Strafgerichtshof am Old Bailey, London
Sie hätte lieber dem Richter zuhören sollen.
Stattdessen war Marys Aufmerksamkeit auf die Fliegen gerichtet, die ihr auf der Anklagebank um die Beine surrten, angezogen von der abgestandenen Urinpfütze zu ihren Füßen. Die nicht von ihr stammte. Irgendein armer Teufel hatte wohl in einer Verhandlung früher am Tag die Kontrolle über seine Blase verloren, aber die Pfütze würde bleiben, bis … tja, zumindest, bis ihr Fall längst abgeschlossen war.
Seltsam, wie ihre Gedanken so abschweiften. In der Hitze des späten Nachmittags war das Summen der Fliegen das Geräusch, das sie am deutlichsten wahrnahm. Die näselnde Stimme des Richters kam wie aus weiter Ferne, von noch weiter weg als das anhaltende Gegacker eines Zuschauers auf der Tribüne. Wenn sie die Augen auf bestimmte Weise zusammenkniff, konnte sie einen Heiligenschein sehen – wirr zerzaustes silbergraues Haar. War er verrückt? Oder nur erleichtert, dass da auf der Anklagebank jemand anderes saß?
Der Staatsanwalt – entstellt von seiner Perücke, aus der bei jeder Bewegung seines Halses weißer Puder stäubte – hatte sich an ihrem Fall regelrecht ergötzt. Er hatte ihre Jugend betont: »Wie unglaublich verderbt muss eine so junge Person sein, die den Weg des Verbrechens bereits so weit und so rasch durchschritten hat …?«, und auf ihr gefährliches Aussehen angespielt: »Solch pechschwarzes Haar ist Zeichen einer pechschwarzen Seele. Solch Übel sollte im Keime erstickt werden.« Und mit diesem Allgemeinplatz drückte er aus, dass man sie hängen sollte. Sie hatte nichts zu ihrer Verteidigung hervorgebracht. Sie hatte nichts zu sagen.
Die Stimme des Richters, die durch das aufgeregte Brummen der Fliegen drang, klang plötzlich drohend. »Mary Lang, für das Vergehen des Einbruchs wirst du hiermit verurteilt, gehenkt zu werden, bis der Tod eintritt.« Der letzte Satzteil hörte sich an wie Spott. Was sollte denn sonst eintreten?
Im Saal war ein leichtes Rumoren zu hören, wenn auch ohne Anzeichen von Erstaunen. Mary hob das Kinn und starrte unbeirrt zur Tribüne hinauf. Die Zuschauer dort wirkten gedrückt von der spätsommerlichen Hitze. Nur eine Gestalt – eine Frau, die Trauerkleider trug und den Schleier ihres Hutes etwas zurückgeschlagen hatte – erwiderte ihren Blick. Und zwinkerte ihr zu.
Mary blinzelte verwirrt. Als sie wieder genau hinsah, war die Dame verschwunden. Dann zerrte die Aufseherin sie aus der Anklagebank und führte sie aus dem Gerichtssaal, einen langen Gang entlang, in dem es nach Kot und Zwiebeln stank, hinunter in die klamme Feuchtigkeit des Kerkers.
Die Aufseherin umfasste mit ihrem kräftigen Arm Marys Schultern und schubste sie unsanft vor sich her. »Jetzt mach mir bloß nicht schlapp, junge Frau.« Ihre Stimme war rau und ihre Aussprache hatte den breiten Dialekt der westlichen Grafschaften.
Mary, die mit so etwas nicht gerechnet hatte, stolperte leicht. »Keine Sorge«, murmelte sie, doch die Frau knuffte sie erneut, und zwar so heftig, dass ihr fast die Knie einknickten.
»Der Herr sei deiner kläglichen schwachen Seele gnädig!« Im Schutz ihrer Röcke trat die Aufseherin nach Marys Fuß, sodass diese erneut strauchelte. »Barmherzigkeit, du mickriges Gör, mach mir jetzt keine Scherereien!«
Inzwischen waren sie fast bei dem Schließwärter angekommen. Mit festem Griff verdrehte die Aufseherin Mary hinter ihrem Rücken das linke Handgelenk. Die eisernen Handfesseln schnitten dem Mädchen ins Fleisch, sodass es überrascht nach Luft schnappte. Grob schüttelte die Aufseherin sie bei den Schultern und redete gleichzeitig ohne Unterlass auf den Schließwärter ein. »Das dumme Ding wird mir ohnmächtig! So ein Feine-Damen-Getue kommt mir nicht infrage, das steht mal fest!« Ihre durchdringende Stimme übertönte die Rufe der anderen Gefangenen. »Die muss mal ordentlich in den Pferdetrog getunkt werden!«, keifte die Aufseherin empört.
