3. Wie ich lernte, Diskriminierung zu sehen

Wie afrikanischer Feminismus mich sensibilisierte

Bis kurz vor der Revolution von 1989 kannte ich nahezu keine Person, die rassismus- oder sexismuskritisch war. Mehr noch, diese Worte gab es in der Welt, aus der ich stamme, nicht. «Die Frau» galt als gleichberechtigt. Rassismus wurde wegerklärt. Gesprochen wurde von Faschismus (mit Blick auf den Nationalsozialismus) und dann, nach 1990, von «Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit». Dabei geht es ja gar nicht um «Ausländer» oder «Fremde». Denn Rassismus trifft in Deutschland geborene Schwarze oder Muslim*innen ebenso wie Geflüchtete. Und auch «Feindlichkeit» greift letztlich zu kurz. Die Winnetou-Liebe der Deutschen ist ja erst mal nicht feindlich gemeint. Im Kern aber verschleiert die Winnetou-Erzählung die Feindlichkeit, mit der Europas Kolonialismus Indigenen Menschen begegnete. Dieser erfand in den Amerikas lebende Menschen als Teil der Natur, was beinhaltete, dass ihnen das vollwertige Menschsein abgesprochen wurde. Als Kind sah ich das nicht. Ich las alle Winnetou-Romane mehrfach. Wurde einer der Filme ausgestrahlt, saß ich voller Glück vor dem Fernseher. Denn mein Vater saß neben mir, und die Filme machten ihn weich und zugänglich. Spielte ich allein oder mit Freund*innen, liebte ich Rollenspiele. Ich war Winnetous Schwester, die gegen die «bösen Weißen» kämpfte. Wörter wie «kulturelle Aneignung» des antikolonialen Widerstandes kannte ich noch nicht. Auch konnte ich damals nicht sehen, dass sich Karl Mays Erzählung des Winnetou-Widerstandes niemals gegen Kolonialismus und dessen Verdrängung Indigener Menschen an sich richtete. Wenn ich Winnetous Schwester spielte, wurde ich immer von den bösen Weißen gefangen genommen und dann von Winnetou und Old Shatterhand befreit. Mir fiel nicht auf, dass ich mich dabei mit der passiven Frauenrolle begnügte. Und dass ich wohl doch nicht so gleichberechtigt war, wie die DDR behauptete, wurde mir erst langsam bewusst.

Seit ich 14 war, gehörten sexuelle Belästigungen zu meinem Alltag. Männer kommentierten meine Brüste. Sie fassten sie an. Ich glaube, ich wartete auf Winnetou, einen Bruder, der mich beschützen würde. Er kam nicht. Und dass ich mich allein schützen könne, daran glaubte ich nicht. Hilflosigkeit ist ein starkes Gefühl. Dennoch schämte ich mich. Ich schämte mich sogar dafür, unter den Blicken und Griffen zu leiden. Ich dachte, ich sei einfach nur überempfindlich. Mit 21 hatte ich bereits eine Vergewaltigung und mehrere Vergewaltigungsversuche überlebt. Einmal konnte ich einen Vergewaltiger aus dem Tunnel auf die Straße locken. Es war nachts, und zum Glück stand dort ein anderer Mann. Den bat ich um Hilfe. Doch er meinte, dass ich das schon selbst lösen müsse. Ein anderes Mal hatte ich mich mit einem guten Freund im Pirin-Gebirge verlaufen. Es dämmerte, als wir einen Schafhirten sahen. Wir fragten ihn nach dem Weg, wie ich dachte, und er verlangte als Gegenleistung, dass ich ihm beim Masturbieren zuschaue. Der angebliche Freund von mir sagte, dass das klar ginge. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde. Ich erduldete auch das. Ein anderes Mal wurde ich entführt. Als ich wegrennen wollte, bat mich eine Freundin von mir, das nicht zu tun. Sie könne nicht mitlaufen, weil sie Asthma habe. Ich blieb also im Auto. Doch bei der nächsten Gelegenheit sprang die Freundin von mir aus dem Auto, ohne mich darauf vorzubereiten. Als ich begriff, dass sie raus war, war das Auto schon losgefahren – und ich musste unter Lebensgefahr flüchten. Den Schmerz, den diese Erfahrungen in mir schreien ließen, stopfte ich in meinen Körper. Und inmitten dieses Traumas verlor ich meinen Kontakt zu ihm und akzeptierte sexuelle Gewalt als Teil meiner Normalität. Fast schon absurderweise schloss es ein, meinen Körper männlichen Schönheitsvorstellungen anzupassen. Wenn mir Männer nachpfiffen, versuchte ich, das als Kompliment aufzufassen, statt die Angst zuzulassen.

Ich wurde rassistisch und sexistisch sozialisiert. Das hat sich erst mal völlig unabhängig von meinem Wollen und Bemerken vollzogen. Bis ich aufwachte. Eigentlich wachte ich nicht auf. Ich wurde geweckt. Als ich zu studieren begann, sah meine Freundin Grit, dass ich ein Mieder trug, um meinen Körper zu modellieren, und hielt eine feministische Brandrede, die mich für immer prägte: Dein Körper gehört dir und nicht den Schönheitsidealen. Frauen sollen sich dem Hausfrau- und Muttersein fügen, doch das ist nichts als eine sexistische Erwartung. Das erste Mal in meinem Leben konnte ich das Grummeln, das ich der Erziehung meiner Eltern leise entgegensetzte, in etwas übersetzen, dass ich wollte: Ich möchte Feministin sein. Ohne Korsett und als Aktivistin, die sich der von meinen Eltern auferlegten Pflicht entledigte, das Existenzrecht daraus zu ziehen, Ehefrau und Mutter zu sein. Dieser neue Teil in mir bekämpfte die Hilflosigkeit und suchte nach Sicherheit für meinen Körper, den ich nunmehr hinter schludrigen und befleckten Sachen zu verstecken begann – sowie nach Visionen, die große Träume zuließen.

1987 luden mich, wie bereits erwähnt, die beiden in Ost-Berlin lebenden Kommunistinnen Hanna Behrend und Sabine Nathan ein, an ihrem feministischen Lesekreis von Arbeiter*innenliteratur teilzunehmen. Wir diskutierten patriarchalische Herrschaft, und ich konnte erstmals hinter die Kulissen des Patriarchats schauen: Als Herrschaft des Mannes stützt es sich auf ein Weltbild, das Fortpflanzung zum Maß aller Dinge erhebt. Frauen seien von Natur aus dazu bestimmt, Gebär-Gefäße zu sein, während der Mann der Schöpfer sei. Und da Frauen nun mal das ‹Haus der Fortpflanzung› wären, könnten und müssten sie auch zu Hause bleiben, um sich um Kinder und Haushalt zu kümmern. Der Mann müsse dies nicht, denn er sei ja dazu bestimmt, den öffentlichen Raum zu gestalten. Entsprechend müsse er Frauen auch aus diesem fernhalten und sei als eigentlicher Erzeuger und Alleinverdienender auch der Vormund der Familie. Diese (wirtschaftliche) Abhängigkeit, die sich als «Fürsorge» tarnte, galt es für die Frau zu verdienen. Sie solle daher gehorsam und treu sein sowie körperlich attraktiv, um die Lust des Mannes anzuregen und den Motor der Fortpflanzung in Gang zu halten. Umgekehrt schließt das ein, dass Männer es als ihr Recht ansehen, über Frauen und ihre Körper verfügen zu können. In der eigenen Familie. Aber das strahlt auch in die Gesellschaft aus. Das ist eine zentrale Ursache für ein Selbstverständnis von Männern, Frauenkörper auf der Straße kommentieren und bewerten zu können, und diese Grundkonstellation bildet auch ein Fundament für sexuelle Belästigung und Vergewaltigung. Interessant war für mich, dass die relative wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen in der DDR gar nichts an sexistischer Gewalt geändert hatte, was ja eben bewirkt hatte, dass ich selbst mit meinem Schmerz inmitten dieser Geschichte stand. Ich verstand aber auch, dass das, was mir geschehen war, nicht aus Zufall passierte. Nicht, weil ich am falschen Ort war. Nicht, weil ich einen Minirock trug. Sondern weil das Patriarchat sich die Welt genau so gebaut hatte. Diese Erkenntnis führte bei mir zu einer Empörung, die Wissensdurst erzeugte.

Ich las Immanuel Kant und Jean-Jacques Rousseau und verstand erstmals, dass die revolutionäre Parole «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» wirklich so gemeint war. Dass sie nur für die Rechte von Männern galt und dabei Frauen ausschloss. Sie standen ein für die Überzeugung, dass Frauen gar kein Recht auf Rechte hätten und es Unrecht sei, dies einzufordern: Es sei «töricht», schreibt Jean-Jacques Rousseau in Émile ou de l’éducation (1762), «über den Vorrang oder die Gleichberechtigung der Geschlechter zu streiten.» Vollkommenheit der Gesellschaft sei nur zu erlangen, wenn akzeptiert werde, dass allein Männer vernunftbegabt seien. Und auch Gerechtigkeit lasse sich nur so erreichen. Immanuel Kant bringt dies in «Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen» (1764) wie folgt auf den Punkt: «Denn es ist hier nicht genug sich vorzustellen, daß man Menschen vor sich habe, man muß zugleich nicht aus der Acht lassen, daß diese Menschen nicht von einerlei Art sein.» Mit anderen Worten: Da Frauen Männern unterlegen seien, wäre es ungerecht, ihnen die gleichen Rechte zuzugestehen. Um zu versinnbildlichen, warum dies absurd sei, sagt Kant, dass Frauen, die Griechisch lernen oder die Gesetze der Mechanik erörtern wollen, dann doch gleich auch noch Bärte tragen könnten.

