Um zehn Uhr waren alle Gäste der Thorolds eingetroffen. Aufgrund des Wetters mieden sie das Zelt in dem wunderbar beleuchteten, aber übel riechenden Garten, und folglich war es im Haus sehr eng. Obwohl in den Ecken der Räume zusätzliche Diener mit großen Fächern standen, war die Luft dick und abgestanden. Die Blumensträuße, die massenweise herumstanden, sahen schon etwas mitgenommen aus, was man von den Dienern auch sagen musste.
Abgesehen von der Hitze war es jedoch eine prächtige Gesellschaft. Neben den Gaslichtern waren Dutzende langer Wachskerzen angezündet worden, um die Räume taghell erscheinen zu lassen. Die jungen Damen trugen gerüschte weiße Kleider, die üppig mit Bändern und Blumen besetzt waren. Verheiratete und ältere Frauen trugen kräftigere Farben. Alle zeigten jedoch tiefe Dekolletés und protzige Edelsteine glitzerten auf mehreren Dutzend nackter Brustbeine. Die Herren in ihren schwarzen Smokingjacken und mit weißen Krawatten bildeten einen dramatischen Kontrast dazu. Mary starrte in die lachende, schnatternde, flirtende, berauschte Menge. Sie konnte kaum glauben, dass knarrende Holzschiffe und unter harter Arbeit ächzende Matrosen einen solchen Luxus hervorbrachten.
Vor heftiger Ungeduld verkrampften sich ihre Eingeweide. Sie hatte jetzt vier Tage bei den Thorolds verbracht. Vier Tage hatte sie Angelica Gesellschaft geleistet. Vier Tage ihre feindseligen Bemerkungen ertragen und so getan, als würde sie ihre üble Laune nicht bemerken. Vier Tage eingesperrt in diesem dunklen, stickigen Haus, das Mrs Thorold jeden Nachmittag in der Kutsche verließ. Und wozu das Ganze? Die einzigen Informationsfetzen, die sie mitbekommen hatte, waren lächerlich banal. Zum Beispiel, dass Thorold keinen männlichen Erben hatte. Sein einziger Sohn, Henry junior – der schwächliche Junge auf dem Porträt –, war vor einigen Jahren gestorben. Demzufolge war aus dem aufstrebenden Unternehmen Thorold & Sohn das etwas bescheidenere Thorold & Co. geworden. Und im letzten Monat war das Stubenmädchen wegen »Unsittlichkeit« entlassen worden. Sie war damals im sechsten Monat schwanger gewesen, und in der Küche wurde gemunkelt, dass Thorold der Vater sei.
Es wurde immer offensichtlicher, dass Thorold und Gray zu Hause niemals über Geschäfte sprachen – zumindest nicht in Anwesenheit der Damen. Und es blieb nur noch so wenig Zeit. Anne Treleaven und Felicity Frame sahen vor, dass Marys Einsatz in etwas mehr als einer Woche abgeschlossen sein würde. Sie hatten ihr keine weiteren Anweisungen oder Informationen zukommen lassen, was hieß, dass auch sie nichts Neues gehört hatten – zumindest nichts, was Mary hätte wissen müssen. Auch die Hauptagentin war nicht mit ihr in Verbindung getreten, was bedeutete, dass sie Marys Hilfe nicht brauchte. Sie durfte weder mit der Hauptagentin noch mit der Agentur Kontakt aufnehmen, solange sie nichts Handfestes erfuhr. Und – um den Kreis zu schließen – der einzige Weg, auf dem sie etwas herausfinden würde, war der, sich aktiv nach Beweisen für Schmuggelgeschäfte und dergleichen umzusehen. Und das – liebe Güte –, das wäre ja so viel interessanter, als unbequeme Kleider zu tragen und Fruchteis für unhöfliche ältere Damen zu holen.
Nein, lieber nicht. Sie würde ihren Anweisungen wortwörtlich folgen.
Dennoch … was konnte es schaden? Immerhin blieben ihr nur neun Tage für den Fall.
Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte.
Doch, eigentlich schon.