Mary ließ sich zu Boden sacken. Was machte es jetzt denn noch aus, eine Viertelstunde länger drangsaliert zu werden? Sie wurde nach draußen bugsiert, über den gepflasterten Hof, wobei die Aufseherin nicht aufhörte, zu schimpfen und sie unsanft zu schütteln. Einige Männer versammelten sich unter der Tür und grinsten über das Schauspiel. Als die Aufseherin, die Mary weiterhin fest im Griff hatte, bei dem Trog in der Ecke des Hofes ankam, zog sie einen Lappen aus der Tasche und drückte ihn Mary auf Nase und Mund. Ein unbekannter, süßlicher Geruch und Kälte stiegen dem Mädchen in die Nase. Sie wehrte sich einen Moment und hatte noch kurz Zeit, sich über den Ausdruck im Blick der Frau zu wundern.
Dann wurde es schwarz um sie.
***
War das der Tod? Ihre Zunge fühlte sich geschwollen an, ihr Kopf zum Bersten. Ihre Fingerspitzen waren taub. Sie bewegte sie versuchsweise und stellte erstaunt fest, dass ihre Handgelenke nicht mehr gefesselt waren. Im Gegenteil, sie war in Leinentücher gehüllt und auf weiche Decken gebettet. Sie drehte den Kopf und rieb die Wange am Kopfkissen, wie es Katzen tun. Der Duft war angenehm und ganz unvertraut. Bisher noch kein Fegefeuer. Und auch noch keine himmlischen Chöre. Es schien keinen Grund zu geben, warum sie sich nicht bewegen oder die Augen öffnen sollte.
Dass Gott weiblich sein könnte – damit hatte sie nicht gerechnet. Langsam und nur zögernd schlug sie die schweren Lider auf und sah die Person an, die da gesprochen hatte. Die Frau hatte das lavendelfarbene Trauerkleid gegen etwas Dunkleres getauscht, aber sie war es: die Dame, die ihr von der Tribüne zugezwinkert hatte. Das bedeutete, dass sie weder in der Hölle noch im Himmel war.
»Wie fühlst du dich?«
Die Frage schien wohl eher unwichtig. Mary ließ den Blick durch das Zimmer gleiten – geräumig, einfach möbliert, von Kerzen erleuchtet –, dann sah sie zurück zu der zwinkernden Dame. »Ich weiß nicht.«
»Wahrscheinlich hast du Kopfschmerzen; das bekommt man manchmal von Chloroform, auch wenn wir so wenig wie möglich genommen haben.«
Chloroform: irgend so ein Fremdwort für eine gefährliche Substanz. Sie hatte zwar schon mal von einer Flüssigkeit gehört, von der man ohnmächtig werden sollte, aber so etwas hatte sie immer als erlogene Wunschvorstellung abgetan.
»Bestimmt hast du Durst.« Die zwinkernde Dame reichte ihr ein Glas mit einer hellen, trüben Flüssigkeit. Als Mary zögerte, lächelte sie. »Das kannst du ganz beruhigt trinken.« Wie um es zu beweisen, nahm sie einen Schluck davon.
Mary kostete vorsichtig. Aber als ihr die kühle Flüssigkeit durch die Kehle rann, trank sie gierig. Limonade. Einmal, vor ein paar Jahren, hatte sie so etwas schon getrunken. Zu ihrem Leidwesen war das Glas rasch geleert. Sie wischte sich den Mund und sah die Dame an. Mary war immer noch etwas benommen, doch gleichzeitig konnte sie sich nicht beherrschen. »Warum?«
»Lass mich lieber mit Wer und Wo anfangen. Dann kommen wir schon noch zum Warum und Wie.«
Mary nickte. Sie hatte das Gefühl, dass sie auf den Arm genommen werden sollte.