Zwar gab es seit der Antike immer Nischen, in denen Frauen, vor allem aus reichen Familien, auf basale Bildung Zugriff hatten – im privaten Unterricht zu Hause, in Klöstern oder Schulen. Letztere waren ab dem 13. Jahrhundert für Mädchen zugänglich und ein Privileg wohlhabender Familien. Doch selbst diese investierten in eine grundständige Schulbildung von Mädchen nur zaghaft. Zwar gab es ab dem 16. Jahrhundert erste Modelle einer Schulpflicht für Mädchen; doch das waren absolute Ausnahmen. Mary Wollstonecraft schrieb in A Vindication of the Rights of Women (1792) über Shakespeares fiktive Schwester Judith, die keinen Zugang zu Bildung hätte haben dürfen. Immer wieder las ich diese Passage und weinte. Die Welt hatte und hat so viele Probleme. Da ist es doch völlig absurd, nicht die Kompetenzen aller nutzen zu wollen. Wieso sollte es Sinn machen, auf alle Judiths und Obiomas zu verzichten – in der Literatur, in der Wissenschaft, in der Politik?

Wollstonecraft war in ihrer Zeit revolutionär, in meinen Augen aber moderat. Wie andere Feminist*innen ihrer Zeit trat sie für ein Recht auf Bildung für Frauen ein, allerdings wohldosiert und angepasst an die Rolle von Ehefrau und Mutter. Genau das leistete die basale Schulbildung, die ab dem 18. Jahrhundert Mädchen zugänglich wurde. In den Generationen nach Wollstonecraft wurde Bildung für Frauen losgelöst von diesen Rollen gefordert. Auch wenn einzelne Frauen ab dem 18. Jahrhundert Zugang zu Universitäten hatten, wurde dort das patriarchalische Männer-only-Muster erst ab dem frühen 20. Jahrhundert mehr und mehr aufgebrochen. Parallel dazu erstritten Suffragetten das Wahlrecht für Frauen. Das Wahlrecht war für mich persönlich zunächst diktatorisch und nicht patriarchalisch beschnitten worden und nach 1989 dann uneingeschränkt zugänglich. Bildung und Arbeit wiederum waren für mich selbst keine Baustellen. Jedenfalls dachte ich das. Denn eigentlich hatte ich mich dem Berufswunsch meiner Eltern gebeugt, weil sie mir eine Vereinbarkeit von Arbeit und Mutterschaft abverlangt hatten. Wohl deswegen hatte mich Wollstonecrafts feministische Streitschrift so ergriffen. Für den zeitgenössischen Feminismus, der nach «Männerhass» klang, war ich aber noch nicht reif. Als ich das so benannte, schlug mir Hanna Behrend vor, afrikanische Feminist*innen zu lesen. Immer wenn sie nach London reiste, brachte sie mir fortan einen Roman von Buchi Emecheta oder Flora Nwapa mit. Tatsächlich fand ich dort viele Antworten auf meine Fragen, wer ich sein dürfe in dieser Welt, als Frau. Vor allem aber fand ich eines: Feminismus sagte Frau und meinte weiße Frauen, und zwar ohne dies so zu benennen. Wollstonecraft schrieb von Frauen als «Sklaven der Welt», ohne über versklavte Frauen zu reflektieren. Die Forderung nach dem Recht für Frauen, arbeiten zu dürfen, übersah, dass versklavte Frauen und Arbeiter*innen bereits arbeiteten, und zwar unbezahlt oder schlecht bezahlt und unter unwürdigen Bedingungen. Das alles war mir gar nicht aufgefallen. Afrikanische Feminist*innen schubsten mich zu dieser Erkenntnis. Und sie veränderte mein Leben für immer.

Ich hatte verstanden, dass Feminismus für verschiedene Zeiten und Räume etwas anderes leisten musste. Und deswegen hatten Feministinnen of Colour einen Schwarzen Feminismus, Womanismus, Intersektionalität begründen müssen. Ihre Texte wollte ich lesen. Und über diese schreiben. Ich ging in die afrikawissenschaftliche Abteilung der Staatsbibliothek und fand dort rassistische Texte als Meterware vor. Umgekehrt erlaubte mir die Bibliothekszensur der DDR keinen Zugriff auf westliche Zeitschriften und Verlage. Nachdem ich meine Diplomarbeit zur afrikanischen Frauenliteratur zunächst unter DDR-Studienbedingungen notgedrungen ohne jede Sekundärliteratur erarbeitet hatte, musste ich nach meinem ersten Besuch einer Westberliner Bibliothek, in deren freiheitliche Präsenzregale ich mich sofort verliebte, meine Diplomarbeit noch mal ganz von vorne schreiben. Simone de Beauvoirs berühmte Formel, dass eine Frau «nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht» werde (Le deuxième sexe, 1949), war für mich in dieser Phase ebenso eine wichtige Lektüre wie Judith Butlers Gender Trouble (1990). Ich begann, die Wechselwirkung zwischen biologischem Geschlecht einerseits und sozialen Prägungen samt dazugehöriger Konstrukte und Stereotype andererseits besser zu sehen. Zugleich verstärkte sich jetzt mein Verständnis für das Einfordern von Intersektionalität noch mal neu. Denn dass der Sozialisationsprozess einer weißen Frau in Deutschland sich von dem einer Nigerianerin unterscheidet, musste eben auch einschließen, rassismuskritisch auf meine eigene Sozialisation und Privilegien zu schauen. Inmitten dieser Entdeckungsreise traf ich dann auf mich bewegende nigerianische Feministinnen wie Obioma Nnaemeka oder Chikwenye Ogunyemi. Letztere war u.a. auch eine Aktivistin gegen Klitoris-Beschneidungen von Frauen in Nigeria. Als sie während einer Lesung im Berliner Literaturhaus darauf angesprochen wurde, ob Beschneidungen nicht barbarisch seien, sagte sie: «Nein, das ist viel komplexer und tief in unserer Lebensweisheit verwurzelt.» Nach der Veranstaltung fragte ich sie, warum sie das gesagt habe, obwohl sie doch selbst gegen Beschneidungen in Nigeria kämpfe. Ihre Antwort saß: «Weil ich mir von euch nicht diktieren lassen will, wie und wogegen ich kämpfe.» Das war mir eine wichtige Lektion: Jeder Blick über den eigenen Tellerrand und Richtung afrikanischer Länder muss immer auch in den Blick nehmen, den Spezifika afrikanischer Gesellschaften gerecht zu werden. Um das besser zu verstehen, wollte ich nunmehr zusätzlich zu meinem regulären Studium Afrikawissenschaften studieren. Das war zuvor nicht möglich gewesen, weil die sozialistische Planwirtschaft nur drei Studierende pro Jahr zuließ und die SED-Diktatur dafür sorgte, dass dies staatstreue Kader waren. Das spiegelte sich jetzt auch in der Lehre, die größtenteils ebenso SED-affin wie rassistisch war. Von afrikanischem Feminismus keine Spur. Weil mich aber das Interesse am afrikanischen Feminismus nicht losließ, ging ich nach London, an die School for Oriental and African Studies.

Wie ich in London meinem Rassismus begegnete

Unmittelbar davor, im Juli 1990, machte ich meine Interrail-Reise, während der ich in Edinburgh bestohlen wurde. Ohne jeden Cent in London angekommen, traf ich einen Schwarzen Wohnungslosen, der immer auch mal bei Bekannten schlafen konnte. Da ich ihn begleiten durfte, gelangte ich in Londoner Wohngegenden, in denen ich fast immer die einzige Weiße war. Diese Londoner Segregationsdemografie kannte ich zwar aus den Romanen Buchi Emechetas, wie In the Ditch (1972) oder Second Class Citizen (1974). Hier erzählt sie, wie sie zwei Jobs erledigen muss, um sich wenigstens die Miete in einem Grenfell Tower in einer sehr unwirtlichen Gegend leisten zu können und sich und ihre Kinder zu ernähren. Doch als ich erstmals eine Wohnung im Grenfell Tower betrat, war das eine ganz andere Hausnummer. Der Wind pfiff durch alle Fenster und konnte doch nicht den starken Antiinsekten-Chemie-Geruch vertreiben. Noch nie hatte ich so konkret mit eigenen Augen gesehen, wie rassistische Diskriminierung und kapitalistisch erzeugte Armut einander befeuern. Gleichzeitig schlug mir in diesen Vierteln sehr viel Ärger entgegen. Ich wurde als Weiße angefeindet, und das schockierte mich. Denn ich selbst fühlte mich längst nicht als weiß. Ich war doch kein Wessi! Und ich solidarisierte mich doch mit den nigerianischen Feministinnen und nicht mit den britischen – und über meinen persönlichen Part in kultureller Aneignung hatte ich trotz der Schwarzen Kritik am weißen Feminismus noch immer nicht ausreichend nachgedacht. Mehr noch: Auch über mein Weißsein hatte ich noch nie reflektiert. Ich hatte immer die rassistisch Diskriminierten «bedauert» und mich dabei in Paternalismus geübt, statt über meine eigene Rolle darin nachzudenken. Für mich war ich die Gute. Daher fühlte es sich gut an, wenn mein Reisebegleiter zu jenen, die sich über mich empörten, sagte, dass ich keine richtige Weiße sei, weil ich aus der DDR käme und selbst arm sei. Doch das stimmte nicht. Denn als weiße Person hatte ich längst Zugriff auf weiße Privilegien und Ressourcen bekommen. Und weil ich mein Weißsein nie reflektiert hatte, hatte ich auch noch nie darüber nachgedacht, was ich mit Rassismus oder Kolonialismus zu tun habe und wie sie sich auf meine Weltbilder und mein Handeln auswirkten.