Das Fest war auf dem Höhepunkt. Keiner würde sie für ein Viertelstündchen vermissen. Sie schlüpfte vorbei an einer Gruppe von Männern, die in der Nähe der Salontür standen. So, wie sie gekleidet war, in ein schlichtes graues Kleid, sahen die meisten Gäste durch sie hindurch. Außer –
Eine von der Hitze leicht derangierte Hemdbrust tauchte plötzlich vor ihr auf. »Wo brennt’s denn?«
Sie sah direkt in Michael Grays Augen. Grüne Augen. »Ich bitte um Verzeihung?« Sie klang erschrocken, kurzatmig.
»Sie sind den ganzen Abend herumgerannt. Gehen Sie jemandem aus dem Weg?«
Darüber musste sie lachen. »Ich kenne niemanden, dem ich aus dem Weg gehen könnte.«
»Sie kennen mich.«
»Das ist wohl richtig, ein wenig zumindest«, sagte sie und klang etwas überrascht.
Er zog eine drollige Grimasse. »›Ein wenig.‹ Wie demütigend, wo ich Ihnen doch den ganzen Abend aufgelauert habe.«
Flirtete er etwa mit ihr? Doch wohl nicht wirklich. Und wie reagierte man auf so ein Flirten, falls man ebenfalls flirten wollte …
Die Verwirrung, die sich auf ihrem Gesicht breitmachte, schien er zu genießen. »Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«
»Ich habe den Verdacht, dass Sie es darauf anlegen, mich sprachlos zu machen.«
Er sah wirklich ziemlich gut aus, wenn er so lächelte. »Schon möglich. Aber ich würde auch gerne versuchen, mich mit Ihnen zu unterhalten. Gewähren Sie mir den nächsten Walzer?«
»Oh, ich kann nicht …«
»Sagen Sie jetzt nicht, dass Ihre Karte schon voll ist …«
»Natürlich nicht.« Sie hatte überhaupt keine Tanzkarte. »Aber ich sollte nicht tanzen.«
Er sah belustigt aus. »Ist das verboten?«
»Natürlich nicht. Es ist nur, dass – ich bin nicht …« Mary machte eine hilflose Geste.
Michael Grays Blick glitt leicht und bewundernd über sie. »Sie wirken, als seien Sie bestens geeignet zum Tanzen: weiblich, zwei Arme, zwei Füße … wenigstens soweit ich das sehen kann.«
Darüber musste sie lachen. »Sie legen mich mit Absicht falsch aus. Ich meine, dass ich nicht zu den jungen Damen gehöre. Sie sollten mit – einer anderen tanzen.«
»Und ich gehöre nicht zu den geeigneten Heiratskandidaten. Es liegt quasi in Ihrer Verantwortung, mit mir zu tanzen, verstehen Sie?«
»Im Gegenteil … mir scheint, dass es gerade zu wenig Männer gibt. Wenn Sie so unbedingt tanzen möchten, sollten Sie besser eines der jüngeren Mädchen bitten. Das ist bestimmt ganz unverfänglich.«
»He, Gray!«, erscholl es plötzlich aus dem Flur.
»Komme schon!«, rief Michael Gray zurück. »Unser Gespräch ist noch nicht beendet«, warnte er sie lächelnd. »Ich behalte mir diesen Tanz immer noch vor.«
Sie blitzte ihn herausfordernd an und ging um ihn herum. »Dann warten Sie nur, solange Sie wollen.« Sie bog um die Ecke und mit einem Lächeln auf den Lippen eilte sie den Gang entlang. Flirten war anscheinend gar nicht so schwierig, wie sie geglaubt hatte.
Sowohl der Geräuschpegel als auch die Hitze ließen im hinteren Teil des Hauses etwas nach. Der einzige Raum an diesem verlassenen Ende des Korridors war Thorolds Arbeitszimmer. Die Dienerschaft war unten und trug fieberhaft immer mehr gekühlte Getränke und Essen auf und öffnete eine Champagnerflasche nach der anderen.
