4. Im Wahlkampf gegen die AfD

Eigentlich mochte ich das Wort «Wahlkampf» bislang nicht. Es klang mir zu sehr nach Meinungsmache, zu sehr danach, dass es nur um Stimmenfang statt Realpolitik ginge. Das erste Mal in meinem Leben aber ziehe ich nun in den Wahlkampf, in den Wahlkampf gegen die AfD. Um dafür gewappnet zu sein, ist es wichtig, zu verstehen, wo die AfD herkommt, warum es ihr gelingt, so viele Stimmen an sich zu binden, und was dem entgegengesetzt werden kann. Natürlich spielen hier viele Faktoren eine Rolle, international wie global. Die entsprechende Spurensuche führt etwa zum Aufstieg der Neuen Rechten sowie zum Unbehagen über die Europäische Gemeinschaft samt ihres Euros. Entscheidend ist aber zum einen, dass sich die AfD aus der Tiefe der europäischen und deutschen Geschichte von Rassismus und Sexismus erhebt. Und zum anderen muss ergründet werden, warum die AfD so gezielt ostdeutsche Stimmen einzufangen weiß – ohne dabei aus dem Blick zu verlieren, dass die AfD eine gesamtdeutsche Partei ist, die auch davon profitiert, dass viele Westdeutsche sich das Problem mit einem Fingerzeig auf Ostdeutsche vom Leib halten wollen.

Von der Leitkultur zur Identitätskrise

Nachdem die Bundesrepublik in den 1950er Jahren proaktiv Arbeitskräfte etwa aus Italien oder der Türkei angeworben hatte, verkündete die Bonner Regierung unter Willy Brandt mit Blick auf die Wirtschaftskrise am 23. November 1973, dass Deutschland keine ausländischen Arbeitskräfte mehr benötige. Die Ära Helmut Kohls (1982–​1998) prägte dann das Motto: «Deutschland soll und will kein Einwanderungsland werden.» Edmund Stoiber (CSU) setzte hier 1993 mit einer erstaunlichen Wortakrobatik an, die einräumte, dass es eine «ganz erhebliche […] Zuwanderung» gegeben habe, wobei diese aber «nichts mit Einwanderung zu tun» habe. 1998 kleidete der CDU-Innenpolitiker Jörg Schönbohm dieses Narrativ in das Argument: «Multikulturalität» sei gescheitert. Sie befördere Parallelgesellschaften und bedrohe die «Leitkultur».

Schon «Kultur» hat es in sich. Kultur kann die «Zauberflöte»-Premiere im Leipziger Gewandhaus meinen, eine Kunstausstellung oder eben so was wie «deutsche Kultur». Dann könnte es auf Sauerkraut oder Pünktlichkeit verweisen, Karneval oder Oktoberfest. In diesem Sinne meint «multikulturell» dann so was wie, dass sich Kultur A von Kultur B unterscheidet. Als wären sie abgeschlossene Container. Nur dass sie in einer Nation leben. Nebeneinander. Das ist mit Parallelgemeinschaft gemeint – und auch, dass es in dieser Konstellation eine dominante Kultur gäbe, die zu Recht den Ton angeben darf. Genau das bringt das Konzept «Leitkultur» auf den Punkt.

Diese ist immer mit einer gehörigen Portion Rassismus aufgeladen. «Deutsche Leitkultur» setzt Deutschland als weiß und christlich. Das hier anklingende ius sanguinis wurde zwar 1999/2000 von der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder in das ius soli, das Recht des Bodens, überführt, das vom Geburtsprinzip ausgeht. Doch weiße Wahrnehmungen von Zugehörigkeit erschütterte dies nicht. Durchaus in Protest gegen die rot-grünen Neuerungen schrieben der damalige wie aktuelle CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz und Hessens Ministerpräsident Roland Koch im November 2000 «Leitkultur» in ein CDU-Grundsatzpapier zu «Einwanderung» ein. Von der Oppositionsbank aus forderten sie damit eine verschärfte Asylgesetzgebung und beschleunigte Verfahren zur Abschiebung. Als die CDU unter Angela Merkel wieder Regierungspartei wurde, wurden Maßnahmen eingeführt, um Einbürgerungen zu verkomplizieren.

Inmitten dieser Aufheizung rassistischer deutscher Selbstverständnisse schrieb Thilo Sarrazin, damals noch SPD, 2010 seine Streitschrift Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Diese greift den völkischen Degenerationsrassismus ab dem 19. Jahrhundert auf, der nach Eugenik verlangt und in der Shoah endete. Deutschsein, so eine der Thesen, sei identisch mit der weißen christlichen «Leitkultur». Allerdings sei das weiße christliche Deutschland gefährdet und dabei sich «abzuschaffen». Denn Deutschland, so Sarrazin, erlebe einen Geburtenrückgang in weißen bürgerlichen Kreisen, während die «Unterschicht» durch «Zuwanderung» aus vor allem «muslimischen Ländern» wachse. Im Wort «abschaffen» steckt eine Handlung, für die er die linke Politik, auch seiner damaligen Partei, ebenso verantwortlich machte wie «Migranten». Letzteren unterstellte er «eine lange Tradition von Inzucht und entsprechend viele Behinderungen». In sichtbarer Nähe zum nationalsozialistischen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.​1933 und zur nationalsozialistischen Skalierung von (fehlender) Intelligenz nach Gregor Mendel behauptete er: «Es ist bekannt, dass der Anteil der angeborenen Behinderungen unter den türkischen und kurdischen Migranten weit überdurchschnittlich ist. Aber das Thema wird gern totgeschwiegen. Man könnte ja auf die Idee kommen, dass auch Erbfaktoren für das Versagen von Teilen der türkischen Bevölkerung im deutschen Schulsystem verantwortlich sind.» Und obwohl er es war, der muslimischen Menschen die Zugehörigkeit zu Deutschland absprach, warf er ihnen – paradox gewendet – vor, sich zu weigern, deutsch zu werden. Zwar regte sich Widerspruch und Empörung. Und doch blieb sein Buch über Monate auf Bestsellerlisten und verschaffte ihm auch Einladungen in fast jede deutsche Talkshow. So hinterließ er deutliche Spuren, die sich 2015 in die Rede von der «Flüchtlingskrise» einbrannten.

Was war passiert? V.a. durch den Krieg in Syrien erreichten 2015 deutlich mehr Geflüchtete als in den Jahren zuvor Deutschland. 2014 wurden 202.834 Anträge auf Asyl gestellt. 2015 und 2016 kamen insgesamt eine Million Menschen dazu. Diese deutliche Steigerung brachte einzelne Kommunen und Behörden an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Das war aber kaum eine die gesamte Gesellschaft erfassende Krise, weder im Vergleich zur Covid-Pandemie 2019/20 noch gemessen daran, dass Menschen millionenfach flüchten und ihr Leben aufs Spiel setzen mussten, um am Leben zu bleiben. Während Merkels «Wir schaffen das» der eskalierenden Katastrophe Rechnung trug, nannte Horst Seehofer diese verantwortungsvolle Politik, die sich auch aus historischer Schuld gegenüber dem Globalen Süden ergab, eine «Herrschaft des Unrechts». In den Debatten um die sogenannte Flüchtlingskrise zeigte sich aber, dass es sich letztlich um eine «Identitätskrise» handelte. Es ging um die Angst, dass Deutschland nicht mehr den weißen christlich sozialisierten Deutschen allein gehöre. Und damit ging es um die Frage, wem Deutschland mit seinen Ressourcen und Zukünften gehören dürfe. Diese «Identitätskrise» ist der Kern der Leitkultur-Debatten, und damit schufen diese den Nährboden für den Aufstieg der am 6. Februar 2013 gegründeten AfD. Umgekehrt gibt die AfD diesen Debatten Futter. In dieser Wechselwirkung ist es etwa sehr aussagekräftig, dass Friedrich Merz im Herbst 2023 Sarrazins Buch «Deutschland schafft sich ab» als wegweisend bezeichnete (und es für unverständlich erklärte, dass die SPD ihn hinauswarf) und dass der 70-seitige Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm der CDU die Leitkultur-Debatte der 2000er Jahre nun wieder aufnimmt. In diesem werden «unsere Werte» bewusst von «Muslimen» abgesetzt. So wird eine klare Ausgrenzungsagenda gegenüber den zehn Prozent Deutschen, die BIJPoC sind, formuliert sowie gegen weitere drei bis fünf Prozent langfristig oder vorübergehend auf Visumsbasis in Deutschland lebende BIJPoC. Diese Agenda der Ausgrenzung aber klingt nicht nach einem «Nie wieder!», sondern nach noch mehr Rückenwind für die rassistische Agenda der AfD, BIJPoC-Staatsbürgerschaften abzuwerten oder rückzubauen und zu verhindern, das Geflüchtete in Deutschland Anträge auf Asyl stellen können.