Das sollte sich gleich zu Beginn meines Studiums im Herbst 1991 an der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) auf drastische Weise zeigen. An meinem ersten Tag an der SOAS war ich sehr aufgeregt. Eine Ossi allein in London. Um mich zu registrieren, stand ich fast zwei Stunden an. Als ich endlich dran war, fragte der Admission Officer nach einem Dokument, das ich aber nicht finden konnte. Er war sehr unterstützend und bot an, mit dem Chef der Abteilung abzuklären, ob oder wie ich ohne das Dokument immatrikuliert werden könnte. Er war schon ein paar Meter weg von mir, als ich das Dokument dann doch noch in meinem Ordner entdeckte. Um ihm das mitzuteilen, rief ich ihm nach. Doch wie sollte ich ihn adressieren? Ich kannte ja seinen Namen nicht. Natürlich hätte es ein «Hi, Sir» absolut getan. Mein Englisch aber war grottig. Und da ich zu der Zeit gerade mit der Frage rang, ob ich noch ein «Mädchen» oder schon eine «Frau» sei (was ich partout nicht sein wollte), führte dies dazu, dass ich die Person, die ich als jünger einschätzte, als ich es war, mit «Junge» ansprechen wollte. Das übersetzte ich in «boy»! Ich erinnere mich noch, wie der Raum, der zuvor mit Stimmengewirr gefüllt war, in eisigem Schweigen erstarrte. Alle schauten mich an. Der Mann kam, demonstrativ mit den Füßen stampfend, auf mich zu. Was war passiert? Der Immatrikulationsbeauftragte war ein Schwarzer und «Boy» ein Begriff, mit dem in der Plantagensklaverei die versklavten Männer rassistisch abgewertet wurden. Das wusste ich nicht. Machte es die Situation weniger diskriminierend, mich weniger weiß? Nein! Ich kann mich noch erinnern, wie dankbar ich war, dass der Immatrikulationsbeauftragte plötzlich in seinen stampfenden Schritten innehielt und dann langsam und bestimmt zu mir sagte: «Boy ist ein rassistisches Wort, das erwachsenen Männern die vollwertige Menschlichkeit und Vernunftfähigkeit abspricht.» Ich glaube, er hatte bemerkt, dass ich das tatsächlich nicht wusste. Dennoch hatte ich ihn diskriminiert, und alle hatten auch ihn deswegen angestarrt. Und dann musste er auch noch die Energie aufbringen, selbst mitten im Rampenlicht stehend, mich darüber aufzuklären.

An diesem Tag begann meine Reise, mich auch meinem eigenen Rassismus zu stellen. Weil ich zu wenig wusste, hatte ich ein rassistisches Wort benutzt. Ob ich das nun wollte oder nicht, war dabei sekundär. Das motivierte mich, unbedingt verstehen zu wollen, wie Rassismus wirkt und was er mit mir macht. Ich wollte, dass es mir nie wieder passiert. Das wiederum konnte ich nur glauben, weil ich noch nicht verstanden hatten, wie tief Rassismus sich in jede weiße Biografie einschreibt.

In der Bibliothek der SOAS standen neben den rassistischen Büchern, die ich schon aus der Ostberliner Staatsbibliothek kannte, auch Regale voller Bücher von Theoretiker*innen der Dekolonisierung: Edward Said, Frantz Fanon, Audre Lorde, Toni Morrison, Obioma Nnaemeka, Ngugi wa Thiong’o. Was ich hier las, stellte alles, was ich vorher wusste, gründlich auf den Kopf. Zu den neu gewonnenen Erkenntnissen zählte etwa: In afrikanischen Gesellschaften gab es staatliche Strukturen; bestehende Bildungssysteme und Sprachen wurden verboten und durch europäische Sprachen und Schulsysteme ersetzt; Menschen wurden ihrer Ressourcen, Arbeitskraft und Leben beraubt. Die dadurch ermöglichte Kapitalakkumulation befeuerte die Industrielle Revolution, die wiederum den kapitalistischen Aufschwung ermöglichte. Der Reichtum des Westens wuchs, während die kolonisierten Länder wirtschaftlich und demografisch ausbluteten. Das geschah so nachhaltig, dass sich beides bis heute auswirkt. Die Armut in Afrika hat nichts mit der Faulheit der dort lebenden Menschen zu tun. «Faulheit» wurde jenen vorgeworfen, die der kolonialistischen Ausbeutung Widerstand entgegensetzten. Es gibt Regierungen afrikanischer Länder, die korrupt sind und zu Recht von den jeweiligen Gesellschaften kritisiert werden. Doch gerade Europa sollte immer auch im Blick behalten, dass Kolonialismus ohne Gewalt und Diktatur nicht zu haben war. Es gab erste Konzentrationslager und Eugenik. Deutschland hat 1904 in Namibia (damals Deutsch-Südwestafrika) einen Genozid an den Herero und Nama begangen.

Wieso wusste ich das alles nicht? Als ich mir dieses Wissen erschloss, erschütterte das mein ganzes bisheriges Ich. Wie konnte ich all das nicht wissen? Wie konnte ich inmitten meiner umfänglichen Lektüren von Marx und Engels nicht hinter die Kulissen vom Primat der Klassenfrage geschaut haben? Wie konnte ich mitten in der antifaschistischen DDR diesen Grundpfeiler des Kapitalismus übersehen? Wie konnte ich meine Diplomarbeit zu feministischer Literatur in Nigeria schreiben, ohne zu merken, dass ich nicht ihre Verbündete war, sondern zur Struktur gehörte, die Schwarze Frauen übersah und diskriminierte? Ich könnte mich jetzt dahinter verstecken, dass ich «Opfer» der weißen Kanonbildung war, welche Schwarzen Autor*innen keine angemessenen Regalplätze einräumt. Aber nein. Der Opferstatus würde mich jeder Verantwortung entheben und übersehen, dass es am Ende eben doch nur meine eigene Ignoranz war, gar nicht nach diesen Texten gesucht zu haben, die dazu führte, dass ich sie nicht kannte. Das habe ich also auch selbst zu verantworten. Ich glaube, ein Teil dieser Ignoranz war auch von dem Wunsch geleitet, diese Gräueltaten nicht zu sehen. Denn sie waren schmerzlich. Und von dem Wunsch, mich davon so abzuspalten, als hätte diese Geschichte nichts mit mir zu tun. Und genau deswegen wiederholte ich, trotz meiner kritischen Fragen an mich selbst, den Fehler jetzt schon wieder. Zwar las ich Texte postkolonialer Theoretiker über den Kolonialismus. Kolonialismus aber war, so glaubte ich, so weit weg, dass er mich nicht betraf. So konnte ich es mir einfach machen und erst mal auf die Schandtaten meiner Vorfahren schauen, um mich im Glauben zu lassen, dass ich doch eine bessere (will sagen nicht-rassistische) Weiße war.

Wie ich an der Humboldt-Universität Rassismuskritik begegnete

Mit dieser weißen Verleugnungsstrategie im Gepäck begann ich 1994, an der Humboldt-Universität zu Berlin in den Afrikawissenschaften zu lehren. Als diejenige, die nunmehr viele postkoloniale Theoretiker und Schwarze Feministinnen gelesen hatte, empörte ich mich über weiße Kolleg*innen, die das noch nicht getan hatten. Nicht einfach nur, weil sie die Lektüre als nicht wichtig erachteten. Sondern weil sie noch immer rassistische Inhalte (wie etwa, dass es Menschen«rassen» gäbe) lehrten und sich darin nicht mal ansatzweise erschüttern ließen. Das machte es mir möglich, mich so bequem in meinen Antirassismus-Sessel zu setzen, dass ich Rassismus in meinen eigenen Seminaren übersah. In vielen Texten, die ich lehrte, wimmelte es nur so von rassistischen Begriffen. Die meisten davon benutzte ich zwar selbst nicht mehr. Doch spätestens in Zitaten fanden sie auch in meinen Seminaren Raum.

So kam es, dass eine weiße Studentin, die frisch aus dem Abitur kam, in ihrem Vortrag mehrfach das N-Wort verwendete. Im Zitat, aber auch so. Mir war unbehaglich. Ich wollte einschreiten, wusste aber nicht, wie. Vor allem hatte ich Angst, der weißen Studentin weh zu tun. Mir fiel aber gar nicht auf, dass ich dadurch in Kauf nahm, dass anwesende Schwarze Studierende diskriminiert wurden. Deswegen musste eine afrodeutsche Studentin meine Aufgabe übernehmen. Sie unterbrach den Vortrag und bat darum, dass keine rassistischen Wörter mehr verwendet werden. Die weiße Studentin begann zu weinen. Sie sei doch keine Rassistin! Ich verstand ihren Schmerz, statt zu verstehen, dass ihre Zurückweisung der Kritik die Situation nur noch verschärfte. Sie hätte sagen können: Das tut mir leid, das wusste ich nicht. Sie hätte sogar nach einer Begründung fragen können. Doch indem sie es einfach nur von sich wies, blieb der Rassismus im Raum, sogar noch mit mehr Wirkmacht. Das alles aber sah ich nicht. Alles, was ich sah, waren die Tränen der weißen Studentin. Und nur derer nahm ich mich an. Als Verbündete der white tears wandte ich mich an die afrodeutsche Studentin. Ich sagte, dass die weiße Studentin die Wörter doch nicht rassistisch meine. Daraus entbrannte eine Auseinandersetzung, in der alle anderen Studentinnen mir recht gaben. Sie alle waren weiß wie ich. Die Schwarze Studentin stand ganz allein da. Die Gewalt, die ihr durch mich widerfuhr, zwang sie schließlich aus dem Raum. Selbst das empörte mich noch. Das sei doch eine übertriebene Reaktion! Um mich zu vergewissern, dass ich richtig läge mit meiner Empörung, fragte ich nach dem Seminar meine Freundinnen, also andere weiße Leute. Ich hatte nichts zu befürchten. Ich wusste, dass sie mir recht geben würden. Das taten sie auch. Die afrodeutsche Studentin aber forderte eine Aussprache mit mir ein. Davor hatte ich Angst. Dass sie wahrscheinlich viel größere Angst als ich hatte, weil ich ja in der Machtposition war, als Weiße und als Dozierende, verstand ich damals ebenfalls noch nicht. Ich fühlte mich sogar verletzt davon, dass sie zur Aussprache eine andere Person zu ihrem Schutz mitgebracht hatte. In dem Treffen aber fand ich zu einem Teil von mir, der es wagte, den selbstgenähten «Ich bin nicht rassistisch, weil ich nicht rassistisch sein will»-Tarnmantel durchlässiger werden zu lassen. Ich hörte zu. Traf neue Argumente. Und begriff: ich hatte rassistisch agiert. Denn ich hatte Wörter verteidigt, um deren Rassismus ich wusste; und beim Ausüben meiner Fürsorgepflicht als Lehrende konzentrierte ich mich auf nur eine Person – und zwar die, die darauf bestand, rassistische Begriffe zu benutzen, weil sie dies doch nicht rassistisch meine. Dies zu erkennen, war mir unangenehm. Ich schämte mich, und das war sehr schmerzhaft für mich. Allein das aber zeigt ja, dass ich noch immer nichts begriffen hatte. Denn den eigentlichen Schmerz hatte ich ja nicht erfahren, sondern erzeugt. Mir war sehr daran gelegen, dass die afrodeutsche Studentin meine Entschuldigung akzeptierte. Doch auch dies zeigte, dass ich nichts begriffen hatte, sondern schon wieder übergriffig war. Auch das wurde mir erst allmählich klar. Ich habe der afrodeutschen Person durch mein Verhalten aufgezwungen, mich auszubilden. Und nur das schickte mich auf den Weg.

