Nummer zweiundzwanzig, moi-ne Damen.« Die Kutsche kam ruckelnd zum Stehen, und der Kutscher tippte sich in Richtung der beiden aussteigenden Damen, die äußerst korrekt gekleidet waren, mit ironischem Schwung an den Hut.
Anne Treleaven machte sich daran, mit umständlicher Genauigkeit zu zahlen, wobei sie die Münzen mit stummer Lippenbewegung abzählte. Der Kutscher verdrehte die Augen: typische Gouvernante, diese alte Jungfer. Sobald er abgefahren war, warf Anne Treleaven ihrer Begleiterin einen kurzen aufmunternden Blick zu. »Bereit?«, murmelte sie kaum hörbar.
War sie das? Mary verspürte einen Anflug von Übelkeit. Ihr war, als ob sich die ganzen intensiven Unterweisungen des letzten Monats vor ihrem inneren Auge in Luft auflösten. Das gesamte technische Training – Selbstverteidigung, Tarnung, Kondition – war hier, auf den weiß getünchten Stufen vor dem Ort ihres ersten Einsatzes, wohl eher von untergeordneter Bedeutung. Und welche der erlernten Spitzelfähigkeiten würde sie brauchen? Gäbe es Spielraum für das Knacken von Schlössern oder das Knüpfen von Knoten, für Fingerfertigkeit oder gar das Aushorchen verdächtiger Personen? Der Einsatz sah nur vor, die Ohren offen zu halten und Tee zu trinken. Vielleicht war sie auf so etwas gar nicht gut vorbereitet …
Doch Anne Treleaven sah sie noch immer mit unbewegtem, aufmerksamem Blick an.
Mary ließ das Taschentuch, das sie sich vor die Nase gehalten hatte, sinken. »Bereit.« Hier am Fluss war der Geruch nach Fäulnis so intensiv, dass sie es fast schmecken konnte. Pflanzen. Fleisch. Urin von Mensch und Tier. Alles rottete vor sich hin. Dazu kam noch Kohlenrauch und über allem hing der scharfe Geruch nach Salzwasser.
Anne Treleaven presste die Lippen aufeinander. »Grässlich, was? Aber wenn die Hitzewelle erst mal vorüber ist, wird es bestimmt gleich viel besser.«
»Hoffentlich«, murmelte Mary. Ihre Aufmerksamkeit war auf das Haus gerichtet. Cheyne Walk Nummer 22 war eine seltsame Wahl für einen Geschäftsmann. Der Stadtteil Chelsea war berühmt – vielleicht sogar berüchtigt – für seine Bohemiens, vor allem für den Maler und Dichter Dante Gabriel Rossetti. Doch bei all seiner künstlerischen Anziehungskraft war Chelsea immer noch recht zwielichtig.
Das Haus selbst sah aus wie ein großes Stück einer klassizistischen Hochzeitstorte. Da es so nah am Fluss lag – buchstäblich auf der Rückseite des Uferkais –, sah die weiß getünchte Fassade fleckig und grau aus, verschmutzt von Vogeldreck und Ruß. Die Stufen waren jedoch am Morgen geschrubbt worden und die Tür wurde unverzüglich von einem Diener geöffnet. Mrs Thorold erwarte sie bereits; würden sie bitte hinaufgehen?
Sie brauchten einige Zeit, bis sich ihre Augen an das stickige Halbdunkel drinnen gewöhnt hatten. Die Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte, war von Ölgemälden gesäumt: ein Mädchen mit goldenem Haar, hübsch, wenn auch zu protzig gekleidet; ein blasser Junge im Matrosenanzug; eine stattliche Frau mittleren Alters mit einem fantastischen Rubinhalsband; und schließlich ein Mann mittleren Alters mit aufgedunsenem Gesicht und verquollenen Augen. Dieses Porträt sah Mary mit besonderer Aufmerksamkeit an.
Der Salon lag nach vorne hin. Seine großen Fenster waren verhüllt von schweren Samtvorhängen, die jegliches Tageslicht und einen möglichen Luftzug verbannten. Trotzdem konnte man in der unbewegten und abgestandenen Luft einen Hauch vom Gestank des Flusses wahrnehmen, über dem ein künstlicher Rosenduft lag.