Wer AfD wählt, wählt Rassismus und Sexismus

Die «Alternative», die im Parteinamen «Alternative für Deutschland» steckt, setzt bei dem Postulat an, dass Deutschland einer radikalen Neuerfindung bedürfe. Im Kern geht es der AfD darum, eine «Wende 2.0» zu erwirken – sich die Revolution von 1989 anzueignen, diese aber zurück in eine autokratische Herrschaft zu führen, welche einer Nation völkischen Typs vorsteht. Eingebunden in einen europaweiten sowie transatlantischen Aufstieg rechtspopulistischer Parteien, die in weiten Teilen rechtsextrem agieren, strebt die AfD einen Dexit an: Deutschlands Austritt aus dem Euro und der EU. Dabei geht es nicht nur um ein Nein zu Investitionen in dieses politische, kulturelle und wirtschaftliche Bündnis, sondern vor allem auch darum, den völkischen Nationalismus zu retten. In diesem Sinne nennt Höcke die EU eine «Globalisierungsagentur» und bekannte sich die AfD bei ihrem Parteitag in Magdeburg im August 2023 zu einem rechtspopulistisch konzipierten «Bündnis europäischer Nationen» als Alternative zur EU. Dieses würde wirtschaftliche Bündnisse erlauben, jedoch Nationalstaatlichkeit großschreiben, um den Nationen Kompetenzen und Entscheidungen zurückzugeben.

Wirtschafts- und sozialpolitisch steht die AfD, die sich populistisch gern «als Partei des kleinen Mannes» darstellt und die von vielen gewählt wird, weil sie das, ohne hinzusehen, glauben, für das genaue Gegenteil. In neoliberalem Stil setzt die AfD auf Steuersenkungen für Gewerbe, Landbesitz oder Erbende. Das solle den Standort Deutschland wirtschaftlich attraktiver machen. Wettbewerb soll Wohlstand ankurbeln. Das aber ist als Wohlstand der Wohlhabenden gedacht. Entsprechend stimmte die AfD im Deutschen Bundestag etwa dagegen, dass 5,5 Mrd. Euro in den sozialen Wohnungsbau investiert werden. Auch gegen höhere Freibeträge für Alleinerziehende, einen einmaligen Kinderbonus von 300 Euro, eine Verbesserung der Kita-Infrastruktur oder der Ganztagsbetreuung stimmte die AfD. Die AfD ist auch dagegen, dass Geringverdienende weniger Sozialversicherungsbeiträge zahlen und Langzeitarbeitslose Lohnzuschüsse bekommen. Auch eine Sozialpolitik, welche Menschen im Niedriglohnsektor oder ohne nennenswerten Besitz unterstützt, gehört nicht zum Portfolio der AfD. Und diese Liste ließe sich noch verlängern.

Das zu wissen, ist wichtig, um die Rede von der Alternative «für das Volk» richtig einzuordnen. Ob nun Björn Höckes SA-Spruch «Alles für Deutschland», der Wahlspruch «Politik für das eigene Volk!» (Wahlplakat Rheinland-Pfalz, 2016) oder Alice Weidels und Tino Chrupallas «Unser Land zuerst»: Es geht nicht um «das Volk» im französischen Sinne von «peuple», also alle Menschen insgesamt. Die AfD steht für eine nationalistische Wende, in der «Volk» im Sinne von «Leitkultur» weiß und christlich sozialisiert bedeutet. Das ist es, was hinter dem AfD-Slogan «Deutschland. Aber normal» steckt: eine rassistische Agenda. Der faule Trick dabei ist, dass die AfD zwar sagt, dass es Weißen besser gehen soll als BIJPoC, dass sie aber am Ende gar keine Partei mit sozialpolitischen Zielen ist, die auf eine Verbesserung der Lebenssituation prekär lebender Menschen hinarbeitet – ganz unabhängig davon, ob sie nun weiß sind oder nicht. Die AfD instrumentalisiert den weißen Volksbegriff bloß, um Rassismus zu eskalieren und daraus dann Profit in Form von Wahlstimmen zu schlagen.

Zum Kern der Partei gehört zudem eine positive Rückbesinnung auf die Vergangenheit. Nazisprech wird kopiert, Kolonialismus und Nationalsozialismus werden verharmlost. Deutsche müssten ihren «Schuldkomplex», wie Björn Höcke es nennt, ablegen. Genau dies ist auch der Kontext für Gaulands Einordnung des Nationalsozialismus als «Vogelschiss». Und wenn Alice Weidel im Sommerinterview 2023 sagt, dass sie den Tag der Kapitulation des NS-Regimes nicht feiern wolle, weil es ein Tag der Niederlage sei, bedient das genauso die AfD-Geschichtsklitterung. Auch die SED-Diktatur wird verharmlost, was einerseits zur Vorliebe der AfD für autokratische Herrschaft passt und andererseits unverzichtbar ist, um den ostdeutschen Diskriminierungsschmerz zu schüren und sich zunutze zu machen.

Die AfD nährt sich aus Populismus. Sie aber bloß als populistische Partei zu bezeichnen, verharmlost sie. Seit ihrer Gründung hat sie sich immer weiter radikalisiert. Gemäßigtere Personen wurden an den Rand und aus der Partei getrieben. Viele Ortsgruppen oder gar Landesverbände werden inzwischen vom Verfassungsschutz als «rechtsextremer Verdachtsfall» beobachtet. Die Thüringer AfD, die sich um Björn Höcke schart, sowie die AfD in Sachsen und Sachsen-Anhalt wurden mittlerweile als «gesichert rechtsextremistisch» eingestuft. Das liegt nicht am Verfassungsschutz, sondern daran, dass sie faschistische Weltbilder vertreten.

In diesem Rahmen ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, wie die AfD insgesamt in die rechtsextreme Szene eingebunden ist. Viele AfD-Politiker*innen hatten schon lange vor ihrer AfD-Karriere rechtsextreme Biografien. Kontakte zu aktuellen oder früheren Mitgliedern der NPD sind nachgewiesen. Einerseits also landen Personen wie Björn Höcke nicht zufällig in der AfD. Sie kommen bereits aus bestehenden faschistischen Strukturen; andererseits aber suchen sie proaktiv die Nähe zu rechtsextremen Denkfabriken und Bewegungen. Der stellvertretende Landesvorsitzende und stellvertretende Fraktionschef der AfD in Sachsen-Anhalt, Hans-Thomas Tillschneider, war Mitglied der 2018 aufgelösten «Patriotischen Plattform», und er kooperiert eng mit der aus der 2014 gegründeten «Sarrazin-Bewegung» erwachsenen «Identitären Bewegung». Björn Höcke, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, ist wie andere Personen seiner faschistischen Thüringer Fraktion Mitglied in der Vereinigung «Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes» (Pegida). Zudem kooperiert er mit Götz Kubitscheks rechtsextremer Denkfabrik «Institut für Staatspolitik» (iFS). Das iFS ist ein Zentrum rassentheoretischer und sexistischer «Forschung» und fokussiert darauf, dieses bildungspolitisch aufzubereiten und anzubieten, etwa in Workshops, Camps oder Publikationen. Entlang der übergreifenden Themen «Staatspolitische Ordnung» gibt es fünf Schwerpunktthemen. Neben «Staat und Gesellschaft» und «Krieg und Krise» ist das «Zuwanderung und Integration» sowie «Politik und Identität». Fünftens ist «Erziehung und Bildung» ein Thema, auch im Sinne der gezielten Ausbildung von «Multiplikator*innen» und v.a. der geistigen Elite der Neuen Rechten. Zusammen mit dem rechtsextremen Monatsmagazin «Compact», der Patriotischen Plattform unter Tillschneider und dem emeritierten Professor für Staatsrecht, Karl Albrecht Schachtschneider aus Franken, gründete das IfS das faschistische Netzwerk «Ein Prozent» um Verleger Philip Stein. Eines seiner Mitglieder ist Alexander Jungbluth, der auf dem sicheren Listenplatz 3 für die EU-Wahlen steht. Dieser kommt auch aus der «Alten Breslauer Burschenschaft», in welcher «Ariernachweise» angedacht waren.