In meinen Seminaren galt fortan, dass rassistische Wörter nicht ausgesprochen werden dürfen. Auch nicht in Zitaten, weil sie auch dort die Gewalt, die sie in sich tragen, reproduzieren. Um das einzufordern, musste ich aber argumentieren können, warum dieses Wort rassistisch sei. Deswegen setzte ich mich mit den Herkünften und Wortgeschichten auseinander. Um diese aber verstehen zu können, das wurde mir nun klar, musste ich mich in die Geschichte des Kolonialismus und Rassismus einlesen und verstehen, wie Letzterer funktioniert. Dabei halfen mir die berühmten W-Fragen.

Wann wurden denn «Rassen» erfunden? Das begann im 15. Jahrhundert. Warum dann? 1492 ist das Jahr, in dem Königin Isabella von Kastilien den Kampf um die Vorherrschaft auf der Iberischen Halbinsel für die katholische Kirche entschied, was dazu führte, dass jüdische und muslimische Menschen zwangsbesteuert, enteignet oder vertrieben wurden. Teile dieser Gelder investierte die spanische Krone in Kolumbus’ Reisen ab 1492, welche die entscheidende Zäsur für die europäische Eroberung und koloniale Besetzung der Welt sind. Um diese Gewaltprozesse zu legitimieren (also sich damit noch wohlfühlen zu können), wurde Indigenen Menschen und Afrikaner*innen das (vollwertige) Menschsein abgesprochen. Zugespitzt: Wer «Affe» und «Kannibale» sei, sei keines Menschenrechts oder Mitgefühls würdig. Wer nicht Mensch ist, hat auch keinen Anspruch auf Humanismus. Um das umzusetzen, jetzt beginnt das Wie?, wurden sie als «Natur» statt «Kultur», als tiernah und vernunftsfern imaginiert und dem weißen Christentum als das «unterlegene Andere» gegenübergestellt. Gebündelt wurde dies durch die Erfindung biologischer Menschen«rassen». Diese wurden zunächst durch Erfindungen von «Hautfarben» und später, tiefer in den Körper eindringend, durch andere biologistische Kartierungen des Körpers visualisiert. Das lief auf die ebenso simple wie fatale Kernaussage hinaus, dass die «weiße christliche Rasse» allen anderen überlegen sei. Zum Wie? gehört das Wer? Wer tat das? Päpstliche Bullen, royale Dekrete und später dann zwischenstaatliche Verträge gaben ebenso wie damit einhergehende Handelsabkommen einen pseudo-rechtlichen Rahmen dafür, dass sich Europa nahm, was es wollte, und dabei nur auf Interessen anderer europäischer Kolonialmächte Rücksicht nahm. Doch damit sich Weiße dabei im Recht fühlen konnten, wurden Erzählungen komponiert. Der abolitionistische Dichter William Blake betont, dass das koloniale Projekt ohne die Macht von Wissenschaft und Literatur nicht realisierbar gewesen wäre. Indem Theologie und später Pseudowissenschaften wie die Phrenologie oder Eugenik «Rassen» erfanden, die Afrikaner*innen Tieren gleichsetzte, und weil Autoren wie Daniel Defoe etwa in Robinson Crusoe (1719) dies in suggestive Erzählungen übersetzten, quälte es Europa nicht, Schwarze zu quälen. Die Summe der W-Fragen also zeigt: Rassismus ist weiße Vorherrschaft. Denn Weiße erfanden ‹Rassen›, um weiße Überlegenheit zu postulieren und so weiße Herrschaft und Gewalt sowie das Innehaben weißer Macht und Privilegien zu legitimieren.

Als mir das bewusst wurde, verstand ich, dass ich von Rassismus betroffen bin. Betroffen war ich schon zuvor im Sinne von: Rassismus bekümmert mich, er macht mich traurig. Doch nun erkannte ich auch, dass ich «betroffen» im Sinne von individueller Involviertheit war. Viele denken, dass von Diskriminierung nur betroffen ist, wer diskriminiert wird. Auf diese Weise wird dann Diskriminierung auf ein Problem jener reduziert, welche diese Diskriminierung erfahren. Doch seit wann geht Diskriminierung nur jene etwas an, die darunter zu leiden haben, und nicht auch jene, die sie ausüben? Während ich unter der Belastung sexistischer Erfahrungen leben muss und als Ostdeutsche diskriminiert werde, agiere ich aus weißen Herrschaftsverhältnissen heraus. Deswegen verstehe und spreche ich die Sprache des Rassismus, schaue ich durch seine Brille. Doch nicht nur habe ich Rassismus unbewusst internalisiert. Er stattet mich mit Macht und Privilegien aus – ob ich das nun will oder nicht. Ich profitiere von ihm.

Weil es mir schwerfiel, die damit verbundene Beschämung auszuhalten, entwickelte ich für mich die Strategie, Rassismus dadurch besser zu verstehen, dass ich die Dynamiken zwischen Macht/Norm versus Diskriminierung in die Welt meiner eigenen Erfahrungen als sexistisch diskriminierte Person übersetzte – und dann umgekehrt meine Wahrnehmung von Männern zurück aufs Weißsein übertrug. Das half. Ich begann, Rassismus zu sehen. Meinen Rassismus zu sehen. Wie bei einer Dominokettenreaktion ergab nun jede Erkenntnis über Rassismus eine neue. Das war ein harter Prozess, der mit Scham verbunden war und immer wieder dem entsprechenden Schuldgefühl ein «Ja, aber» entgegenzusetzen suchte. Dennoch drangen diese schmerzlichen Fragen und notwendigen Reflexionsprozesse immer stärker zu mir durch.

Eine meiner ersten «Entdeckungen» war es, mich zu fragen, warum ich eigentlich denke, dass Christopher Kolumbus «Amerika entdeckt» hätte? Ich erinnerte mich an das Kinderlied «Ein Mann, der sich Kolumbus nannt» und schämte mich, den gewaltvollen Text immer geträllert zu haben: Der König sprach zu Kolumbus: «Eins fehlt noch unsrer Gloria. Entdecke mir Amerika!» Mal abgesehen davon, dass es eine Königin war und es den Namen «Amerika» vor 1492 gar nicht gab (er wurde erst 1507 geprägt, abgeleitet von Amerigo Vespucci) – wie kann man etwas «entdecken», das Menschen bereits bekannt ist? Das kann man nur, indem man dort lebenden Menschen das Menschsein abspricht, indem man sie als Teil der dort «entdeckten» Natur setzt. Das wiederum war Europas Weg, um ihnen ihren Rechtsanspruch auf ihr eigenes Land abzusprechen. Die gleiche aneignende Logik spricht aus «Neue Welt». Neu? Für wen? Nur für Europa (obwohl Wikinger Nordamerika längst kannten). Das Kinderlied quetscht diese komplexe koloniale Logik in wenige Zeilen, die chorusartig das rassistische Wort «Wilde» rezitiert, das genau diese Natursetzung der Indigenen Menschen in Szene setzt: Kolumbus sagte: «‹Guten Tag› … ‹Ist hier vielleicht Amerika?› Da schrien alle Wilden: ‹Ja› … Die W. waren sehr erschreckt… Und schrien all: ‹Wir sind entdeckt.» Diese vermeintliche Zustimmung der Indigenen Menschen ist eine gewaltsame Verleugnung kolonialer Gewalt. Das wird noch dadurch potenziert, dass diese auch noch als Sieg gefeiert wird – und zwar im sich ständig wiederholenden Refrain: «Gloria, Viktoria wide-wide-witt, juch-hei-ras-s. Gloria, Viktoria wide-wide-witt, bum, bum.» Menschen beider Amerikas bis heute etwa «Indianer» zu nennen, also den europäischen Irrtum vor sich herzutragen, scheint harmlos. Das ist es aber meines Erachtens nicht. Das Wort ist mit der obigen rassistischen Erzählung verknüpft, und für mein Empfinden verklärt und verharmlost sein heutiger Gebrauch eben diese.

Durch solche Reflexionen wurde mir die Wechselwirkung von konkreten kolonialistisch geprägten Wörtern und Rassismus bewusst. Wörter sind wichtige ideologische Pfeiler des Kolonialismus und Rassismus, und daher sehe ich sie auch als wichtige Schauplätze der kritischen Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Rassismus. Zwar würde es nicht ausreichen, rassistische Wörter zu überwinden, aber ohne eine solche Auseinandersetzung scheint mir Rassismus auch nicht besiegbar zu sein. Mehr noch: Wir sind das, was unsere Handlungen bewirken. Und jedes Handeln ist immer auch davon geprägt, wie wir miteinander und übereinander sprechen. Deswegen entscheidet sich immer auch bei den Wörtern, mit denen wir einander begegnen, wer wir sein können und werden. Deswegen begann ich, mich kritisch mit rassistischen Wörtern zu beschäftigen.

