er nahm ihre Hand und hielt sie eine Weile fest. »Ihnen auch.«
Es war albern, noch zu verharren. Sie entzog ihm ihre Hand, wandte sich um und entfernte sich in Richtung des Instituts. Als sie ungefähr dreißig Schritte gegangen war, hörte sie seine Stimme.
»Mary!«
Sie drehte sich um. »Ja?«
»Steigen Sie nicht wieder in einen Schrank!«
Sie lachte, schüttelte den Kopf und ging weiter. Und lächelte jetzt dabei.