»Die Damen Treleaven und Quinn, Madam.« Die Stimme des Lakaien war ziemlich näselnd.
Anne Treleaven trat vor und neigte den Kopf. »Guten Tag, Mrs Thorold. Darf ich Ihnen Miss Mary Quinn vorstellen? Das ist die junge Dame, die ich in meinem letzten Brief erwähnt habe.«
Die Stimme der Hausherrin war schlaff und etwas zittrig. »Ich hoffe, Sie entschuldigen, dass ich nicht aufstehe, meine Lieben. Ich fühle mich heute ziemlich schwach.«
Mary neigte ebenfalls den Kopf, dann hob sie achtsam den Blick. Trotz der Hitze war Mrs Thorold fest in einen Spitzenschal gehüllt. Bleich sah ihr Gesicht unter der altmodischen Rüschenhaube hervor. Kurzsichtig blinzelte sie Mary und Anne Treleaven aus ihren blauen Augen an. Sie sah wie eine verblasste Version der Dame auf dem Ölgemälde aus, nur dass der Maler ihre Pockennarben, die ziemlich auffallend waren, taktvollerweise fortgelassen hatte.
»Diese Hitze muss sehr ermüdend für Sie sein, Mrs Thorold«, sagte Mary zögernd.
»So ist es«, nickte die Dame des Hauses. »Nichts für die Nerven, wie meine Ärzte sagen.« Sie ließ den Blick über Marys Gesicht und ihr schlichtes, unmodernes Kleid gleiten. Es war nicht auszumachen, wie viel ihr kurzsichtiger Blick in dem von Gaslicht erleuchteten Zimmer erkennen konnte.
»Nehmen Sie doch bitte Platz.« Mrs Thorold deutete auf das Sofa, das ihrem Sessel direkt gegenüber stand, und wandte sich an den Lakai. »William, Sie können den Tee servieren. Und – und sagen Sie Angelica, ich wünsche, dass sie Miss …« Sie blieb stecken.
»Quinn«, half Anne Treleaven aus. Das war der Nachname von Marys Mutter gewesen, den Mary zu Beginn ihrer Zeit am Institut angenommen hatte. Nach Mary Lang wurde ja immer noch gefahndet, da sie eine Person war, die sich ihrem Schicksal, dem Galgen, entzogen hatte. Außerdem zog Mary einen weniger auffallenden Namen vor, aus Gründen, die zuzugeben sie sich weigerte, sogar vor sich selbst.
Geschickt brachte Anne Treleaven das Gespräch auf Marys Fähigkeiten als professionelle Gesellschafterin – Briefe schreiben, Vorlesen, gutes Französisch, vornehmen Geschmack in Bezug auf Literatur – und bot Mrs Thorold die Gelegenheit, Mary zu diesen Themen zu befragen. Gerade beschrieb Mary, was sie zurzeit las (eine Sammlung von Predigten), da öffnete sich die Tür zum Salon, und Mrs Thorolds Gesicht leuchtete auf.
»Angelica, Liebling. Komm her und lerne Miss Treleaven und Miss Quinn kennen.«
Es war das Mädchen von dem Porträt – genauso hübsch und genauso protzig gekleidet, wenn auch jetzt gerade mit zusammengekniffenen Augen und feindseligem Blick, der von Anne Treleaven zu Mary glitt. »Sie sind das also?«, fragte sie herausfordernd.
»Ich würde gerne als Ihre Gesellschafterin anfangen, wenn es Ihre Mutter für passend hält«, erwiderte Mary.
»Ich will niemand zur Gesellschafterin.« Das Mädchen ließ den kalten Blick aus blauen Augen über Marys bescheidene Haltung und das unschmeichelhafte Kleid gleiten. »Und schon gar keine Ausländerin. Woher sind Sie?«
»London.«
Angelica schnaubte verächtlich. »Mit den Augen und dem Haar?«
Zu ihrem Unwillen errötete Mary vor Ärger. »Meine Mutter war Irin. Einige Iren haben dunkle Augen und dunkles Haar.«
»Nur halb englisch …« Angewidert verzog Angelica den Mund. »Wie alt sind Sie denn?«
»Zwanzig.« Die Lüge ging ihr nicht leicht über die Lippen. Mary wusste, dass sie nicht annähernd wie zwanzig aussah, aber keiner würde ein siebzehnjähriges Mädchen einstellen.