Da es keine Nachschlagewerke gab, auf die ich hätte zurückgreifen oder verweisen können, musste ein solches erarbeitet werden. Daher begründete ich ein Seminar zu diesem Thema, aus der eine Arbeitsgruppe erwuchs. Dort identifizierten wir rassistische Wörter. Und jede Erkenntnis über ein rassistisches Wort gab uns Fäden in die Hand, welche ein anderes Wort als rassistisch erkennbar werden ließ. Das war weder beliebig noch ein Fass ohne Boden. Entsprechend versuchten wir zu ergründen, Muster zu finden, die ein Wort zu einem rassistischen machen.

Wir erkannten bald, dass die meisten Wörter Wortneuschöpfungen sind oder es sich um Entlehnungen handelt – entweder aus dem Tier- und Pflanzenreich (wie etwa «Mulatte») oder aus der europäischen Frühgeschichte (wie etwa «Stamm»). Warum Neologismen oder Wortentlehnungen? Kolonialismus und Rassismus behaupteten, dass BIJPoC keine vollwertigen Menschen seien. So gesehen, konnte ihnen nicht zugebilligt werden, eigene politische, gesellschaftliche oder kulturelle Strukturen zu haben. So wurden Sprachen zu «Dialekten» degradiert und damit zu Leerstellen, welche Europa füllen konnte und vermeintlich auch «musste». Deswegen wurden lokale Begriffe einschließlich geografischer Termini oder gesellschaftlicher Selbstbezeichnungen ignoriert und durch neue ersetzt. Dabei konnten aber eigene Begriffe nicht auf kolonisierte Gesellschaften übertragen werden. Denn das hätte ja auch wieder bedeutet, dass die Gesellschaften gleichwertig seien. So kam es etwa dazu, dass alle Regierenden als «Häuptlinge» bezeichnet wurden – im Sinne von «Möchtegern-Haupt», denn das Suffix ‹-ling› ist immer abwertend (‹Emporkömmling›) oder verkleinernd gemeint: Ein Schmetterling etwa möchte schmettern, tut es aber nicht.

Die neuen Wortbildungen folgten zum einen dem Kultur-versus-Natur-Paradigma: Je mehr Natur, desto mehr der Kultur unterlegen, wobei die Kultur umgekehrt vermeintlich verpflichtet sei, die Natur zu «zähmen». So wurden etwa sämtliche Gesellschaften in Afrika, Amerika und weiten Teilen Asiens ohne Ansehen der konkreten politischen Form in Wörter wie «Stamm», «Naturvolk» oder «Wilde» gequetscht. Kolonisierte als «Natur» zu sehen, schloss ein, sie Tieren nah zu setzen. Dafür steht etwa «Mulatte», das sich vom portugiesischen Wort für Maulesel als nicht-fortpflanzungsfähige Kreuzung von Esel und Pferd ableitet. Genau in diesem Sinne soll es Menschen mit einem Schwarzen und einem weißen Elternteil als «wider die Natur» diffamieren. Wie hier sichtbar, stützten sich viele der rassistischen Wörter zweitens auf Hautfarbenkonstruktionen.

Schon in der griechischen Antike wurden Klimatheorien benutzt, um kulturelle und religiöse Unterschiede von Menschen auf Körper zu projizieren – um sie sehbar zu machen. Schwarz wurde dabei als ‹Hautfarbe› für ‹Aithiopia› (für Afrika minus Ägypten) gesetzt und damit verbunden, dass extreme Sonneneinwirkung Haut, Haare und Hirne austrockne. Genau das steckt im altgriechischen Wort für schwarz, ‹mauros› bzw. ‹mavro›, das sich bis heute im Wort ‹Mohr› fortschreibt. Ab 1492 wurde dies durch die christliche Farbsymbolik verstärkt und neu austariert. Denn nunmehr steht dem metaphorischen «Schwarz» als verdorben und monströs, wie es sich etwa ins «N-Wort» für versklavte Menschen einschrieb, die heile, göttliche Tugend des «Weiß» gegenüber, das sich das christliche Europa vermittels einer sehr abstrakten Farbgebung selbst auf den Leib schrieb. Im Kern bejahten alle diese Wörter, dass es ‹Menschenrassen› gäbe. Alle, die aus der einzig überlegenen ‹weißen Rasse› ausgegliedert wurden, werden durch sie verallgemeinernd und verabsolutierend abgewertet. Weil es zwar keine biologischen Menschen«rassen» gibt, wohl aber Rassismus, müssen diese sozialen Positionen auch benannt werden. Doch wie kann das funktionieren? Begriffe zu verwenden, die selbst eine rassistische Tradition haben, sind dafür nicht geeignet. Aus jahrzehntelangen Bürger*innenrechtsbewegungen heraus aber haben sich Begriffe etabliert, die rassistische Wörter widerständig wenden. Da dieser Widerstandskampf maßgeblich in den USA wurzelt und von dort geprägt wird, sind viele der Widerstandsbegriffe Anglizismen. Das trifft etwa auf People of Color zu. Es setzt dem rassistischen Wort «Colored» «People», also Menschen, voran und widerspricht damit der rassistischen Agenda, durch das C-Wort die Menschlichkeit der so bezeichneten Menschen in Frage zu stellen oder abzuschwächen. Heute wird oft von BPoC gesprochen, wobei B für Black im Sinne von afrikanischer Diaspora/Afrika steht. Gebräuchlich ist auch BIJPoC, I für Indigenous People/Indigene Menschen und J für Jews/Juden*Jüdinnen. Auch Weiße/Weißsein ist eine soziale Position. Allerdings die der diskriminierenden Machtposition. Um das zu markieren, schreibe ich weiß als Adjektiv kursiv. Diese Grunderkenntnisse rahmten das erste Glossar zu rassistischen Begriffen, das 2004 als Afrika und die deutsche Sprache erschien. Es listete Gründe für den rassistischen Gehalt eines Wortes und widerständige Begriffe auf, die stattdessen benutzt werden können.

Meiner neuen Expertise gemäß meldete ich mich bei wissenschaftlichen Vorträgen, die rassistische Begriffe in ihrem eigenen Sprechen über afrikanische Gesellschaften und Menschen benutzten, um das zu kritisieren. Es ging hier nicht mal um die Frage, ob rassistische Worte in Zitaten stehen bleiben sollen. Es ging um die eigene Wortwahl. Die meisten nervte das, und sie zeigten das auch. Am harmlosesten waren noch die augenrollenden «Die schon wieder»-Momente. Nicht selten wurde ich aufgefordert zu schweigen. Die Situation spitzte sich so zu, dass meine damalige Chefin es mir untersagte, Lehrveranstaltungen zu Rassismus anzubieten. Sie finde es nicht gut, dass «meine Studierenden» mit «meinen Thesen» «ihre Kurse» «störten». Andere sagten: «Lass uns doch lieber über Inhalte als über Worte sprechen.» Aber das waren doch Inhalte! Rassistische Wörter stehen stellvertretend für Rassismus, und folglich sind sie auch sehr geeignet, ihm nicht nur zu widersprechen, sondern auch seiner Wirkweise auf die Spur zu kommen.

Was nun ist Rassismus?

Als ich Fred d’Aguiars Roman The Longest Memory (1994) las, brach mein Herz in Tränen aus. Der Roman erzählt von einer karibischen Baumwollplantage, die dem Plantagen«besitzer» Mr. Whitechapel ebenso gehört wie die Arbeitskraft vieler versklavter Menschen. Mr. Whitechapels langjährigster Sklave Whitechapel spricht gleich zu Beginn des Romans, ohne zu sprechen. Ohne sprechen zu können. Er möchte sich nicht erinnern, und doch führt die Erzählstimme direkt in das still schreiende Trauma, das aus jeder Pore seines Körpers heraus ihn unerbittlich an das erinnert, was geschah: Als versklavter Mensch hatte er daran geglaubt, nur zwischen Gehorsam und Tod wählen zu können. Sein adoptierter Sohn Chapel (ohne «weiß» im Namen, aber das Kind des Aufsehers, der eine Schwarze Frau vergewaltigte) widersetzt sich dieser Unterdrückungslogik. Er liest Abolitionist*innen wie William Blake und flieht. Aus Angst, dass sein Sohn gefangen und zu Tode gefoltert werden würde, wendet Whitechapel seinen eigenen Überlebensmodus an. Er verrät seinen Sohn im Glauben, ihn dadurch retten zu können. Doch im Rassismus gibt es kein Pardon für falsch verstandene Vaterliebe. Chapel wird gefasst (während er es ohne den Verrat des Vaters in den freien Norden geschafft hätte) und von dem weißen Sohn des Aufsehers, also seinem Halbbruder, zu Tode gefoltert. Millionen von Menschen haben dieses Gewaltregime erlebt. Sojourner Truth spricht in ihrer bewegenden Rede «Ain’t I a Woman» (1851) über die Gewalt, die ihr widerfuhr, einschließlich der Tatsache, dass ihr fast alle ihrer zwölf Kinder weggenommen wurden, weil sie weiterverkauft wurden. Das geschah millionenfach. Und das Leid auf den Plantagen war nur die eine Seite des Black Atlantic.

Auf der anderen Seite wurden mindestens 18 Millionen Afrikaner*innen entführt und deportiert. Gestapelt wie Ware, entkleidet und entblößt, wurden sie über den Atlantik transportiert. Wer nicht gesund blieb oder rebellierte, wurde über Bord geworfen. Das war kein ökonomisches Minus, denn die «Ware» war so gut versichert, dass es sich manchmal sogar rechnete, alle Menschen über Bord zu werfen. Wer dieses Grauen, das völlig missverständlich und gewaltverharmlosend «Middle Passage» genannt wird, überlebte, wurde dann zum doppelten Preis verkauft – in ein Leben ohne jede Freiheit. Immer wieder. Nahezu über drei lange Jahrhunderte hinweg. Doch warum hat es die Mr. Whitechapels nicht geschmerzt oder wenigstens empört?