Die Dame setzte sich neben das Bett. »Mein Name ist Anne Treleaven«, begann sie, »und ich bin die Direktorin hier in Miss Scrimshaws Mädcheninstitut. Unsere Gründerin war eine exzentrische und begüterte Dame, deren Bestreben es war, Frauen zu einem gewissen Maß an Unabhängigkeit zu verhelfen. In unserem Land erhalten Mädchen im Allgemeinen nur eine sehr mangelhafte Bildung, selbst diejenigen aus begüterten Verhältnissen, und unzählige Mädchen gehen ganz leer aus. Daher hat Miss Scrimshaw eine Schule gegründet.«
Sie redete fast unbeteiligt, doch ihr Blick war aufmerksam und ließ Mary kaum aus den Augen. »Wir sind ein bisschen so etwas wie eine Wohltätigkeitseinrichtung, da es sich die meisten unserer Schülerinnen normalerweise nicht leisten könnten, das Schulgeld aufzubringen. Dennoch sind wir ein ganz besonderes Institut. Oft suchen wir unsere Schülerinnen nämlich selbst aus, statt darauf zu warten, dass sie auf uns zukommen. Wir halten Ausschau nach Mädchen, die von der speziellen Ausbildung, die wir anbieten, am meisten profitieren.« Sie legte eine Pause ein. »Und wir haben dich ausgewählt.«
Marys Gesicht verfinsterte sich. »Ich nehme mal an, Sie halten das für eine großzügige Geste. Warum glauben Sie eigentlich, dass ich ausgewählt werden will? Wenn ich nun lieber gehenkt werden wollte?«
Statt geschockt und entrüstet auszusehen, verriet Anne Treleavens Gesicht eher Belustigung. »Nun werde doch nicht gleich widerborstig. Wir haben nicht vor, dich zum Bleiben zu zwingen. Du kannst jederzeit verschwinden und dich hängen lassen, wenn du das willst. Aber ich hoffe doch, dass du mir wenigstens ein paar Minuten zuhörst, ehe du dich entscheidest.«
Mary merkte, dass sie nicht nur ungezogen, sondern auch kindisch reagiert hatte. Sie zuckte die Schultern.
»Meine Kolleginnen haben dich seit einiger Zeit beobachtet. Eine von ihnen kennst du, es ist nämlich die Aufseherin im Old Bailey; eine weitere hat dich während der Wochen vor deiner Verurteilung im Gefängnis von Newgate im Auge gehabt. Beiden ist deine Intelligenz aufgefallen. Was sie auch beeindruckt hat, ist, dass du dich schuldig bekannt hast. Die meisten, denen ein Kapitalverbrechen zur Last gelegt wird, beharren auf ihrer Unschuld, ob es stimmt oder nicht. Du nicht. Warum nicht, Mary?«
Nach einer Pause zuckte Mary erneut die Schultern. »Vielleicht, weil ich es satthatte.«
Anne Treleavens Augen blitzten auf. »Zu lügen? Zu stehlen?« Sie füllte Marys Glas auf und reichte es ihr. »Oder hattest du das Leben satt?«
Das Aufflackern in Marys Augen kam dem vollen Geständnis eines weniger hartgesottenen Mädchens gleich.
»Für jemanden, der noch so jung ist, hast du dich überraschend leicht mit dem Tod abgefunden.«
»Zwölf Jahre, das reicht mir jetzt«, sagte Mary. Wohlmeinende Fremde – vor allem Frauen – versuchten ständig, sie zu tränenreichen Bekenntnissen über ihr leidgeprüftes Leben zu bewegen. Seit Jahren war sie nicht mehr auf diesen Quatsch hereingefallen.
Anne Treleaven zog eine ihrer feinen Augenbrauen hoch. »Genau das hat meine Kollegin vermutet und deshalb haben wir dich hierhergeholt: in der Hoffnung, dass du die Aussicht auf eine andere Art von Leben vielleicht erträglicher findest.«
»Als braves kleines Dienstmädchen, ein Mädchen für alles, meinen Sie? Damit feine Damen sich daran ergötzen können, mich zu schlagen, und das für acht Pfund im Jahr?« Sie spuckte auf den Teppich. »Nicht mit mir.«
Anne Treleavens Ausdruck wurde härter. »Nein, Mary, nicht dafür. Das auf keinen Fall.«
»Dann sind Sie wohl verrückt. Sonst kommt doch nichts infrage. Nicht für so eine wie mich.«
»Da täuschst du dich.«
»Tatsächlich?«
»Du bist klug, Mary. Und entschlossen. Und ehrgeizig. Es gibt ein paar Berufe, die Frauen offenstehen; darunter könntest du dir jeden auswählen.« Anne Treleaven schwieg und neigte den Kopf zur Seite. »Und Frauen von außergewöhnlichem Talent stehen noch ein oder zwei andere Möglichkeiten offen … aber davon zu reden wäre gewissermaßen, nun, sagen wir, voreilig.«
Absurd. Eine zweite Chance, das gab es doch nicht – für keinen. So viel hatte Mary immerhin begriffen. Ach herrje – stieg ihr dieses unerwartete Lob schon zu Kopf? »Was führen Sie im Schilde?«, wollte sie wissen.