Mary drehte versuchsweise an dem Türknopf. Natürlich abgeschlossen. Sie zog eine stabile Haarnadel aus ihrem Knoten und bog sie geschickt zurecht. Schlösser zu knacken hatte zu einer ihrer liebsten Aufgaben gehört: Darauf zu achten, dass man nicht entdeckt wurde und gleichzeitig den Geräuschen des Schließzylinders zu lauschen, erforderte große Konzentration. Während ihrer Übungsphasen in der Agentur im letzten Monat hatte sie erfreut und überrascht festgestellt, dass sich ihr früheres Können rasch wieder einstellte. Es war wahrscheinlich nicht weiter verwunderlich, dass die Fähigkeiten, die sie als junge Diebin erlernt hatte, noch vorhanden waren, während ihr die neuen Fertigkeiten wie das Entschlüsseln eines Codes mehr Schwierigkeiten bereiteten. Jetzt allerdings, nach all den behüteten Jahren, waren ihre Nerven den Kitzel nicht mehr so gewohnt und ihre Hände zitterten alarmierend heftig. Sie ließ ab und zwang sich, fünfmal hintereinander tief Luft zu holen. Wenn sie sich nicht zusammenriss, würde sie nur das Schloss zerkratzen und ihre Haarnadel ruinieren und müsste unverrichteter Dinge in den Salon zurückkehren. Der Gedanke war so ernüchternd, dass ihre Finger zu zittern aufhörten.
Der zweite Versuch gelang schon viel besser. Fast auf der Stelle konnte sie die Bewegung der Zapfen spüren. Ein kurzes Aufwallen des Gelächters von unten ließ sie erstarren, aber niemand näherte sich, und sie konnte mit der Arbeit fortfahren. Der letzte Hebel rastete klickend ein und sie grinste. Was für eine Genugtuung!
Das Schnappschloss war gut geölt. Ein kurzer Blick durch den Türspalt bestätigte, dass der Raum leer war. Sie schlüpfte hinein und zog die Tür leise hinter sich zu. Die schweren Samtvorhänge waren geöffnet und das Zimmer wurde von dem Mond und den Fackeln im Garten ausreichend erleuchtet. Den Kerzenstummel, den sie sich eingesteckt hatte, würde sie nicht brauchen.
Nun sah sie sich in dem Büro um. Zu ihrer Rechten stand Thorolds Schreibtisch, klobig und massiv und vollkommen leer geräumt. Dahinter standen ein paar Aktenschränke, ein großer Kleiderschrank und ein Tischchen mit Getränken. Zu ihrer Linken standen mehrere Bücherschränke mit Glastüren, die ledergebundene Bücher mit goldbedruckten Rücken enthielten. Die Fenster befanden sich an der hinteren Wand.
Sie runzelte die Stirn und biss sich auf die Lippe. Eine Zufallsentdeckung durfte sie kaum erwarten. Im Gegenteil, so sagte sie sich nüchtern, es war wohl eher wahrscheinlich, dass Thorold die Unterlagen, die mit seinem Unternehmen zusammenhingen, in seinem Speicherhaus verwahrte. Aber sie musste hier anfangen, um das Naheliegende auszuschließen.
Links bei den Bücherschränken fing sie an. Sie waren erst kürzlich abgestaubt worden, daher konnte man nicht sehen, ob einige der Bände öfter herausgenommen wurden als andere. Tatsächlich sahen die Bände, obwohl es sich um berühmte Namen handelte – Milton, Shakespeare, Johnson –, absolut neu aus. Sie zog einen Band mit Predigten von John Donne heraus und lächelte vor sich hin: Die Seiten waren noch nicht mal aufgeschnitten. Diese Bibliothek diente also nur dem Schein. Die gesamten Bücherreihen waren alle gleich – makellos, seriös, unberührt.