Abolitionismus begann, als die erste afrikanische Person versklavt wurde. Denn sie wehrte sich. Und sie litt. Doch die europäische Versklavung von Afrikaner*innen wurde nicht primär aus humanitären Gründen beendet. Natürlich wurden moralische Bedenken durchaus stärker, breiter und lauter. Vor allem aber waren dem industrialisierten Norden der USA sowie der jungen Industrienation England die Plantagen als zu überwindende Ökonomie ein Ärgernis. Für die industrialisierten Nationen rechnete es sich aber, die Erde zu besiedeln, um sich deren Ressourcen anzueignen. Und somit war das Verbot der Sklaverei weder das Ende des Kolonialismus noch des Rassismus. Stattdessen breitete sich Europa unter dem Banner des Imperialismus über fast 30 Millionen Quadratkilometer aus und eignete sich alle auf ihr lebenden Menschen an. Die Berliner Konferenz (1884/85) etwa teilte Afrika wie einen Kuchen auf und tränkte die Erde erneut mit dem Blut von Zwangsarbeit und Genoziden.

Neue «Rassentheorien» ergänzten «Hautfarbe» um weitere vermeintliche «Rassenerkennungsmerkmale» wie Skelette oder Schädel, verbunden mit der Behauptung, je größer das Hirn, desto intelligenter und entwickelter sei der Mensch. Das wurde dann «wissenschaftlicher Rassismus» genannt und schloss ein, dass die Aufklärung frühere theologische Auslegungen säkularisierte. Das der christlichen Farbsymbolik verpflichtete Schwarz versus Weiß wurde in Licht (wie in Aufklärung, Enlightenment, les lumières) versus Dunkelheit (vernunftsfern) übertragen. Und der Kolonisierungsgrundsatz, dass kolonisierte Völker missioniert werden müssten, wurde in die «Bürde des weißen Mannes», so Rudyard Kiplings gleichnamiges Gedicht von 1899, übersetzt, kolonisierte Völker «zivilisieren» zu müssen. Da diese als «vernunftferne Natur» jedoch niemals voll zivilisierbar seien, sei dies zwar vergebliche Liebesmüh, aber doch ebenso unvermeidbar wie ohne Gewalt nicht zu haben. Die ideologische Wendung zur christlich geprägten Zivilisationslüge griffen auch Antisemitismus und Antiziganismus gegen in Europa lebende Juden*Jüdinnen oder Rom*nja auf. Der Islam war bereits komplett als «uneuropäisch» ausgelagert worden, obgleich das Osmanische Reich sich auch über europäische Gebiete erstreckt hatte.

Ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert radikalisierte sich der Rassismus weiter und ging in einem sozialdarwinistisch geprägten Degenerationsrassismus auf: Durch ihre Missions- und Zivilisierungsarbeit seien Weiße so stark in Kontakt mit den anderen «Rassen» geraten, dass viele von ihnen bereits kontaminiert seien. Deswegen sollten sich «höhere Rassen» der niederen erwehren. Dabei drangen entsprechende biologistische Behauptungen entlang der neu entdeckten Genetik noch tiefer in den Körper hinein. «Rassen» wurden nunmehr auch an Blut und Genen festgemacht.

Im Nationalsozialismus wurden diese neu angelegten «Rassen»theorien in Nürnberg zu stählernen Gesetzen, und die Eugenik eskalierte zur «Euthanasie». Dies war der Rahmen für die nationalsozialistische Vernichtungsindustrie, die mehr als sechs Millionen europäische Juden und Jüdinnen sowie Hunderttausende Sinti*zze oder Rom*nja in ein singuläres Grauen völkischer Eliminierung sandte. Hinzu kamen vom anti-slawischen Rassismus geprägte genozidale Gewaltexzesse der SS und Wehrmacht in Osteuropa. Der Nationalsozialismus wurde durch die Alliierten zerschlagen. Doch Frankreich und Großbritannien blieben ebenso wie die Sowjetunion imperiale Kolonialmächte, die Widerstand gewaltsam unterdrückten und sich ideologisch weiterhin hinter Rassismus verschanzten. Entsprechend überlebte der Rassismus das Grauen von Auschwitz: in der südafrikanischen Apartheid, der US-amerikanischen Jim-Crow-Ära. Und Deutschland?

Die NSDAP wurde verboten und 1952 auch ihre Nachfolgepartei, die Sozialistische Reichspartei (SRP). Doch schon ab 1964 kam es wieder zur Gründung einer rechtsextremen Partei, der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). Später kamen andere Parteien wie die Die Rechte oder Der III. Weg hinzu. Doch während bis 1945 Diskriminierung in Deutschland nicht einfach nur legal, sondern sogar in vielen verschiedenen Bereichen gesetzlich vorgeschrieben war, verfügten das bundesdeutsche Grundgesetz und die Verfassung der DDR ab 1949, dass Menschen nicht aufgrund von «Rasse» diskriminiert werden dürfen. Zu diesem Zeitpunkt war «Rasse» aber noch biologistisch gemeint. Denn noch 1950 und 1951 erklärte die UNESCO, dass es so was wie «biologische Rassen» gäbe. Der nationalsozialistische Antisemitismus war keinem Vakuum entsprungen und auch nicht im Nichts verschwunden. Er hatte sich aus der Tiefe der Geschichte und im Dialog mit anderen Rassismen entfaltet. Doch dieser Zusammenhang blieb auch in der bundesdeutschen «Vergangenheitsbewältigung» unterbeleuchtet. Und entsprechend lebte Rassismus in den Gesellschaften der Bundesrepublik und der DDR fort.

Erst ab den 1990er Jahren setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass keiner der bisherigen Versuche, «Rassen» nachzuweisen, wissenschaftlich haltbar ist. Doch was ist mit «Hautfarben»? Während «Rassen» zunehmend in den Hintergrund traten, blieb die «Hautfarbe» als rassistisches Sortierungs- und Ordnungsinstrument erhalten. «Hautfarben» seien eben doch zu sehen. Das stimmt zwar, doch nur deswegen, weil Rassismus uns eben dies lehrte und lehrt. Das aber macht «Hautfarbe» ebenso zu einem rassistischen Wort wie «hautfarben». Als ich schwanger war, musste ich Stützstrümpfe kaufen. Die weiße Verkäuferin im Gesundheitszentrum sagte mir: «Da haben Sie Glück, dass Sie weiß sind, denn unsere ‹hautfarbenen› Stützstrümpfe bezahlt die Krankenkasse. Die Nicht-Weißen müssen für ihre Farbe bezahlen.» Ich war entsetzt und sah die tieferliegende Symbolik: Da «hautfarben» im Deutschen ein helles Beige meint, setzt es Weiße als Norm und diskriminiert BIPoC.

Doch wieso, das ist meine Hauptfrage seit Anfang der 1990er Jahren, tun sich viele immer noch so schwer damit, über Rassismus zu sprechen? Rassismus ist für viele immer noch das R-Wort. Manche wollen nicht darüber reden, weil es angeblich keinen Rassismus gäbe. Andere finden, dass nicht weiter darüber geredet werden sollte, weil das Reden darüber schon jetzt sehr viel Raum einnehme.

In diesem Klima gibt es eine Tendenz, Rassismus auf seine schlimmsten Zacken zu reduzieren, also den Nationalsozialismus, die Jim Crow-Ära samt Ku-Klux-Klan oder Apartheid – und alle, die solche Segregationen heute proaktiv bejahen. Da diese Regime rassistische Bewertungen von Weißsein eskalierten, fühlen sich viele weiße Deutsche unwohl damit, sich als weiß zu bezeichnen. Das aber ist insofern problematisch, als jedes «Also, ich sehe keine Hautfarben. Wir sind alle gleich» das weiße Sehen von Schwarzsein und den entsprechenden Rassismus verleugnet. Auch insgesamt bietet das Reduzieren von Rassismus auf seine extremsten Formen die Möglichkeit, diesen dort gründlich zu verurteilen und den Rest zu verleugnen, um sich sodann gemütlich im Sessel zurücklehnen zu können. Das aber versäumt es, eine kritische Debatte über Weißsein zu führen, und stärkt genau dadurch Weißsein als «unsichtbar herrschende Normalität» (Ursula Wachendorfer), ohne an deren Suggestionskraft für Rassismus zu rütteln.

Durch meine Auseinandersetzung mit diesen Fragen erkannte ich nun, dass jede Auseinandersetzung mit Rassismus Weißsein reflektieren muss. Das ließ mich bei der Kritischen Weißseinsforschung ankommen. So wie die Frauenforschung irgendwann den Schritt zu den Gender Studies ging und in diesem Rahmen auch Männlichkeit als Machtzentrum und Akteur einbezog, betont die Kritische Weißseinsforschung, dass Rassismus nicht einfach Diskriminierung ist, welche BIJPoC widerfährt, sondern dass Rassismus gemacht wird. Von Weißen. Weiße waren es, welche «Rassen» erfanden, um Kolonialismus durch Rassismus zu legitimieren. Weiße sind es, die in rassistischen Denksystemen als Norm gesetzt werden und dadurch Privilegien genießen, etwa einen privilegierten Zugriff auf Ressourcen, Zugehörigkeit oder Repräsentation.

Wenn ich verstehen will, wie ich Rassismus den Garaus machen kann, dann muss ich verstehen, wie er sich so breitmachen konnte. Das wendete meinen Blick. Nicht mehr über Afrika forschen wollte ich und nicht mehr nur über rassistische Begriffe, sondern über weiße Blicke auf Afrika und Schwarze. Deswegen wandte ich mich von den Afrikawissenschaften, die nach dem 19. Jahrhundert klangen, ab und der Aufgabe zu, die Geschichte von Weißsein in der britischen Literatur nachzuvollziehen.