Auch diese Frage, diese erneute Ungezogenheit schien Anne Treleaven nicht zu überraschen. »Wie ich dir bereits auseinandergesetzt habe, ist es unser Ziel, Mädchen zu einem unabhängigen Leben zu verhelfen. Zu viele Frauen sehen sich dazu gezwungen zu heiraten; einer noch größeren Anzahl von Frauen bietet sich nicht mal diese Chance, und sie wenden sich der Prostitution oder gar Schlimmerem zu, um durchzukommen. Wir sind der Ansicht, dass eine gute Ausbildung unsere Zöglinge befähigt, für sich selbst zu sorgen.« Sie machte eine Pause. »Nicht alle unsere Schülerinnen sind erfolgreich. Nur wenige Berufe stehen Frauen offen, was die Sache schwierig macht. Manche Mädchen ziehen es auch vor zu heiraten, statt hart arbeiten zu müssen. Ihnen ist nicht klar, dass die Ehe mit einem rohen Unmenschen oder einem Trinker belastender ist, als zu arbeiten. Aber jede wählt ihren Weg. Wir können unseren Schülerinnen unsere Ansichten nicht aufzwingen.
Nun, ich schweife ab. Meine Mitarbeiterinnen sind überzeugt, dass du deine Selbstständigkeit liebst und den Wunsch hast, deinen eigenen Weg in der Welt zu suchen. Du bist es gewohnt, Entscheidungen zu treffen und für dich selbst zu sorgen. Hier an unserem Institut können wir dir eine bessere Chance bieten, diese Unabhängigkeit zu erlangen. Wir können dir helfen, deinem Leben als Diebin zu entkommen – dich neu zu erfinden, wenn man so will. Dir eine Chance bieten, deine Aussichten zu verbessern … so zu werden, wie du vielleicht geworden wärst, wenn das Schicksal dir von Anfang an gnädiger gewesen wäre.«
Mary schluckte heftig. Was Anne Treleaven da vor ihr ausbreitete, war unerhört – eine schwindelerregende, ganz unrealistische Offenbarung. Wie war es möglich, dass sich ihre Gefühle so rasch ins Gegenteil verkehrt hatten? Vor fünf Minuten noch hatte sie die Frau verflucht, die sie dem Gefängnis und der Gewissheit des Todes entrissen hatte. Jetzt hatte sie Angst, dass all diese glühenden Verheißungen nichts als ein billiger Betrug sein könnten. »Sie haben meine Frage immer noch nicht beantwortet«, sagte Mary schroff, denn sie hatte Angst, dass ihre Stimme zittern könnte. »Was springt für Sie dabei heraus? Wo ist der Haken?«
Anne Treleavens Augen, stellte Mary plötzlich fest, waren stahlgrau. »Ich kann es nicht ertragen, dass Mädchen zu Opfern werden«, sagte Miss Treleaven mit ruhiger Eindringlichkeit. »Wie es dir beinahe passiert wäre. Das springt für mich dabei heraus.« Plötzlich schloss sie die Finger um Marys kalte Hand. »Und der Haken, meine Liebe, ist, dass du bereit sein musst, hart dafür zu arbeiten. Das ist alles.«
Der Händedruck erschütterte Mary mehr als ein unerwarteter Schlag. Wann war sie das letzte Mal berührt worden? Natürlich, die Aufseherin hatte sie ein wenig herumgestoßen – aber nur zu ihrem Besten anscheinend. Auf der Straße hatten Männer versucht, ihr unter den Rock zu fassen. In bevölkerten Gassen und Kneipen hatten Betrunkene sie angerempelt. Kleine Kinder hatten sie angestoßen, wenn sie durch die Menge flitzten. Aber dass man sie, Mary, liebevoll berührt hatte … das war seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr geschehen.
Aufgewühlt zog sie die Hand zurück. Das kann alles nicht wahr sein. Es kann sich doch nur um eine weitere Sackgasse handeln. Es gibt keine Hoffnung. Das hast du doch schon vor Jahren gelernt, kleine Törin. Sie holte tief Luft, um der anderen all das entgegenzuschleudern. Stattdessen brachte sie nur ein Wort heraus, mit schwacher Stimme.
»Bitte …«