Bis … sie die Tür des Bücherschranks öffnete, der dem Fenster am nächsten stand. Sie wusste sofort, dass etwas anders war. Der angenehme Duft nach frischem Leder und Papier wich plötzlich Staub und … Zigarrenrauch? Sie ließ den Blick über die Bücherreihen gleiten und begriff, dass diese Bände, obwohl sie ebenfalls elegant gebunden waren, eine ganz andere Art von Büchern waren: Aretines Stellungen; Haus der Ruten; Fanny Hill. Sie nahm das abgegriffenste heraus und schlug es auf. Verschlungene nackte Körper, teils rosig und weißhäutig, teils dunkelhäutig … einige lächelnd, andere –
Mary schlug das Buch erschrocken zu. Sie war kein Unschuldsengel. Da sie auf der Straße aufgewachsen war, hatte sie schon mal obszöne Dinge zu Gesicht bekommen. Aber niemals etwas in dieser Art. Die Frauen auf diesen Bildern waren afrikanische Sklavinnen, die weißhäutigen Männer ihre Besitzer.
Sie musste eine Welle der Übelkeit unterdrücken. Stellte das Buch wieder an seinen Platz. Schluckte aufsteigende Galle, die einen bitteren Geschmack hinterließ. Sie spürte den Drang, das Fenster zu öffnen und sich die Lungen mit frischer Nachtluft zu füllen. So schmutzig diese auch war, sie konnte nicht schlimmer sein als das, was sie gerade gesehen hatte …
Stattdessen riss sie sich energisch zusammen. Die zimperliche junge Dame zu spielen war keine Lösung. Sie war hier, um Informationen zu sammeln.
Mary drückte die Tür des Bücherschranks fest zu und wandte sich dem restlichen Raum zu. Das Schloss des ersten Aktenschrankes war ein Kinderspiel. Sie drehte die Haarnadel nur ein paarmal und der Riegel schnappte zurück. Wieder verspürte sie das erregte Kribbeln, als sie das Schubfach aufzog. Es glitt leise heraus und enthielt unzählige säuberlich zusammengebundene Aktenstapel, die alle deutlich nach Jahr und Betreff etikettiert waren. 1836: Nord- und Südamerika; 1836: Bermudas und Westindische Inseln; 1836: Indien.
Was war das für ein Geräusch? Mary sah sich im Zimmer um. Sie hörte ganz deutlich etwas … aber sosehr sie auch die Ohren spitzte, jetzt konnte sie nur die Stimmen aus der Ferne ausmachen, die bisweilen von schallendem Gelächter unterbrochen wurden.
Sie kehrte zu dem Aktenschrank zurück. Lange brauchte sie nicht, um zu begreifen, dass es sich um alte Akten handelte, die mit dem Jahr 1845 endeten. Der zweite Schrank enthielt Akten von 1846 bis 1855, keine waren neueren Datums. Mary kaute auf der Unterlippe. Die aktuellen Akten mussten sich an einem anderen Ort befinden. Sie warf aufs Geratewohl einen Blick in einige der Bündel, nur um sicherzugehen, aber es schien alles in Ordnung zu sein: mit Laufzetteln und Datum abgelegt, keine größeren Lücken oder Unregelmäßigkeiten. Falls es sich nicht um einen ausgefeilten Geheimcode handelte, waren die Akten harmlos. Anscheinend musste sie es doch im Speicherhaus versuchen.
Wieder das Geräusch – wie ein leichtes Kratzen. Sie blieb stehen und lauschte. Jetzt wieder nur der Festlärm aus der Ferne.
Dann plötzlich etwas – Schritte, die den Gang entlang und näher kamen. Sie ließ das Schubfach zugleiten – keine Zeit, es abzuschließen – und sah sich um. Dachte verzweifelt daran, unter den Schreibtisch zu kriechen, änderte jedoch ihre Meinung, als die Schritte näher kamen. Der Schrank stand in Reichweite und war – Gott sei Dank! – nicht verschlossen. Sie stieg eilig hinein. Zum Glück trug sie keinen weiten Reifrock, der sie in ihrer Bewegungsfreiheit behindert hätte. Gerade als sie hörte, wie der Türknopf zum Arbeitszimmer klickte und sich drehte, zog sie die Tür zu.
Einige Augenblicke konnte Mary über dem wilden Schlagen ihres Pulses nichts hören. Sie versuchte einmal langsam und tief durchzuatmen. Dann noch einmal. Beim dritten Mal wurde sie wieder verhältnismäßig ruhig. Sie spähte in die warme Dunkelheit des Schrankes. Ihre Wange streifte ein raues, wollenes Kleidungsstück – einen Mantel? –, und sie konnte eine Mischung aus Tabak und Rasierwasser wahrnehmen, nach der auch die Bücherschränke gerochen hatten.