Literatur ist ein sehr geeignetes Medium, um gesellschaftliche Dynamiken und Wissensdiskurse historisch nachzuvollziehen. Denn fiktionale Texte spiegeln nicht einfach profan die Realität. Sie gestalten diese. Das Weltwissen der Autor*innen schreibt sich in sie ein, auch ganz unabhängig davon, ob diese das möchten. Charles Dickens war weder Feminist, noch wollte er über Geschlechterrollen schreiben. Doch wie er seine Charaktere anzieht, nennt oder handeln lässt, geschieht aus seiner patriarchalischen Weltsicht heraus. Umgekehrt sind es Erzählungen, die den Blick auf Ungerechtigkeit schärfen oder Transformationen austesten. Einer der wichtigsten Romane für mich ist Zadie Smiths White Teeth (2000). Der Debütroman erzählt jüdische, Schwarze und weiße Geschichten im London der 1990er Jahre. Die Protagonistin Irie Jones sucht nach Empowerment und findet sie in Shakespeares Sonetten. Denn anders als in der Forschung bisher behauptet, besingen sie die Schönheit einer Schwarzen Frau. So auf eine neue Spur gebracht, holte ich Shakespeares Dramen wie Othello (1604) oder The Tempest (1611) wieder heraus und war wie gebannt von dem, was ich da sah: Kein anderer als Shakespeare stellte Rassismus und Kolonialismus auf die Bühne, um beides zu kritisieren. Das war wie eine Revolution für mich. Denn es strafte den Satz Lügen: «Das war damals eben so.» Und es zeigte mir: «Wer wissen will, der wird wissen.» Aus dieser Perspektive schrieb ich dann ein Buch zur Geschichte von Weißsein in der britischen Literatur. Und während ich das tat, schärften meine Forschungsbefunde meinen Blick auf politische Debatten, in denen Weißsein der «big elephant in the room» war.

Wissenschaft als politische Akteurin

Was eine Person weiß, verrät viel über deren Leben. Wissen wird vermittelt und erworben, gesucht und gefunden, ignoriert oder festgehalten, für wichtig empfunden oder als irrelevant abgetan. Wissen wird aber auch übersehen oder vergessen oder auch einfach nur: nicht gewusst. Was wir wissen und was nicht, hat sehr viel mit den Kontexten zu tun, in denen wir uns bewegen – und bewegen können. Ich meine damit nicht nur physische Zugänge wie Schulen oder Bibliotheken. Wissen ist auch durch kognitive, mentale, psychische Zustände geprägt. Und vor allem ist jedes Wissen durch kollektive Aushandlungs- und Kommunikationsprozesse geprägt, die individuelle Ausdrucksformen annehmen können und müssen. Das funktioniert niemals losgelöst von gesellschaftlichen Machtstrukturen und deren Vorstellungen von Norm und Relevanz.

All diese Dynamiken prägen, wie Wissen komplexe Vorgänge oder Stoffe zu erkennen und zu benennen vermag. Dabei verlassen sich Menschen aufeinander. Aber sie streiten auch miteinander. Zu wissen, heißt, Befunde ebenso zu teilen wie Bedenken. Kriterien werden angelegt, die Entscheidungen darüber treffen, was fokussiert wird und was ausgeblendet werden muss, um verständlich zu sein oder sich verstehen zu können. Diese Kriterien sind ebenso verlässlich, wie sie dynamisch veränderbar sein müssen. Denn neues Wissen verhält sich immer zu vorherigem. Dabei gibt es einen Kanon. Dieser kann aufgegriffen, angewendet und weitergegeben werden, wobei immer auch neue Elemente dazukommen. Diese neuen Elemente können den Kanon bestätigen oder vertiefen oder aber ihm widersprechen. Durch diese Prozesse bleibt ein Kanon dynamisch, und er kann sich sogar völlig neu erfinden.

Nichts davon ist in Stein gemeißelt. Irrtümer sind möglich. Deswegen muss alles hinterfragt werden können. Und genau darin sehe ich die Aufgabe von Wissenschaft.

Eine ihrer wichtigsten Aufgaben, ist es, kritisch hinzuschauen, um zu verstehen – auf der Suche nach Erkenntnissen, die sich ändern dürfen. Doch jede neue Erkenntnis ist auch eine Intervention. Ein Kanon wäre nicht Kanon, wenn er nicht erst einmal die Intervention abwenden wollen würde. Nehmen wir mal Galileo. Er bestand darauf, dass sich die Erde um die Sonne drehe. Das stellte den Kanon der katholischen Kirche in Frage. Und diese hielt an ihm fest, um ihre eigene Macht und deren alte Welt zu verteidigen. Das war eine politische Entscheidung, und das machte Galileos Wissenschaft ebenfalls zu einer politischen.

Ähnlich verhält es sich mit dem Rassismus. Er wurde im Einklang mit der europäischen Kolonisierung in die Welt getragen, wobei Politik, Militär, Wissenschaft, Wirtschaft und Kunst an einem Strang zogen. Dies hat sich so nachhaltig in Wissensarchive eingeschrieben, dass diese Ära massive Auswirkungen hat. Bis heute wirkt sie strukturell als Alltagsrassismus fort. Diese These basiert auf einer 30-jährigen Forschung. Dennoch sorgt sie für Aufregung. Weil Rassismus ein politisches Thema ist, werden wissenschaftliche Befunde der Rassismusforschung als zu politisch, will sagen: unwissenschaftlich entwertet – und zwar in der Regel, ohne Gegenargumente aufzufahren. Sie politisch zu nennen, reicht aus, um die ausbleibende Beschäftigung damit zu rechtfertigen.

Ich möchte gar nicht von der Hand weisen, dass ich eine politische Agenda habe, wenn ich Rassismuskritik formuliere. Mein Plädoyer ist eher, dass Wissenschaftler*innen politisch sein können und manchmal sogar müssen. Nicht im parteipolitischen Sinne. Im Sinne kritischer Interventionen. Dabei möchte ich sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Auch wer nicht interveniert, agiert politisch. Denn das Fehlen einer Intervention hält am Bestehenden fest, und auch das kann sich politisch auswirken. Das aber kann nicht losgelöst von Universitäten als Ort, an dem sich Wissenschaft und Lehre begegnen, geschehen. Artikel 5, Abs. 3 des Grundgesetzes sagt: «Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.» Treue zur Verfassung aber bedeutet gemäß Artikel 3, Diskriminierung keinerlei Raum zu geben. Nimmt Lehre diese Aufgabe ernst, so muss sie diskriminierungssensibel sein und entsprechende Kompetenzen vermitteln. Das hat den Mehrwert, dass künftige Multiplikator*innen wie Lehrer*innen mit aktuellen Debatten der Diskriminierungsforschung im Gepäck die Universität verlassen. Das aber ist alles andere als Konsens an Universitäten. Ganz im Gegenteil begegne ich immer wieder dem Vorwurf, dass ich zu politisch sei, um an eine Universität zu gehören. Deswegen fühlt es sich für mich noch immer wie ein Wunder an, dass ich 2010 eine Professur bekam. Als Ossi hatte ich es geschafft. Finanziell war ich jetzt nicht nur abgesichert, sondern privilegiert. Das erleichterte meine Arbeit als Rassismusforscherin immens. Dennoch blieb ich thematisch unerwünscht. Bei meiner Berufungsverhandlung zur Universitätsprofessorin an der Universität Bayreuth im Jahr 2010 legte der mittlerweile pensionierte Dekan Veto dagegen ein, dass die Hochschulleitung mir die Stelle einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin geben wollte. Auf Nachfrage des damaligen Präsidenten, warum ein Dekan denn nicht wolle, dass seine Fakultät eine neue, zusätzliche Stelle bekomme, antwortete er einfach: «Ich will das nicht.» Der Präsident gab sich damit zufrieden. Im Nachgang auf dem Flur sagte «mein Dekan» dann frank und frei zu mir: «Ich will nicht, dass sich Ihre Themen (also Feminismus, Rassismuskritik) hier ausbreiten. Deswegen bin ich dagegen, dass Ihre Professur durch die Stelle einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin verstärkt wird.»

In meinen ersten Jahren an der Universität Bayreuth wiederholte sich diese offene Anfeindung der von mir repräsentierten Themen. Immer wieder wurde mir vorgeworfen, dass ich den Kuschelverein der Bayreuther Afrikastudien störe. Kolleg*innen provozierten mich mit der Frage, ob man in meiner Anwesenheit überhaupt noch weiße Milch in schwarzen Kaffee gießen dürfe. Manche fragten auch einfach mal so nebenbei, was ich denn mit «quer» (sie bezogen sich auf Queer Studies) meine.

Noch immer büße ich jederzeit meinen Status als Wissenschaftlerin ein, sobald ich Rassismus kritisiere. Ich werde zur Ideologin erklärt. Ich akzeptiere das als Preis für den von mir gewählten Weg. Doch auf eines bestehe ich: den Ärger über die Angriffe auf meine Arbeit ebenfalls als politisch einzuordnen. Ich stehe zu meiner Überzeugung, dass Wissenschaftler*innen politisch sein dürfen. Und ich bestehe darauf anzuerkennen, dass es auch eine politische Handlung ist, wenn selbsternannte Hüter*innen der Wissenschaftlichkeit meine gesellschaftspolitisch intervenierende Wissenschaft in gezielt demonstrierter Empörung als unwissenschaftlich oder aktivistisch verurteilen. Ich glaube, den meisten ist dieses Paradoxon auch bewusst. Denn in den allermeisten Fällen wird die politische Empörung über meine politische Wissenschaft unter vier Augen formuliert, während im öffentlichen Raum scheinheilig und kafkaesk die gute alte Bürokratie herhalten muss, um meine Arbeit zu behindern.