Dass nicht alle AfD-Mitglieder diese Extreme unterstützen bzw. sie bewusst niederschwelliger zu verkaufen wissen, erweckt den Eindruck, dass etwa die Kreise um Gauland oder Weidel als demokratiefähig eingestuft werden können. Am Ende aber steht die AfD in jeder ihrer Strömungen für eine autokratische Diktatur der Diskriminierung.

Dass Parteien diskriminierende Inhalte vertreten, ist weder neu noch Vergangenheit. Auch nicht, dass in allen Parteien Politiker*innen wirken, welche diskriminierend handeln. Die Abschaffung rassistischer oder sexistischer Gesetze im Laufe des letzten Jahrhunderts oder die Einführung von Anti-Diskriminierungsgesetzgebungen in der Gegenwart traf und trifft immer auf Gegenstimmen aus Regierungs- oder Oppositionsparteien. Aber die Parteien als Ganze positionieren sich nicht entsprechend. Bei der AfD aber ist Diskriminierung Parteiprogrammatik. Das schließt ein, die Antidiskriminierungsgesetzgebung anzugreifen. Exemplarisch steht dafür etwa der Vorschlag der AfD-Fraktion des Deutschen Bundestages aus dem Juli 2020, also der Hochzeit der Black Lives Matter-Bewegung nach der Ermordung George Floyds, den Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus von 2017 abzuschaffen. Obwohl dieser bislang so gut wie keine praktischen Auswirkungen hatte, behauptet die AfD, dass dieser, wie auch die Debatte über Rassismus im Allgemeinen, die Gesellschaft entzweie – und es, wenn überhaupt, hierzulande nur Rassismus gäbe, der Weiße benachteilige. Das ist nur ein Vorgeschmack dessen, was die AfD eigentlich will: eine Gesetzgebung, die BIJPoC bedroht und vertreibt. Eine rassistische Gesetzgebung also – und diese war in Deutschland bislang ein Alleinstellungsmerkmal der NSDAP. Auf diese Rückkehr in die Vergangenheit arbeitet die AfD-Propaganda gezielt hin.

Deutschland verkrafte die «Millionen von Flüchtlingen» nicht mehr, auch nicht die aus der Ukraine. Deswegen verlangt die Parteivorsitzende Weidel nach einer «Festung Europa», was mit dem «Absaufen! Absaufen!» korrespondiert, das auf Pegida-Demonstrationen zu hören war. Dass seit dem «Asylkompromiss» von 1993 auch der grundrechtlich verbürgte Schutz auf Asyl systematisch so reformiert wurde, dass er nur noch in den wenigsten Fällen Anwendung findet, ignoriert die AfD. Es geht ihr ja auch nicht um konkrete Problemlösungen, sondern darum, Geflüchtete als «inneren Feind» zu inszenieren, damit die eigene Diskriminierungsagenda verfängt. Als (um mal Pegida als handgeschneiderte Massenorganisation der AfD zu zitieren) «Patrioten gegen die Islamisierung des Abendlandes» hat sich die AfD dabei stark auf den Islam eingeschossen, wobei dieser immer als fundamentalistisch gesetzt wird. Zu diesem Zweck inszenieren Fake-News und manipulative Überbewertungen einzelner Ereignisse «den Islam» oder «den islamischen Mann» als «islamistischen Gefährder» oder «Vergewaltiger». Am Ende aber wird antimuslimischer Rassismus mit Antisemitismus, Antiziganismus und dem Rassismus gegenüber Schwarzen, ganz im Geiste der jahrhundertealten Gleichzeitigkeit verschiedener Rassismen, verzahnt. Entsprechend vermengt die AfD auch systematisch Begriffe wie «Flüchtlinge», «Islam», «Asylanten», «Gäste» oder «Migranten». Das ist kein Zufall, sondern eine bewusst gewählte rassistische Strategie, die alle BIJPoC, ob mit oder ohne Pass, in einen Container stopft, der deportiert werden soll. Die AfD vertritt also die Forderung nach einer konsequenten Verfolgung und Vertreibung aller BIJPoC. Genau das steckt in der Forderung nach «millionenfacher Remigration». Diese brachte der Spitzenkandidat für die EU-Wahlen, René Aust, auf dem Parteitag im August 2023 wie folgt auf den Punkt: «Ihr (alle BIJPoC duzt er, in alter Abwertungsmanier) werdet diesen Kontinent nicht zu eurer Heimat machen.» Hier wird deutlich, worum es der AfD bei der Skandalisierung von Geflüchteten bzw. «Migranten» eigentlich geht: um «identitäre Fragen» und rassistische Antworten darauf. Es geht um ein Ja zur autokratischen Volksvergangenheit und die Auffassung, dass Deutschsein völkisch an Weißsein und christliche Sozialisation gebunden wird, die explizit auch (ostdeutsche) Atheist*innen mit meint. Ihnen allein stünden Deutschlands Ressourcen und Zugehörigkeiten zu.

Genau das drückt der AfD-Neologismus «Ethnopluralismus» als Leitkultur 2.0 aus. «Ethno» leitet sich aus dem Altgriechischen für «Volk» ab, was im AfD-Sprech ein Synonym für «Rasse» ist. Ethnopluralismus geht davon aus, dass es viele Kulturen gäbe, die klar voneinander abzugrenzen sind, wobei «Kultur» an Blut und Genen festgemachte «völkische Rassen» meint und die weiß-christliche Deutsch-Kultur als überlegene Norm/alität gesetzt wird. Doch «Pluralismus» wird nicht bejaht, sondern als Bedrohung inszeniert. Ethnopluralismus behauptet, dass es im Wesen von Kulturen läge, separiert (segregiert) zu leben. Es gäbe eine biologistisch begründete und unveränderbare Einheitlichkeit von Völkern, welche kulturell, sprachlich und religiös definiert sei. Diese Grenzen zu beschützen und Durchmischung zu vermeiden, sei existenziell wichtig. Entsprechend müssten sich «weiße christliche Gesellschaften» europaweit und zugleich in einem nationalstaatlichen Sinne vor «Überfremdung» schützen. Das aber ist nichts anderes als eine Rückkehr zum völkischen Gedankengut des Degenerationsrassismus (ca. 1870–​1945) zum Schutze weißer Reinheit und Überlegenheit. Wie sehr diese rassistische Beanspruchung Deutschlands mit der sexistischen Agenda der AfD korreliert, zeigt sich exemplarisch in der Aussage Johannes Normanns aus dem Regierungsbezirk Unterfranken in den Jahren 2017 und 2021: «Ein Land, das jeden reinlässt, wird genauso ‹geachtet› wie eine Frau, die jeden ranlässt.»