Angelicas Mutter kam ihrer Tochter, die das offensichtlich nicht glaubte, mit besorgt zitternder Stimme zuvor. »Mein süßes Mädchen, wo bleiben deine Manieren? Miss Treleaven muss dich ja für ganz unerzogen halten.«
Das süße Mädchen sah zu Boden und murmelte kaum hörbar: »Guten Tag.«
»Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen, Miss Thorold«, murmelte Anne Treleaven. »Wie ich höre, sind Sie sehr musikalisch.«
Mary reagierte auf das Stichwort und plauderte ein wenig über Musik. Schmeichelnd zogen sie und Anne Treleaven Angelica in eine fast normale Unterhaltung und überredeten sie schließlich, ihnen etwas vorzuspielen. Mary machte sich auf eine süßliche populäre Ballade gefasst, die gekünstelt vorgetragen wurde; stattdessen bot ihnen Angelica ein Bach-Präludium, das sie sehr rasch und stürmisch hinlegte, und tat zum Schluss so, als würde sie ihre überraschten und bewundernden Gesichter nicht bemerken.
Als das Tablett mit dem Tee gebracht wurde, übernahm Angelica automatisch die Regie. Mit Geklirre teilte sie die Tassen aus, rührte absichtlich zu viel Zucker in Anne Treleavens Tee und konnte sich gerade noch beherrschen, den Gästen den Teller mit den Keksen nicht auf den Schoß zu werfen. Ein oder zwei rutschten dennoch auf den Teppich, aber Mrs Thorold schien es nicht zu bemerken.
Trotz der Anstrengungen von Mary und Anne Treleaven wurde der Tee unter fast völligem Schweigen eingenommen. Mrs Thorold ließ sich schläfrig in ihren Sessel zurücksinken und lächelte von Zeit zu Zeit abwesend, während sich Angelica bei jeder Frage, die an sie gerichtet wurde, einen Keks in den Mund schob und mit den Schultern zuckte. Durch ihre Beharrlichkeit erfuhren die beiden jedoch schließlich, dass Angelica achtzehn war; ihr Mädchenpensionat in Surrey hatte sie im Jahr zuvor verlassen; ihre Schulfreundinnen vermisste sie gar nicht, sie seien alle langweilig und dumm gewesen; in London habe sie keine speziellen Freundinnen; Klavierunterricht bekam sie zweimal pro Woche an der Königlichen Musikakademie; darüber hinaus verbrachte sie die Zeit mit langweiligen Gesellschaften. Es war schwierig festzustellen, ob sie etwas gegen Anne Treleaven und Mary im Besonderen hatte oder ob sie die ganze Welt hasste.
Nachdem das Teegeschirr abgeräumt worden war, schien Mrs Thorold wieder aufzuwachen. Sie versuchte sich in ihrem Sessel aufzurichten und seufzte. »Nun, mein süßes Kind?«
Angelica warf Mary nur einen kurzen Blick zu. »Nein.«
Mary erstarrte. Sie war durchgefallen, so kurz und bündig? Sie widerstand dem Impuls, Anne Treleaven anzusehen.
Mrs Thorold blinzelte zweimal, dann seufzte sie erneut. »Ach, mein Liebes. Wir können nicht ewig so weitermachen, weißt du.«
»Doch. Bis du begreifst, dass ich keine dämliche Gesellschafterin haben will.«
Mrs Thorold wurde blass. »Deine Sprache, mein Liebling!«
»Mama, ich möchte keine professionelle Gesellschafterin. Hast du das verstanden?«
Einige Sekunden herrschte Schweigen und alle vier Frauen saßen wie erstarrt auf ihren Stühlen. Schließlich durchbrach Anne Treleaven die verfahrene Situation. »Mrs Thorold, es wäre mir nicht recht, Miss Thorold die Gesellschaft von Miss Quinn aufzudrängen; das würde sich höchst ungünstig auf beide auswirken.«
Angelica zeigte ein unverhohlenes Grinsen.
Mary sackte innerlich in sich zusammen.