Als ich einen Beitrag über diverse Rassismusvorfälle im Blog der Universität Bayreuth schrieb, wurde dieser kurz darauf gelöscht. Als ich dagegen mit dem magischen Wort «Meinungsfreiheit» protestierte, kam er wieder drauf. Er sei nur heruntergenommen worden, weil an dem Tag sonst schon zu viel da gewesen wäre, hieß es dann. In Gesprächen zeigte sich dann aber, dass die Hochschulleitung besorgt war, dass das Benennen von Rassismus an der Universität Bayreuth internationale Studierende verschrecken könnte. Doch es ist genau umgekehrt: Das Label «rassismuskritisch» ist viel wertvoller als das Label «rassismusfrei». Denn während das Letztere Rassismus verleugnet, verspricht das Erstere, dass aufmerksam hingeschaut und kritisch interveniert wird. Genau in diesem Sinne vertritt der Erziehungswissenschaftler Karim Fareidooni die These: «Eine Schule ohne Rassismus gibt es nicht.» Dahinter steht die Aufforderung, hinzusehen.

Auch hinzusehen ist, weil es weder eine Schule noch eine Uni ohne Sexismus gibt. Allen Frauenbeauftragten, Büros für Chancengleichheit, Diversity-Beauftragten und Gender-Mainstreaming- Maßnahmen zum Trotz gibt es noch immer die Pyramide, in der sich die Präsenz von Frauen ausdünnt, je höher sie auf der Karriereleiter klettern müssen. Auch habe ich noch nie erlebt, dass Gleichstellungsmaßnahmen implementiert oder Regelungen gegen sexuelle Belästigung eingeführt werden können, ohne dass empörte Männer nach der Messbarkeit von Diskriminierung oder Nötigung fragen oder betonen, dass Frauen doch nicht nur deswegen einen Job bekommen sollten, weil sie Frauen sind. In vielen Dokumenten meiner Universität findet das sogenannte generische Maskulinum Verwendung, wobei in anderen Kontexten dazu übergegangen wird, neben der männlichen Form auch die weibliche zu benutzen. Das ist insofern mehr als überfällig, als die männliche Form eines Substantivs auch angeblich Frauen mitmeint, aus einer Zeit stammt, in der das Patriarchat Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben ausschloss und den Mann als Vormund der Frau zuließ. Doch es ist zugleich überholt. Denn Geschlechtergerechtigkeit meint längst mehr als Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen. Spätestens seit dem Personenstandsgesetz (PstG) § 22 Abs. 3 aus dem Jahr 2018 ist juristisch fixiert, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Da niemand aufgrund von Geschlecht oder aufgrund von Sprache diskriminiert werden darf, ist es aus meiner Sicht plausibel, dass geschlechtergerechte Sprache non-binäre Menschen repräsentieren muss. Nach jahrzehntelangen Debatten zu geschlechtergerechter Sprache halten viele den Genderstern aufgrund seiner Offenheit in alle Richtungen dafür geeignet. Diesem aber haben viele den Kampf erklärt. Auch die Landesregierungen Bayerns, Hessens und Sachsens, die geschlechtergerechte Sprache in Verwaltungsdokumenten und in Schulen untersagen möchten. Sachsens Ministerpräsident sagte dazu in einem Interview mit der «FAZ» am 16. Oktober 2023: «Ich bin damals in die Koalitionsversammlungen gegangen und habe gleich gesagt: Der Ausbau der Autobahn geht weiter und es wird nicht gegendert.» Die «FAZ» fragte nach, ob ihm geschlechtergerechte Sprache wirklich so wichtig sei wie der Autobahnausbau, und Kretschmer bestätigte: «Ich fand das Beispiel sehr schön.» Nicht allein, dass der Verzicht auf geschlechtergerechte Sprache bei ihm so eine hohe Priorität hat, verwirrte mich, sondern vor allem die Kombination mit dem Verweis auf den «Weiterbau der Autobahn». War ihm die semantische Nähe zum Autobahnbau der Nazis nicht bewusst? Auch Ministerpräsident Markus Söder betonte in seinem «Regierungsprogramm der Zukunft» im Dezember 2023: «Für Bayern steht fest: Mit uns wird es kein verpflichtendes Gendern geben. Wir werden das Gendern in Schulen und Verwaltungen sogar untersagen.» Das wirkt sich auch auf meinen Alltag aus. Denn das Bayerische Ministerium für Wissenschaft und Kunst weist schon seit dem 30. September 2023 u.a. an, dass der Genderstern (als sogenanntes Sonderzeichen) nicht in offiziellen Dokumenten verwendet werden kann, «um sprachliche Künstlichkeit oder spracherzieherische Tendenz(en) zu vermeiden.» Das führte nun etwa zu der abstrusen Situation, dass die Grundordnung der Universität den Sprecher*innenrat nicht so nennen darf und dieser nun in der Grundordnung als Ressortrat bezeichnet wird. Dass sich nun der Sprecher*innenrat gar nicht von der Grundordnung angesprochen fühlen muss, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Am Ende aber ist das weder komisch noch eine Bagatelle, denn das Verbot geschlechtergerechter Sprache verstößt gegen verfassungsrechtlich verbürgte Grundrechte und diskriminiert etwa nicht-binäre Personen.

Seit Jahren berate ich non-binäre Kinder, die zuhause nicht als die Person, die sie sind, akzeptiert werden – und deren Eltern. Letztere begründen ihre fehlende Unterstützung mit einer für sie plausiblen Begründung: «Ich möchte doch, dass es meinem Kind gut geht in dieser Welt. Und das geht nicht, wenn es sich so ‹anders› verhält.» Doch das Problem ist ja nachgerade, dass das Kind seine eigene Normalität längst gefunden hat; dass aber die Gesellschaft diese Normalität als «anders» einordnet. Kinder brauchen Liebe, Vertrauen und Wertschätzung. Doch geben Eltern (und sei es aus wohlmeinender Sorge) der vorherrschenden Meinung recht und bestehen etwa auf den Namen oder das Pronomen, das sich für das Kind komplett falsch anfühlt, dann fühlt sich der junge Mensch dadurch nicht gesehen, sondern verraten und verletzt. Gerade weil sich die Debatten immer wieder um den Körper drehen, ist es leider nicht selten, dass die erfahrene Diskriminierung mit einer Selbstverletzung einhergeht. Das aber nehmen dann Eltern, Schule und selbst Psychiatrien als Begründung dafür, dass mit dem Kind etwas nicht stimme. Und statt an der Diskriminierungserfahrung anzusetzen und die jungen Menschen zu stärken, wird die eigene non-binäre Identität als eigentliche Ursache der Erkrankung missgedeutet.

Das Studium ist oft die erste Zeit, in der junge Erwachsene selbstbestimmt leben können. Doch universitäre Räume schreiben alte Wunden fehlender Repräsentation fort. Das leisten etwa Toiletten, Umkleideräume oder Schwimmhallen, die nur nach Männern oder Frauen sortiert sind, es sei denn, sie sind für Menschen mit Behinderung. Und das bewirken Verbote des Gendersterns. Viele meinen, dass dies ja nur symbolische Orte seien. Doch diese symbolischen Orte stehen für dominante Normsetzungen, die jeden Tag das Existenzrecht von intersexuellen, transgeschlechtlichen und nicht-binären Personen (TIN*-Personen) in Abrede stellen.

Im Lichte meiner Frage, ob Universitäten politisch sein dürfen, komme ich auf mein klares Ja dazu zurück. Denn Universitäten müssen nicht nur ihre Dokumente und Räume den gelebten Realitäten geschlechtlicher Diversität anpassen. Als Bildungsstätten und Wissensschmieden müssen sie insgesamt Verantwortung dafür zeigen, die Gesellschaft mit Argumenten, Kommunikationskompetenzen und Interventionensstrategien gegen Diskriminierung auszustatten.

Aus genau diesem Grund baue ich zusammen mit einigen Kolleg*innen in Bayreuth einen Forschungs- und Lehrschwerpunkt «Intersektionalität» auf. Zunächst gelang es uns, ein Zusatzstudium «Intersektionalitätsstudien und Diversity-Kompetenzen» sowie dank der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung das europaweit erste Promotionskolleg für Intersektionalitätsstudien aufzubauen. Parallel dazu bemühen wir uns seit Jahren, den europaweit ersten Studiengang «MA Intersektionalitätsstudien» einzurichten. Dieser aber wird von einer kleinen Gruppe von Funktionär*innen, die an den neuralgischen Hebeln der Universität einander die Hände reichen und Schulterschluss üben, systematisch behindert, wobei nicht mal vor Lügen oder der Weitergabe falscher Abstimmungszahlen zurückgeschreckt wurde. Unter vier Augen wurde das eigentliche Motiv genannt: der Studiengang sei zu ideologisch. Das aber befremdet mich. Vor allem auch vor dem Hintergrund, dass es etliche Kolleg*innen an der Uni Bayreuth gibt, die wiederholt rassistische oder sexistische Inhalte lehren, und dass die Schlagende Burschenschaft Thessalia Prag auf dem Campus aktiv ist und systematisch rassismuskritische Seminare stört. Alice Weidel hat an der Bayreuther Universität promoviert, und der AfD-Spitzenpolitiker Hans-Thomas Tillschneider ist an dieser Privatdozent. Übrigens war der Vorsitzende seiner Habilitationskommission genau der Dekan, der mir eine Stelle verweigerte, damit sich «meine Themen» nicht breitmachen. Vor diesem Hintergrund frage ich mich, wie weit der Schulterschluss gegen den MA Intersektionalitätsstudien wirklich entfernt ist vom Kampf der AfD gegen kritische Wissenschaften wie die Gender Studies, Intersektionalitätsstudien oder Rassismusforschung. Sich gegen die AfD zu wappnen, hat aus meiner Sicht höhere Priorität, als den Genderstern zu verbieten oder einen Studiengang zu verhindern, der Antidiskriminierungskompetenzen vermitteln will.