Ihr Mund war trocken. Wer verursachte das Geräusch im Zimmer? Warum hatte sie sich nur nicht die Zeit genommen, die Tür richtig hinter sich abzuschließen? Aus Ungeduld, schalt sie sich.
Allmählich drang ein neues Geräusch an ihr Ohr, so sachte, dass sie zuerst glaubte, es sich eingebildet zu haben. Es klang fast wie … leises Atmen. Ja, wie Atmen. Nicht ihr eigenes Atmen. Und es war … hinter ihr?
Lächerlich.
Oder etwa nicht?
Instinktiv hielt sie die Luft an – das andere Atmen hörte einen Augenblick später ebenfalls auf. Sie zählte bis fünf und atmete ganz leise aus – und vernahm ein leises Echo, nur kurz nach ihrem.
Blödsinn. Sie durfte nicht durchdrehen. Wenn sie jetzt schon die Nerven verlor, wo würde das enden? Also gut. Sie musste sich beweisen, dass sie sich das nur eingebildet hatte.
Ruhig und langsam griff sie mit der linken Hand hinter sich und berührte – ja, Stoff. Feines Leinen, um genau zu sein. So weit, so gut: Sie stand ja schließlich in einem Kleiderschrank. Das Problem war nur, dass das Leinen seltsam warm war. Körperwarm. Unter dem tastenden Druck ihrer Hand schien es sich zu bewegen …
Plötzlich und erschreckend unerwartet wurde ihr eine bloße Hand fest über Mund und Nase gelegt. Ein langer Arm hielt ihre Arme an ihre Seiten gedrückt. Kräftig wurde sie an einen harten, warmen Körper gepresst.
»Pscht«, flüsterte ein Mund, der dicht an ihr linkes Ohr kam. »Wenn Sie schreien, sind wir beide dran.«
Sie hätte gar nicht schreien können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Der Laut blieb ihr tief im Hals stecken.
Die Person drückte ihr die Hand noch fester über Mund und Nase. »Verstanden?« Sein Ton war ruhig, seine Hand warm und trocken. Er hätte sie auch fragen können, ob sie Zucker in den Tee nahm.
Mit Mühe brachte sie ein Nicken zustande.
Sekunden, die sich hinzogen, verstrichen. Die Schritte im Zimmer kamen näher und entfernten sich wieder. Das Scharren von Metall auf Metall – einmal, ein zweites Mal – deutete an, dass jemand die Vorhänge zuzog.
Tränen standen Mary in den Augen, aber es gelang ihr, sie mit zusammengebissenen Zähnen zu unterdrücken. Sie würde ihm nicht die Genugtuung bereiten – auf keinen Fall, um keinen Preis –, ihm zu zeigen, dass sie Angst hatte. Stattdessen versuchte sie herauszubekommen, wer dieser Mann im Kleiderschrank war. Die Stimme klang gebildet. Michael Gray? Nein. Der Duft dieses Mannes roch anders – Zedernseife und ein Hauch Whisky, nicht der leichte Hauch von Haaröl und Pfeifentabak, der Mr Gray umgab. Sie war selbst überrascht, wie sicher sie sich war.
Die Schritte wanderten erneut im Zimmer umher. Derjenige, der sie verursachte, stieß ein unzufriedenes »Hmm« aus. Endlich, endlich wurde die Tür wieder geöffnet und geschlossen und der Schlüssel deutlich hörbar herumgedreht.
Mary und ihr Kidnapper warteten. Sie konnte im Rücken spüren, wie sein Herz stetig und ruhig schlug. Sie zählte bis zehn. Bis zwanzig. Und dann bis dreißig. Wollte er sie denn gar nicht mehr loslassen? Sie überlegte, ob sie ihn in die Hand beißen sollte.
Dann drang seine Stimme wieder an ihr Ohr. »Dass Sie mir weder schreien noch weinen!«
Schwach schüttelte sie den Kopf.
Er wartete einige Sekunden, dann nahm er langsam seine Hand von ihrem Mund.