Genau hier setzt der Sexismus der AfD an. Denn der AfD-Slogan «Deutschland. Aber normal» steht auch für ein Weltbild, das ein heterosexuelles Familienmodell zum Maß aller Dinge erhebt, in dem Frauen attraktive Sexualobjekte, dienende Ehe- und Hausfrauen sowie verheiratete Mütter sind. 2017 drückte das ein Wahlplakat der AfD aus. Es titelte: «Neue Deutsche? Machen wir selber». Dieser Text überzog ein Bild, das einen Schwangerenbauch einer weißen Person ohne Kopf im Sinne von vernunftsfern, aber fortpflanzungszuständig zeigt. Entsprechend hat es sich die AfD zum Ziel gesetzt, Schwangerschaftsabbrüche zu erschweren. Diese politische Aneignung der Frauenkörper als völkische Gebärmaschine ist nur die eine Seite der Medaille. Auf der Rückseite wird sexuelle Nötigung verharmlost oder gar gerechtfertigt. Und auch die Rede vom Mann als Eigentümer von Frauenkörpern ist wieder da. So sagte etwa der AfD-Kommunalpolitiker Gerhard-Michael Welter, damals noch als CSU-Mitglied, 2015/16: «Frauen brauchen einen Vormund. Bei Ihnen und ein paar anderen ‹Menschen mit Menstruationshintergrund› kann ich es sogar nachvollziehen.»

Die Fortpflanzung zum Maß aller FrauenDinge erhebend, besteht die AfD zudem auf der binären Ordnung von Mann und Frau. Der EU-Spitzenkandidat der AfD, Maximilian Krah, sagte dazu im November 2023 in einem Post: «Es gibt nur zwei Geschlechter. Sie sind genetisch determiniert. Man kann sie nicht wechseln. Sie sind großartig, es braucht echte Männer und echte Frauen. Die Gender-Theorie ist Unsinn, und Feminismus ist Krebs. Die Zukunft hängt daran, dass echte, mutige und gesunde Männer und Frauen viele Kinder haben, die in der Gemeinschaft der Ähnlichen verwurzelt aufwachsen und sich als Teil einer generationenübergreifenden Tradition verstehen.» Nachdem er viele Likes seiner Crowd erntete, fügte er wenig später hinzu: «Feminismus heute ist Krebs. Er bedeutet, dass Männer in Mädchentoiletten dürfen. Er vernichtet die Weiblichkeit, zerstört junge Menschen und verhindert Kinder.» Hier wird deutlich, wie die Fortpflanzungspropaganda sowohl Frauen einsperrt als auch alle Geschlechter, die aus diesem Normalitäts-Modell ausscheren, attackiert. Homosexualität, Intersexualität und Transgeschlechtlichkeit werden als Gefährdung des «deutschen Volkes» gesehen. Die AfD steht in der ersten Reihe des Kampfes gegen gesetzliche Errungenschaften, die als «Regenbogenterror» denunziert werden.

Ein Verbot des «dritten Geschlechts» und Homosexualität, samt Rückkehr zu gewaltvollen «Umerziehungen» von Homosexuellen ist der AfD ebenso wichtig wie das Verbot von gleichgeschlechtlichen Ehen. Natürlich lässt sie sich auch bei den Kulturkampf-Schauplätzen wie geschlechtergerechter Sprache oder den Gender Studies die CDU nicht lumpen.

Im Juni 2020 stellte die AfD-Fraktion des Bayerischen Landtages eine Anfrage, die sich um eine angebliche «Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit durch Eingriffe im Sinne der ‹politischen Korrektheit›» sorgte. Zwar war das eine Farce, aber es schuf Aufmerksamkeit und erfüllte einen zweiten Zweck, nämlich Arbeitszeiten der Gender-Studies-Forschung an allen bayerischen Universitäten zu binden. Diese bürokratische Bekämpfung der Freiheit von Wissenschaft und Lehre praktiziert die AfD als Dauerschleife. Jüngst auch in einer Kleinen Anfrage der AfD-Fraktion des Bundestages zur «Evaluation der Gender Studies durch den Wissenschaftsrat unter Berücksichtigung aller relevanten Einrichtungen in Deutschland». Mit diesen bislang eher nur «kulturkämpferischen» Handlungen zeigt die AfD unmissverständlich, wohin der Weg gehen soll: in Richtung von Victor Orbáns Regierungserlass. 2018 verfügte dieser, Masterkurse der Gender Studies aus der Liste der zugelassenen Studiengänge zu streichen. Zwar können Lehrpersonen weiter Seminare zu diesem Themenfeld anbieten, doch entsprechenden Studiengängen wurde die Akkreditierung entzogen. Ganz in diesem Tenor sagte mein ehemaliger Büronachbar, der an der Uni Bayreuth Privatdozent ist, Hans-Thomas Tillschneider, in einer Bewerbungsrede für die AfD-Liste zur Europawahl 2018 mit Blick auf (auch) meine Arbeit: «[A]n meiner Fakultät in Bayreuth [werden] kaum noch Wissenschaften betrieben […], sondern eher Karnevalsumzüge wie Gender Studies oder Kritische Weißseins-Forschung.» Bisherige Attacken auf die Gender Studies oder Rassismusforschung hatten bisher nur den Zweck, die Öffentlichkeit aufzuheizen. Unter AfD-geführten Regierungen aber könnten entsprechende Verbote folgen.

Während die AfD also Errungenschaften bei der Gleichstellung aller Geschlechter bekämpft, eignet sie sich die von ihr missbilligten Erfolge an – zum einen, um zu behaupten, dass Frauen hierzulande gar nicht diskriminiert würden. Denn auf dieser Schiene lassen sich Maßnahmen zum Ausbau der Gendergerechtigkeit boykottieren. Ganz in diesem Sinne stimmte etwa die AfD Sachsen gegen Maßnahmen gegen den Gender Pay Gap mit der Begründung, dass dies «abstrus» sei, weil es in Sachsen gar keinen Gender Pay Gap gäbe, und wenn, dann würden Männer benachteiligt – jedenfalls laut Alexander Wiesner, der Mitglied im Ausschuss für Gleichstellung des Sächsischen Landtages ist.

Zum anderen werden die Errungenschaften zur Gleichstellung der Geschlechter instrumentalisiert, um dem Islam die Zugehörigkeit zu Deutschland abzusprechen. Fürsorge heuchelnd, verurteilt die AfD den Islam als homo- und transphob sowie frauenfeindlich: «Frauen würden sich nicht mehr auf die Straße trauen». Aus dem Mund einer Partei, die offen Frauen auf Lustobjekte und Gebärmaschinen reduziert und Maßnahmen gegen Homo- und Transsexualität anstrebt, klingt das alles andere als plausibel. Sexismus oder Homophobie im Islam werden von der AfD scheinverurteilt, um die eigene sexistische, homo- und transphobe Hetze rhetorisch zu tarnen und sie dadurch nur umso intensiver ausüben zu können.

Am Ende kann die AfD so beides unter einen Hut bringen: den Islam verurteilen und sich selbst als Norm abfeiern, aus der Homo- und Transsexualität ausgeschlossen werden. An sich braucht die AfD nicht mal die Lüge, sich für die Gleichberechtigung aller Geschlechter einzusetzen. Denn am Ende stören sich AfD-Wähler*innen zwar am Islam, nicht aber an Homo- und Transphobie.

Kann die AfD unsere Demokratie unterwandern?

Im Januar 2024 deckten investigative Journalist*innen von «correctiv» auf, dass es in Potsdam zu Treffen von Rechtsextremen, Faschisten, Identitären und Funktionären der AfD gekommen war. Sie verständigten sich im Falle einer Machtergreifung über die «Deportation» von Millionen Menschen. Ein Funktionär der AfD aus Sachsen-Anhalt betonte dabei, sie müssten das Land für PoC unbewohnbar machen. Auch der US-Präsidentschaftskandidat Trump spricht mittlerweile von Millionen «Deportationen», die anstünden, würde er im Januar 2025 erneut Chef im Weißen Haus werden. Ausdrücklich hat die Potsdamer Geheimrunde damit auch Menschen gemeint, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, ihrer Meinung nach aber keine «richtigen» Deutschen seien. Björn Höcke spricht in diesem Zusammenhang davon, Deutschland wieder «deutscher» machen zu wollen. Die Absicht ist klar. Und auch wenn AfD-Funktionäre seit diesen Enthüllungen, sofern sie überhaupt etwas dazu sagen, betonen, das würde alles «rechtsstaatlich» ablaufen, ist eindeutig, dass diese Pläne weder mit dem Grundgesetz noch mit der Allgemeinen Erklärung über die Menschenrechte (UNO 1948), die die Bundesrepublik ratifiziert hat, auch nur ansatzweise in Übereinstimmung zu bringen sind. Solche strategischen Überlegungen knüpfen direkt an die Methode der Nationalsozialist*innen an. Besonders bedrückend dabei: Die demokratische Zivilgesellschaft begehrte gegen diese Pläne sofort auf, der Protest im Januar 2024 war unübersehbar, aber insbesondere in den Sozialen Medien baute sich eine unübersehbare und unüberhörbare breite Unterstützerfront für diese inhumanen Pläne auf. Mit anderen Worten: Die Unterwanderung unserer Demokratie hat längst begonnen.