»Möglicherweise«, fuhr Anne Treleaven fort, »hätte Miss Thorold jedoch gerne eine andere Art von Gesellschaft? Eine ältere Person vielleicht, die einen steten Einfluss auf sie ausübte? Ich habe da eine ältere Lehrerin des Instituts vor Augen, die –«
»Auf keinen Fall«, fiel ihr Angelica ins Wort. Ihr Blick glitt von Anne Treleaven über Mary zu ihrer Mutter. »Bloß keine alte Schachtel.«
Anne Treleaven richtete ihre Augen kühl auf Angelica. »Das ist nur ein Vorschlag, Miss Thorold. Aber da Ihre Mutter nun mal eine Gesellschafterin für Sie wünscht und Ihre Vorlieben kennt …«
Angelicas Gesicht verfinsterte sich. »Die kennt sie kein bisschen.« Sie wandte sich ihrer Mutter zu. »Mama, sag es ihr. Sag ihr, dass wir niemanden wünschen!«
Ein schwaches Aufleuchten erschien in den trüben Augen ihrer Mutter. Geziert befeuchtete sie ihre Lippen. »Äh … tja, Mrs Treleaven … Ihr Vorschlag klingt recht klug.«
»Ma-MA!« Es war mehr ein Aufheulen als ein Ausruf. Mary erwartete schon, dass sich Angelica auf den Teppich schmeißen und mit den Fäusten darauf eintrommeln würde.
Mrs Thorold warf Anne Treleaven einen Blick zu. »Ja … ich verstehe gut. Angelica, du musst wählen. Soll es Miss Quinn sein oder eine ältere Gouvernante?«
»Das kannst du doch nicht ernst meinen!«
»Doch, doch, meine Liebe.« Ihre Stimme klang immer noch sanft, aber Mrs Thorold schien unter der Anleitung von Anne Treleaven entschlossener zu werden. Sie begegnete dem wütenden Blick ihrer Tochter mit Gelassenheit. »Miss Quinn ist die achte Kandidatin, die wir für diese Stellung angesehen haben. Sie macht mir einen vollkommen geeigneten Eindruck und scheint auch von sehr angenehmem Wesen zu sein. Du musst nun wählen, andernfalls treffe ich die Wahl für dich.«
Angelica schmollte noch immer. Hatte sie diese launischen Anwandlungen von ihrem Vater geerbt?
Anne Treleaven wandte sich an sie. »Vielleicht wäre eine Probezeit das Beste«, sagte sie ruhig. »Um festzustellen, wie Sie miteinander zurechtkommen. Wenn Sie nach, sagen wir mal, einem Monat glauben, dass Sie Miss Quinns Gesellschaft nicht ertragen können, dann werde ich Ihnen Miss Clampett vorstellen. Sie ist eine sehr forsche, entschiedene Dame mit langjähriger Unterrichtserfahrung. Eine große Befürworterin morgendlicher Ertüchtigungen und kalter Bäder.«
»Sie versuchen doch bloß, mir Angst einzujagen.« Aber Angelica klang nicht recht überzeugt.
Anne Treleaven zuckte nur leicht mit den Schultern und sah auf ihre Uhr. Dann wandte sie sich wieder Mrs Thorold zu und sagte: »Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Madam, aber leider müssen wir nun aufbrechen.« Sie machte eine Pause, dann fragte sie wie nebenbei: »Soll ich versuchen, Miss Quinn ein paar Tage frei zu halten? Wir haben noch eine Kundin, die eine Gesellschafterin benötigt, aber ich kann sie vielleicht vertrösten …«
Drei Köpfe drehten sich abrupt nach Angelica um, die ihre Hände verärgert in die Luft warf. »Also meinetwegen! Ich vermute mal, dass diese Miss Quinn einer alten Schachtel vorzuziehen ist, die einen in kalte Bäder steckt.«
Mary unterdrückte ein triumphierendes Grinsen zugunsten eines zurückhaltenden Lächelns. »Ach, vielen Dank.«
***
Die Verhandlungen für eine Übersiedlung nach Cheyne Walk gingen atemberaubend schnell, selbst gemessen an den Standards von Anne Treleaven. Innerhalb einer Viertelstunde war Marys Einkommen ausgehandelt, ihre Pflichten wurden festgelegt, und für den späteren Abend wurde das Überbringen ihrer wenigen Habseligkeiten verabredet. Sie würde auf der Stelle anfangen. Während sich Anne Treleaven verabschiedete, wurde Mary regelrecht von Panik überfallen. Obwohl ihr der Einsatz klar vor Augen stand, hätte sie viel dafür gegeben, noch einmal fünf Minuten lang unter vier Augen mit ihrer Lehrerin zu reden. Stattdessen zwang sie sich zu einem zittrigen Lächeln und einem bescheidenen Knicks. Es war ja nicht so, als sei sie plötzlich ausgesetzt worden, sagte sich Mary. Es gab einen einfachen Briefcode, mit dem sie und Miss Treleaven Informationen austauschen konnten. Und vor allem hatte sie ja um diese neue Aufgabe gebeten – ja, sie geradezu erfleht. Diese neue Herausforderung. Dies neue Leben.