Sie holte langsam und zitternd Luft. Versuchte dabei leise zu bleiben. Versuchte sich zu bewegen, aber sein linker Arm lag noch fest um sie.
Nach einem weiteren Augenblick gab er ihre Arme frei, wiederum ganz langsam.
Mit zitternden Händen stieß sie die Schranktür auf und fiel fast hinaus. Sie wurde mit kräftigem Griff festgehalten und auf die Füße gestellt – nicht grob.
Mary schlug nach den Händen, wirbelte herum und sah ihn an. Nachdem die Vorhänge zugezogen waren, war der Raum fast ganz finster, doch sie konnte eine hochgewachsene, schlanke Gestalt erkennen.
Hell flammte ein Streichholz in seiner Hand auf, sodass sie einen Blick auf dunkle Augen und einen strengen, entschiedenen Mund werfen konnte. Er zog eine kurze Kerze hervor, zündete sie an und hielt die Flamme näher an ihr Gesicht. Der Schein blendete fast schmerzlich nach der langen Dunkelheit. Sie musterten sich einige Zeit, dann zuckte es um seine Mundwinkel. Fand er die Sache etwa lustig? Er sah aus, als wolle er ihr eine Frage stellen, doch dann besann er sich eines Besseren.
Sie starrte ihn herausfordernd an. Fragen türmten sich in ihr, doch sie war entschlossen, erst zu reden, wenn er es auch tat. Nach seinem warmen Körper fühlte sich ihr Rücken kalt an.
Mit großen Schritten ging er auf die Tür zu, zog einen Schlüssel hervor und schloss auf. Er sah, dass der Gang leer war, drehte sich nach ihr um und machte eine höfliche Geste mit der Hand. »Nach Ihnen.« Wieder dieser unverschämt beiläufige Ton.
Mary starrte ihn an. Was zum Teufel …?
Er warf erneut einen Blick in den Flur, dann wieder zu ihr, ungeduldig. »Schnell jetzt.«
Unbeirrt schüttelte sie den Kopf. »Nein. Nach Ihnen.«
»Kommen Sie schon – sollen wir uns hier wirklich streiten?« Sein Ton war eindeutig herablassend.
»Ich habe nicht vor, mich zu streiten«, sagte Mary hochmütig. Jetzt, wo er redete, traute sie sich eher, ihm standzuhalten. »Wenn Sie gehen möchten, würde ich mir nicht im Traum einfallen lassen, Sie daran zu hindern.«
Er schloss die Tür wieder und funkelte sie an. »Mein liebes Mädchen, was für ein Spiel spielen Sie eigentlich?«
Sie sah ihn herablassend an. »Sie befinden sich wohl kaum in einer Position, solch eine Frage zu stellen.«
Seine Mundwinkel zuckten erneut. Was für ein seltsamer Kerl. »Gut gekontert.« Er schwieg und starrte an die Decke, als suche er dort nach einer Eingebung. »Nun gut. Darf ich vorschlagen, dass wir den Raum gleichzeitig verlassen?«
Mary überlegte. Bleiben konnten sie ja wohl kaum. Abgesehen von dem Risiko, dass noch mal jemand ins Büro zurückkommen könnte, würde man sie allmählich auf dem Fest vermissen. Ihn auch – angenommen, er war tatsächlich ein Gast. Gnädig neigte sie den Kopf. »Eine ausgezeichnete Idee«, murmelte sie und äffte seinen höflichen Ton nach.
Sie ging auf die Tür zu, die er stumm für sie aufhielt. Sie schlüpften auf den Gang hinaus und sah zu, wie er wieder abschloss und den Schlüssel einsteckte. Es war ein offizieller Türschlüssel. Wo hatte er denn den geklaut?
Er sah zu ihr hinunter und zog arrogant die Augenbrauen hoch. »Nun? Sollten Sie nicht lieber schnell in den Salon zurück?«
Mary unterdrückte den heißen Drang, ihm eine Ohrfeige zu geben. Mit der ganzen Würde, die sie aufbringen konnte, machte sie auf dem Absatz kehrt und ging schnell den Flur entlang.