Ich weiß nicht, ob es noch fünf vor zwölf ist. Zumindest ist die AfD, welche derzeit ca. 40.000 Mitglieder mit stark steigender Tendenz zählt, noch nicht in der Lage, ihre politischen Vorstellungen Wirklichkeit werden zu lassen. Doch bereits jetzt macht sie mehr als nur «Kulturkampf» und steigt ihr Einfluss innerhalb des politischen Systems. Schon bei ihrer zweiten Teilnahme an einer Bundestagswahl im Jahr 2017 schaffte es die AfD mit 94 Abgeordneten in den 19. Bundestag. Bei den Zweitstimmen hatte sie 12,6 Prozent erzielt und in Sachsen sogar drei Direktmandate gewonnen. Damit wurde die AfD zur stärksten Oppositionspartei zur Zeit der Großen Koalition. Bei den Bundestagswahlen 2021 erlangte die AfD dann zwar mit insgesamt 10,3 Prozent weniger Zweitstimmen als zuvor. Doch seither legt sie sowohl in den Umfragen als auch bei Landtagswahlen und an politischer Extremität zu.

Nach der Bundestagswahl 2017 wurden die beiden Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel und Alexander Gauland Oppositionsführer*innen (das Sternchen genieße ich) im Deutschen Bundestag mit weitreichenden Rede- und Repräsentationsrechten. 2019 ließ sich Thomas Kemmerich (FDP) mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen. Auch wenn das nur wenige Stunden hielt, war das Exempel gesetzt. Dass eine Minderheitsregierung, wie es die von Kemmerich gewesen wäre, immer nach den fehlenden Stimmen suchen muss, zeigt, wie dicht fehlende Brandmauern an Kooperationen und Zugeständnisse grenzen. Im Juni 2023 wurde im thüringischen Sonneberg erstmals ein AfD-Politiker zum Landrat gewählt. Kurz darauf wurde Hannes Loth erster hauptamtlicher Bürgermeister der AfD, und zwar in der sachsen-anhaltinischen Kleinstadt Raguhn-Jeßnitz. Im Dezember 2023 wählte Pirna den ersten Oberbütgermeister der AfD. Als eine Partei mit eigenen Fraktionen im Deutschen Bundestages und in den Länderparlamenten geriert sich die AfD immer mehr als «normale politische Partei» und hat, insbesondere durch Ausschussarbeit, schon jetzt politische Gestaltungsmöglichkeiten. Als Regierungspartei aber könnte die AfD ihre neugewonnene Macht für die Errichtung einer autokratischen Diktatur missbrauchen.

Zwar ist aktuell noch in keinem Bundesland von einer absoluten Mehrheit der AfD auszugehen, so dass klare Verabredungen unter den übrigen Parteien verhindern können, dass die AfD in Regierungspositionen kommt. Wie belastbar diese Brandmauern dauerhaft sind, steht aber nach irritierenden Aussagen des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz und einiger seiner Parteikolleg*innen in Frage. Der Hamburger CDU-Bundestagsabgeordnete Christoph Ploß etwa forderte im Oktober 2023, dass ein AfD-Bundestagspräsidiumskandidat nicht mehr von den anderen Parteien blockiert werden sollte. Diese Normalisierung macht nicht nur Angst. Sie könnte auch den Boden bereiten für bislang für unmöglich gehaltene Regierungsbildungen. Sollte die Parteigründung von Sahra Wagenknecht erfolgreich sein und die Gruppierung tatsächlich Mandate erringen, dann werden solche Bündnisse noch wahrscheinlicher. Noch weiß keiner so recht, wie das konkrete Szenario aussehen könnte, mit dem die AfD ihre autokratischen Strukturen durchsetzen würde. Doch Jurist*innen wie Nora Markard oder das Thüringen-Projekt des Verfassungsblogs mahnen an, diese Szenarien zu antizipieren, um gewappnet zu sein.

Schon auf Länderebene wäre eine Regierungsbeteiligung der AfD ein Erdbeben. Daraus würden sich nicht nur langfristige Einflussmöglichkeiten ergeben, sondern auch Plätze im Bundesrat. Auf Bundesebene aber wäre eine Regierungsbeteiligung ein Tsunami, der braunes Wasser in alle Ecken spülen würde. Denn eine AfD in der Bundesregierung würde dieser Einflussmöglichkeiten auf die Legislative und Exekutive der Bundesrepublik Deutschland und damit auf deren Zukunft geben.

Sobald AfD-Politiker*innen im Kabinett säßen, böte sich über Minister*innenposten die Möglichkeit von Eingriffen in Personalien und Entscheidungen von Ministerien, aber auch auf andere Institutionen sowie auch Gesetzgebungen. Entsprechend könnte die AfD diese Herrschaftsinstrumentarien missbrauchen, das Wahlrecht zu ändern, Kontrolle über Medien auszuüben, die Justiz den eigenen Bedürfnissen entsprechend umzugestalten oder der Freiheit von Kunst oder Wissenschaft einen Riegel vorzuschieben und die Bildungspolitik in ihre Richtung zu lenken.

Bestellte die AfD etwa das Innenministerium, dem der Verfassungsschutz unterstellt ist, hätte sie Einfluss darauf, ob einzelne Orts- oder Landesverbände oder auch Strömungen in der AfD sowie deren Verbündete wie Pegida oder Kubitscheks rechtsextreme Denkfabrik «Institut für Staatspolitik» (iFS) unter Rechtsextremismusverdacht gestellt und entsprechend ausgebremst werden können. Mehr noch: Die AfD könnte den Verfassungsschutz in Richtung jedweder Opposition gegen die AfD in Stellung bringen.

Zudem böte eine Regierungsbeteiligung der AfD dieser die Möglichkeit, gesellschaftspolitisch wichtige Positionen in einschlägigen Institutionen zu besetzen. Ein Beispiel dafür sind Rundfunkräte. In diesen wirken Regierungen direkt mit, und sie bestimmen zudem, welche gesellschaftlichen Gruppen in diesen vertreten sind. Hier kann sehr schnell kritische Berichterstattung über die AfD eingedämmt werden, und umgekehrt ist eine staatliche Kontrolle der Medien unter AfD-Regierungsbeteiligung genau das, was Populismus sich nur wünschen kann.

Eine Regierungsbeteiligung böte der AfD zudem Raum, Beamtenstellen etwa in der Polizei, im Bildungswesen, in Anti-Diskriminierungs- oder den Ausländerbehörden sowie in der Justiz parteipolitisch koloriert zu besetzen. Gerichte und die Ernennung von Staatsanwält*innen oder Verfassungsrichter*innen sind ein höchst neuralgischer Punkt. Hier kann die parlamentarische Demokratie nachhaltig beschädigt werden. Bisherige demokratische Gepflogenheiten sind davon geleitet, dass die jeweils aktuelle Regierung mit Augenmaß und im größtmöglichen Konsens neue Stellen besetzt. Das aber kann leicht unterwandert werden. Die Verfassungsrechtlerin Nora Markard betont, wie erst mal harmlos klingende Veränderungen dazu beitragen könnten. Es könnten einfach neue Gremien dazuerfunden werden, etwa ein dritter Senat des Bundesverfassungsgerichtes. Von der polnischen PiS («Prawo i Sprawiedliwość»/​«Partei für Recht und Gerechtigkeit»), auch das wäre ein Modell, wurde die Altersgrenze für Richter gesenkt. Ältere Richter verloren dadurch die Stellung, wodurch überproportional viele Stellen zur Neubesetzung frei wurden. Durch solche Manöver könnte sich die AfD also eine überdimensionierte Präsenz in juristischen Institutionen oder Strukturen verschaffen – und somit auch jene Instanzen kontrollieren, die etwa die Gesetzgebung kontrollieren. Wenn aber an diesen neuralgischen Punkten Personen sitzen, die Rechtsextremismus keinen Einhalt gebieten wollen, dann kann er sich institutionell breitmachen. Umgekehrt würde eine AfD-nahe Justiz Widerstand gegen sich behindern oder verbieten. Vor diesem Hintergrund bedürfe es, so Nora Markard, eines «Verfassungsethos» bisheriger Richter*innen. Die Verteidigung des Grundgesetzes müsse als unverzichtbare Grundregelung gelten und nicht als politische Einmischung. Dazu gehört auch, sich rhetorisch zu wappnen – auch, um dem Populismus, der auf diese Stukturen hinarbeitet, das Handwerk zu legen.