Ehe sich die Salontüren hinter ihrer vorgeblich ehemaligen Arbeitgeberin schlossen, waren Mrs und Miss Thorold zu dem zurückgekehrt, womit sie sich normalerweise beschäftigten: Mrs Thorold döste in ihrem Sessel, Angelica übte Klavier.
Das Klavierspiel endete erst, als die Männer eintrafen. Der Klang von Schritten auf der Treppe veranlasste Angelica, ihre Notenhefte fortzulegen, und selbst Mrs Thorold schien aufzuwachen, als die Tür des Salons mit einem Schnappen aufging.
»Da steckt ihr also, meine Lieben, guten Abend …« Ein kleiner, mondgesichtiger, dickbäuchiger Mann trat geschäftig in den Raum. Er ließ seinen Hut auf einen der Beistelltische fallen, seine Handschuhe auf einen anderen und strich sich ein paar Strähnen seiner über die Glatze gekämmten Haare glatt.
»Du bist ja heute ziemlich früh dran, Papa«, sagte Angelica zuckersüß und trat ihm entgegen, um sich die Stirn küssen zu lassen.
»Hoffentlich platze ich nicht in einen Plausch unter Frauen«, sagte Thorold und tätschelte ihr die Wange. Er verneigte sich respektvoll vor Mrs Thorold und redete weiter mit Angelica. »Angenehmen Tag gehabt?«
»Ja, Papa. Soll ich nach deinem Whisky läuten?«
»Braves Mädchen.« Er wandte sich höflich an Mary. »Wir kennen uns noch nicht, Miss …?«
»Quinn. Mary Quinn.« Sie neigte höflich den Kopf. »Ich bin die neue Gesellschafterin für Miss Thorold.«
»Gute Güte, aber natürlich. Ich bin übrigens Henry Thorold und das ist mein Sekretär Michael Gray.«
Mary verneigte sich auch vor dem jungen Mann, der hinter Thorold hereingekommen war. »Freut mich, Sie kennenzulernen, meine Herren.« Der Sekretär sah ziemlich gut aus, aber ihr Blick wanderte zu Mr Thorold zurück. Sie hatte ihn natürlich sofort von dem Bild über der Treppe wiedererkannt. Aber seine wenig würdevolle Energie und seine gute Laune erstaunten sie doch. Sie musste lernen, Klischees nicht auf den Leim zu gehen: Es gab keinen erdenklichen Grund, warum ein skrupelloser Kaufmann, der Steuern hinterzog und indische Kunstgegenstände schmuggelte, nicht auch ein vergnügter Familienvater sein konnte.
Mit einem Drink in der Hand ließ sich Thorold unter tiefem Aufseufzen in den Sessel neben Angelica sinken. Michael Gray wählte einen Platz auf dem Sofa, während Mrs Thorold in ihrem Sessel etwas abseits sitzen blieb. Alle schwiegen zunächst. Schließlich raffte sich Thorold auf und fragte: »Und, gibt es was zu berichten? Was hat mein Schätzchen denn heute so gemacht?«
Es folgte ein kurzes Schweigen auf die Frage.
»Konversation und Musik, Papa.« Angelica sprach mit sanfter Stimme. In Anwesenheit ihres Vaters benahm sie sich also anständig.