Lügen: Populistische Alternative für Deutschland

Um ihr Gewaltregime zu errichten, bedarf es einer radikalen Unterwanderung des bundesdeutschen Rechts- und Politiksystems. Um in diese einziehen zu können, bedarf es aber Wähler*innen. Deswegen will die AfD nicht nur ihren Gegner*innen, sondern auch jenen, die sie wählen sollen, «Honig ums Maul» schmieren. Beim Versuch, sich Wählerstimmen zu verschaffen, setzt die AfD auf Populismus. Diesen groß zu machen, ist leicht. Denn seinem Wesen nach muss er nicht in sich stimmig sein. Er muss allein dem ideologischen Zweck dienen, komplexe Zusammenhänge auf simple Formeln zu reduzieren und möglichst laut zu provozieren.

Der Populismus der AfD setzt zum einen auf Lügen und Paradoxien. Zu solchen Paradoxien gehört etwa, dass die Partei, die vom Lügen lebt, sich darüber empört, dass deutsche Politiker*innen und Medien lügen. Sie redet von «Lügenpresse», während sie es als Ziel ansieht, die Medienlandschaft selbst zu kontrollieren. Und obwohl die Partei eine autokratische Ordnung aufbauen will und dazu Rechtstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Demokratie unterwandern muss, geht sie mit der Erzählung auf Stimmenfang, dass es in Deutschland keine Demokratie, Rechtstaatlichkeit oder Meinungsfreiheit gäbe, während sie davon profitiert, dass Autokratie und faschistisches Denken auf zunehmende Zustimmung stoßen. Von hier aus ist es dann nicht mehr weit, den Staatsschutz, der die Verfassungswidrigkeit der AfD prüft, als Regierungsschutz zu bezeichnen, der verfassungswidrig sei.

Selten gibt eine AfD-Politiker*in ein Interview oder hält eine Rede, ohne sich selbst zu widersprechen. Dabei machen sie sich nicht einmal die Mühe, offensichtliche Widersprüche zu vermeiden oder zu begründen. Alice Weidel behauptet einfach beides: dass der Islam Deutschland homophob mache und dass sie als Frau, die mit einer Frau zusammenlebt, noch nie diskriminiert wurde. In dieses Horn bläst, gleichsam paradox, auch Jörg Stephen Kühne (MdL Sachsen): Im Namen der Religionsfreiheit bedaure er, sagte er im Juni 2023, dass «das Kreuz leider immer weniger in Behörden» hängen würde. Und im Namen der gleichen Religionsfreiheit habe seine Partei dem Sächsischen Landtag den Antrag vorgelegt, das Tragen von Hijabs (er spricht von «Kopftuch») zu verbieten. Der ewige Populismus eben, der sich an seinen eigenen Widersprüchlichkeiten nicht stört, solange das Ziel stimmt – Rassismus: Die AfD möchte, dass «Schüler*innen aus anderen Ländern hier in dieser Kultur ankommen». Denn in «unserem» Kulturkreis gebiete es die Höflichkeit, dass Kopfbedeckungen abgenommen werden, und «kleine Mädchen», die ja hier mit den Eltern nur «Gäste» seien, sollten nicht mit religiösen Symbolen in die Schulklassen kommen. «Integration» sei «eine Bringpflicht», sagt er.

Hier ist die zweite zentrale Strategie des AfD-Populismus angesprochen: Themen groß machen, um sie zu besetzen und mit ihnen Aufruhr zu erzeugen. Populisten docken gern an Themen an, über welche die Gesellschaft streitet. Doch das überlassen sie nicht dem Zufall. Sie suchen sich diese Themen und machen sie dann besonders groß, indem sie sie skandalisieren. Dabei werden Krisen und Katastrophen aufgebauscht, wie die «Flüchtlingskrise» 2015 oder die «Energiekrise» 2023, oder wahlweise eben, je nach Populismus-Logik, wie die Klimakatastrophe verleugnet. Um solche Themen den eigenen Bedürfnissen gemäß zu instrumentalisieren, taugen mit Fake-News unterfütterte Unterstellungen. Obwohl Migration nicht für Armut oder Arbeitslosigkeit weißer Deutscher verantwortlich ist und es in vielen Bereichen einen Mangel an Fachkräften gibt (im Pflegesektor etwa), eignet sich die AfD Themen wie Arbeitslosigkeit und Existenzängste in ihrem Sinne an, um daraus Empörung über die deutsche Migrationspolitik zu schüren. Denn während sich die AfD bei ihrer Agenda, Streitthemen zu identifizieren und aufzubauschen, in einem gewissen Grad flexibel zeigt (solange diese Wähler*innenstimmen einzufahren vermögen), gibt es andere, die zur Grundagenda gehören. Dazu gehört ganz zentral Migration.

Die AfD lebt davon, dass sich die Gesellschaft über die ihr von der AfD angerührten Themen streitet, um selbst als «lachende Dritte» daraus Wahlstimmenprofit zu schlagen. Am Ende geht es darum, wichtige Themen als Probleme darzustellen, die angeblich politisch unlösbar seien – nur um dann zu behaupten, dass allein die AfD dann eben doch Lösungen anzubieten habe. Hier ansetzend, weiß die AfD Politikverdrossenheit ebenso zu instrumentalisieren wie zu säen. Wenn Medien diese Provokationen dann als «News» taugende Einschaltgaranten in jedes Wohnzimmer spülen und andere Politiker*innen auf diese Skandalisierungstaktik aufspringen, geht der Plan umso besser auf.

Das ist ein enorm wichtiger Punkt. Keine noch so inhumane Migrationspolitik könnte die AfD ausbremsen. Selbst wenn nur noch eine geflüchtete Person pro Jahr kommen würde oder gar keine mehr, würde die AfD Migranten als Feindbild in Szene setzen. Und auch wenn es keine BIJPoC mehr in Deutschland gäbe, würde die AfD als rassistische Partei noch immer gegen sie hetzen und deren Vertreibung fordern. Um der AfD Wind aus den Segeln zu nehmen, ist es folglich wirksamer, sich nicht auf die von ihr diktierten Themen einzulassen – also etwa nicht mehr so zu tun, als wäre Migration tatsächlich «die Mutter aller Probleme»; oder wahlweise der Genderstern oder die Ächtung des M-Wortes. Denn dann gäbe es weniger Streitthemen, welche die AfD im Sinne ihres Leitbildes anfeuern kann. Am Ende ist die Erhöhung wirtschaftlicher oder gesundheitlicher Sicherheit, wenn auch für unsere Gesellschaft unabdingbar, auch kein Allheilmittel gegen die AfD. Faschismus ist nicht nur eine Frage des Einkommens, sondern auch der Moral. Und diese fehlt der AfD und ihren Wähler*innen. Am Ende scheinen sich ohnehin viele deswegen nicht an den Paradoxien und Lügen des AfD-Populismus zu stören, weil ihnen die Diskriminierung- und Autokratie-Agenda der AfD zusagt. Und nicht einmal «Populismusverwirrung» oder die eigenen Frustrationen, die ökonomische Lage oder der Wille, es «denen da oben» einmal zu zeigen, sind eine Entlastung für jene, die der AfD folgen und ihr ihre Stimme geben. Am Ende trägt jede Person selbst dafür die Verantwortung, ob sie die AfD wählt oder nicht. Und warum. Jede Person kann und muss selbst entscheiden, was sie weiß oder nicht wissen will – und dafür zu sehen, wofür die AfD eigentlich steht: für Rassismus, Sexismus, völkischen Nationalismus, Gleichschaltung von Medien und Meinungen, autokratische Demokratiefeindlichkeit, Militarisierung und totalitäre Herrschaft.