Michael Gray lächelte höflich. »Herzlichen Glückwunsch, Miss Quinn. Sie müssen ja wohl außergewöhnlich geeignet sein, wenn Miss Thorold Geschmack an Ihnen gefunden hat.«
Unerwartet mischte sich Mrs Thorold ein. »Angelica und Miss Quinn werden blendend miteinander auskommen.« Es hörte sich eindeutig wie ein Befehl an, trotz ihrer zittrigen Stimme. »Und Miss Quinn wird uns bei der Gesellschaft am Samstag gut zupasskommen.«
»Gesellschaft?« Thorold sah einen Augenblick verdutzt drein. Dann schlug er sich mit der Hand an die Stirn. »Aber sicher! Die Abendgesellschaft!«
Angelica verzog das Gesicht. »Wegen der Gesellschaft, Papa … findest du nicht, dass das schreckliche Wetter gar nicht geeignet ist für ein Gartenfest? Dieser … dieser …« Ihre Stimme erstarb, während sie nach einem höflicheren Wort für »Gestank« suchte.
»Gifthauch?«, schlug Mr Gray vor.
Sie nahm keine Notiz von ihm. »Diese für die Jahreszeit ungewöhnliche Hitze ist einfach unerträglich. Unsere Gäste werden sich äußerst unwohl fühlen.«
Mary sah Angelica neugierig an. Warum wollte eine reiche, gelangweilte junge Dame wohl auf ein Fest verzichten?
»Es ist ganz undenkbar, jetzt noch abzusagen, Mr Thorold«, sagte Mrs Thorold bestimmt. »Die Einladungen sind bereits vor drei Wochen verschickt worden.«
»Unsere Gäste werden bestimmt verstehen, warum wir verschieben müssen«, verlangte Angelica. »Sie können doch nicht erpicht darauf sein, in einen Salon gepfercht zu werden, der nur sieben Meter von der Themse entfernt ist.«
»Abgesehen von den bereits getroffenen Vorbereitungen«, fuhr Mrs Thorold fort, als habe Angelica gar nicht gesprochen. »Das ganze bestellte Essen, die Kapelle, die gebucht ist, die vielen zusätzlichen Lakaien und Mädchen, die wir angeheuert haben. Nicht zu vergessen das Zelt für den Garten.«
Thorold sah von seiner Frau zu seiner Tochter, als würde er ein Tennismatch beobachten. »Das ist richtig«, sagte er, ohne eine der beiden speziell anzusprechen.
»Wir können jetzt unmöglich absagen; es ist viel zu spät«, entschied Mrs Thorold bestimmt.
»Und deine Gesundheit, Mama? Du bist doch so gebrechlich«, sagte Angelica gleichzeitig.
Beide Frauen wandten sich an Thorold und warteten auf seine Meinung. Einige Sekunden lang blieb er stumm. Es war so still im Raum, dass Mary hören konnte, wie er verzweifelt schluckte. Nach einer Ewigkeit räusperte er sich vorsichtig. »Äh … nun, die Sache ist die … wir wollten – äh – hmm. Da ist noch die Sache mit …«
»Mr Easton«, sagte Mrs Thorold knapp. Alle Köpfe drehten sich zu ihr hin und sie sank etwas in ihrem Sessel zusammen. »Er stellt eine ausgezeichnete Chance für Angelica dar«, fuhr sie mit schwächerer Stimme fort, »und ist sehr von ihr eingenommen.«
Thorold runzelte die Stirn. »Es wäre schade, Easton enttäuschen zu müssen. Erst heute habe ich ihn gesehen, und er sagte mir, wie sehr er sich auf das Fest freut.«
»Ein vermögender Verehrer«, ließ Mrs Thorold wissen, »ist mal eine angenehme Abwechslung gegenüber den vielen Mitgiftjägern, die hier ein und aus gehen.«
Thorold machte ein zufriedenes Gesicht. »Hat mir gesagt, dass er hinter einem Vertrag mit Indien her ist! Kluger Kerl … zurzeit ein Land unbegrenzter Möglichkeiten.«
Mary beugte sich etwas vor, aber mehr sagte er nicht.
Michael sah zur Decke hoch.
Thorold nickte kurz. »Also gut. Die Gesellschaft findet statt.«