Die AfD ist keine ostdeutsche Partei

Viele meinen, dass die AfD eine ostdeutsche Partei sei, so wie es die Linkspartei einmal gewesen ist. Die AfD begrüßt diese Erzählung nicht nur. Sie setzt sich auch bewusst so in Szene: als die Partei der Ostdeutschen, als die einzige Partei, die sich für die Ostdeutschen wirklich einsetzt und sie wirklich versteht. Die AfD versucht geradezu, sich in die ostdeutsche Identität einzuschreiben, die Wahl der AfD zum Ausdruck des Ostdeutschseins zu machen. Letztlich aber ist es nicht nur für die AfD förderlich, sie als ostdeutsche Partei zu setzen, sondern auch falsch.

Parteimitbegründerin Frauke Petry kommt aus Dresden. 2017 aber trat sie aus der AfD aus. Von den aktuellen Spitzenpolitiker*innen stammen Maximilian Krah (Listenerster für die Wahl zum EU-Parlament 2024) oder Tino Chrupalla (Bundesvorsitzender) aus der DDR. Doch andere Parteigründer*innen und AfD-Köpfe wie Alexander Gauland, Alice Weidel, Andreas Kalbitz, Bernd Lucke oder Konrad Adam (zum 1.1. 2021 ausgetreten) sind keine Ostdeutschen. Björn Höcke beruft sich gern auf seine Großeltern, um sich «ostpreußisch» zu nennen, wurde allerdings im nordrhein-westfälischen Lünen geboren.

Auch auf der Ebene der zahlenden Mitglieder ist die AfD weit davon entfernt, eine ostdeutsche Partei zu sein. Die Mehrheit der AfD-Mitglieder sind Westdeutsche. Das hat vor allem etwas damit zu tun, dass es insgesamt mehr West- als Ostdeutsche gibt und dass Westdeutsche prinzipiell häufiger als Ostdeutsche Parteimitgliedschaften innehaben. So stehen die vielen westdeutschen Parteimitgliedschaften gegen die These, dass die AfD eine ostdeutsche Partei sei.

Beim Wahlverhalten bei Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen sieht es so aus, dass die AfD generationenübergreifend gewählt wird, ohne dass es einen markanten Unterschied zwischen Männern und Frauen gäbe. In ländlichen Räumen ist die AfD besonders stark. Was die Bundesländer angeht: Die AfD wird umso mehr gewählt, je südlicher und östlicher die Wahlurnen aufgestellt werden. Am schlimmsten aber sieht es tatsächlich in ostdeutschen Bundesländern aus. Die AfD fand und findet in Ostdeutschland noch immer stärkeren Zuspruch als in Westdeutschland. Doch nur weil in ostdeutschen Bundesländern mehr Leute die AfD wählen als in den westdeutschen, heißt das nicht, dass der Westen kein AfD-Problem hätte. Überall fährt die AfD große Stimmengewinne ein.

Bei der Bundestagswahl 2017, welche die AfD zur drittstärksten Kraft im Bundestag machte, erreichte die AfD in den ostdeutschen Bundesländern Zweitstimmenergebnisse um die 20 Prozent. In Bayern, Baden-Württemberg, Berlin, Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland kam sie aber auch auf über 10 Prozent. Seit 2017 ist die AfD auch in allen Landesparlamenten vertreten, wobei sie aber im Mai 2022 wieder aus dem Schleswig-Holsteiner Landtag flog, während sie in Thüringen 2019 mit 24 Prozent stärkste Partei wurde, mit ca. 7 Prozent Vorsprung vor der CDU. Bei den Landtagswahlen 2023 in Bayern bekam die AfD 14,6 Prozent. Dies entspricht einem Zuwachs von «nur» 4,4 Prozent. Jedoch zusammen mit den 15,8 Prozent der Freien Wähler um Hubert Aiwanger, den die Affäre um antisemitische Flugblätter nicht schwächte, sondern stärkte, und den 37 Prozent der CSU war es das rechteste Wahlergebnis seit 1945.

In aktuellen Umfragen bekunden etwa ein Drittel der Ostdeutschen, der Partei ihre Stimme geben zu wollen, was die AfD in Ostdeutschland mit einigem Abstand zur stärksten Partei macht. Damit stimmt Ostdeutschland tendenziell um die 10 Prozentpunkte stärker für die AfD als Westdeutschland. Hinzu kommt, dass fast die Hälfte aller Ostdeutschen eine autoritäre Staatsverfassung für geeigneter hält als die bisherige Demokratie, um anstehende Herausforderungen in den Griff zu bekommen. Ostdeutschland ist ein Brennpunkt der AfD-Präsenz und insbesondere der rechtsextremen Radikalisierung in Deutschland. Dennoch ist es nach wie vor so, dass zwei Drittel der Ostdeutschen die AfD nicht wählen. Aus all diesen Gründen ist es wichtig, die Ursachen für die ostdeutsche Affinität zur AfD in der Spezifik ostdeutscher Sozialisationsmuster zu suchen, ohne dabei den Sonderweg-Song anzustimmen.

Der ostdeutsche Historiker Rainer Eckert meint, dass der Osten die AfD wähle, um den Westen zu verärgern. Den Westen aufgrund seiner Arroganz oder der von ihm ausgeübten Diskriminierung abzulehnen, sei eine ostdeutsche Stimmungslage, in der auch DDR-Erzählungen über den «bösen Westen» nachklingen. Doch die AfD-Affinität der Ostdeutschen auf politikverdrossene Protestwählerei zu reduzieren, heißt, die Brisanz der Stunde zu verkennen.

Dass Demokratie und zivilgesellschaftliches Handeln von der SED-Diktatur unterbunden wurden und viele der älteren Generationen der Ostdeutschen darin entsprechend ungeübter sind als die meisten Westdeutschen, ist ein Pfund, das der AfD ebenso zugute kommt wie der Umstand, dass Ostdeutsche im Reflektieren von Rassismus und Sexismus offiziell verordneten Unterrichtsausfall hatten. Bei der Geburt bekamen Ostdeutsche zwar keinen Reisepass, wohl aber das Attest zugesteckt, per se antifaschistisch zu sein. Weil ihnen eingeredet wurde, dass sie gar nicht rassistisch oder sexistisch sein könnten, hatten sie nicht gelernt, wie solche Reflexionsprozesse individuell zu leisten sind. In diesem Klima konnte während der Revolution und im Einigungsprozess ein nationalistischer Ton angeschlagen werden, der von einer Rückbesinnung auf Volk als «weißes Volk» geprägt war. Ein Beispiel dafür ist, dass BIJPoC auf Demonstrationen gegen die SED-Diktatur darauf aufmerksam gemacht wurden, dass sie von der Parole «Wir sind das Volk» nicht gemeint seien. Angesichts der Tatsache, dass auch sie von der SED-Diktatur befreit wurden, richtete sich solches Ausschließen an die Zukunft. Entsprechend wirkte es sich auch auf die Vereinigung aus. Kohls Wahlkampfstrategie setzte auf «Keine Experimente mehr», was von der Ost-CDU im Wahlkampf 1990 als «Umkehr in die Zukunft» gewendet wurde. Zu dieser Rückbesinnung auf das Alte gehörte es, sich ganz bewusst in die Tradition des «gemeinsamen Volks» zu stellen, in der deutsch zu sein, heißt, weiß zu sein. In diesem Klima wurden antirassistische Transformationen um Jahre oder sogar Jahrzehnte zurückgeworfen. Gleichzeitig erfuhren Ostdeutsche in den Transformationsjahren strukturelle Diskriminierung, wobei Arbeitslosigkeit und Armut ebenso eine zentrale Erfahrung wurden wie eine Ausgrenzung als «Andersdeutsche».

Hier konnte die AfD ansetzen. In den frühen Transformationsjahren wurden ostdeutsche Frustrationsprozesse vor allem von der PDS/Linkspartei gesehen und insbesondere vom Wagenknecht-Flügel rot-national eingefärbt. Jetzt aber tut die AfD so, als würde sie sich dieser Wut annehmen können und wollen. Davon zeugen Aussagen, wie etwa, dass die AfD sozial das Gleiche wolle wie Die Linke, nur eben konsequent an Deutsche (was weiße Deutsche meint) zuerst denke und den Ostdeutschen (weißen Ostdeutschen) eine Stimme geben möchte. Doch dies ist kein offizielles Wahlprogramm, sondern nur eine Lüge, um der Linken ostdeutsche Wähler*innen abzuwerben. Anders als es Die Linke in den 1990ern und 2000ern war, ist die AfD keine ostdeutsche Partei. Ebenso wenig wie die AfD Interessen von Menschen mit geringem Einkommen vertritt, hat sie vor, ostdeutsche Infrastrukturen oder Biografien zu stärken. Doch der völkische Rettungsring mit der Aufschrift «Nur für Weiße» tat seine Wirkung.

Das funktionierte maßgeblich entlang zweier altbekannter Instrumentarien toxischer Macht, mit dem sich die AfD Ostdeutsche einzuverleiben vermag. Erstens: Menschen werden gegeneinander aufgebracht und Ängste geschürt, um sich dann «der Ängste der Menschen» als deren vermeintliches Sprachrohr anzunehmen. Zweitens: das Teile-und-Herrsche-Prinzip. Macht baut immer auf einer Wechselwirkung von Privilegien und Diskriminierung auf. Insofern verschiedene Machtachsen parallel bestehen, kann es passieren, dass Menschen auf der einen Machtachse mit Privilegien ausgestattet sind, aber auf einer anderen diskriminiert werden. Es gibt viele Möglichkeiten, damit umzugehen, diskriminiert zu werden. An den Polen der Möglichkeiten gibt es die konträren Handlungsoptionen, es zu ignorieren oder zu bekämpfen. Bei Letzterem kann ich entweder allein kämpfen oder mich solidarisch mit anderen Diskriminierten zusammentun. Ich kämpfe also nicht nur gegen das, was mich diskriminiert, sondern nutze auch vorhandene Privilegien im Kampf gegen Diskriminierungen, die andere (strukturell gesehen auch durch mich) erfahren.

Eine der Möglichkeiten, die zwischen Ignorieren und Bekämpfen liegt, ist das Teile-und-Herrsche-Prinzip. Aus der Perspektive der Herrschenden werden verschiedene diskriminierte Gruppen gegeneinander ausgespielt. Die einen werden noch mehr als Andere behandelt; die anderen bekommen aber ein paar Brotkrumen mehr. In diesen klebt auch der minimale Handlungsraum, die selbst erlebte Diskriminierung dadurch zu kompensieren, dass sie an andere weitergegeben wird. Auch wenn das die eigene Diskriminierung nicht aufhebt, war es schon immer eine beliebte Strategie, selbst erfahrene Demütigungen und Diskriminierungen in Diskriminierungen von Personen überzuleiten, die noch verletzlicher sind. Dies ist leider ein menschlicher Makel.

Für alle Weißen ist Weißsein ein Ticket, das sie gegenüber anderen etwa sexistisch oder klassistisch diskriminierten Personen ausspielen können. Ein Beispiel: Am Rande eines Cafés in einem teuren Berliner Stadtbezirk spielte ein Roma Violine, bis ein Mann erschien, der eine Obdachlosenzeitung verkaufte. Als er den Roma sah, vertrieb er ihn schreiend mit den Worten, dass dieses Café nur für Weiße sei. Dass ihm diese Selbstverortung als Weißer so leicht über seine Lippen ging, verwunderte mich zunächst. Doch angesichts des so virulenten Rassismus ist es doch evident. Am Ende hat Rassismus dem Verkäufer der Obdachlosenzeitung zwar die Macht gegeben, den Roma mit der Violine zu vertreiben. Eine Zugehörigkeit zur Latte Macchiato-Fraktion aber blieb aus, denn letztlich bildet die gegen ihn auch eine Front. Herrschende laben sich an dem Teile-und-Herrsche und obwohl dieses noch nie ein Problem der Beherrschten löste, halten viele dennoch an dieser Scheinlösung fest. Und genau das spielt der AfD bei ihrer Mobilisierung Ostdeutscher in die Hände.

Seitdem 1989 aus dem «Wir sind das Volk» das nach der Einheit rufende «Wir sind ein Volk» wurde, wurde dieses auch zunehmend völkisch ‹weiß› eingefärbt und in die Formel «Deutschland den Deutschen, Ausländer raus» übersetzt. Solche identitären Prozesse kodierten die «deutsche Nation» völkisch als weißes Hoheitsgebiet. Das war etwa der Boden, auf dem es zu mehrtägigen Angriffen auf Anlaufstellen und Unterkünfte von Geflüchteten und sogenannten DDR-Vertragsarbeiter*innen in Hoyerswerda (September 1991) und Rostock-Lichtenhagen (August 1992) kam. Zwar waren diese schon in der DDR rassistischer Diskriminierung im Arbeits- und Wohnumfeld ausgesetzt. Doch Rostock-Lichtenhagen gilt als massivster rassistischer Anschlag seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges – und die Handschrift der national eingefärbten deutsch-deutschen Vereinigung sowie der ostdeutschen Identitätssuche darin ist nicht von der Hand zu weisen. Dennoch ist es falsch, die Radikalisierung des Rassismus als alleinig ostdeutsches Unterfangen zu setzen. Denn im Mai 1993 wurde etwa auch im nordrhein-westfälischen Solingen (Mai 1993) ein rassistisch motivierter Brandanschlag verübt. Das alles vollzog sich wiederum im gesamteuropäischen Kontext.

Die neuen unabhängigen Staaten in Osteuropa prägten ebenso wie die Neuen Rechten in Frankreich, Italien, Großbritannien und den USA einen Nationalismus, der sich mehr oder weniger nuanciert als weiß und christlich verortet. Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 kam es zu einer neuen Feindlinie, mit der sich der durch die EU-Osterweiterung vergrößerte Westen vom «Feindbild Islam» absetzte. Und während die Kriege im Irak und in Afghanistan ausgefochten wurden, erstarkten der antimuslimische Rassismus und sein Credo, dass «der Islam» weder zu Europa noch zu Deutschland gehöre. So entstand ein Paradox. Ostdeutsche nutzten Rassismus, um Teil «des Westens» zu ein. Dieser aber lagerte in seinem Kernnarrativ – auch der EU-Osterweiterung von 2004 zum Trotz – den Osten ebenfalls aus. Doch auch wenn es Ostdeutsche damit keineswegs auf die obersten Stufen des deutschen Olymps schafften und diese weißen Treppchen letztlich nicht ausreichen, damit das Ostdeutschsein zum Westdeutschsein aufschließen kann, tat und tut es manchen gut, nach unten zu treten und zu versuchen, erfahrene Diskriminierungen durch rassistische Selbsterhöhungen zu kompensieren.

Das habe ich aus einiger Entfernung bei einem sachsen-anhaltinischen Verwandten von mir, ich nenne ihn mal A., beobachten können. Er hat eine kognitive Einschränkung. Einige Jahre ging er in eine Regelschule, wo es jeden Tag Abwertung hagelte. Letztlich stimmten seine Eltern zu, dass er an eine Schule für kognitiv eingeschränkte Schüler*innen kam. Bis dahin hatten das Ost-Schulsystem und sein Elternhaus seinem Selbstwertgefühl bereits heftig zugesetzt. Wirklich wertschätzend war auch der neue schulische Rahmen seit 1990 nicht. 1994 begann A. zu erzählen, dass Männer mit teuren Autos mit Hannoveraner Kennzeichen vor der Schule standen und ihm Komplimente machten. Sie fanden toll, dass er so stark sei, so groß. Sie fuhren ihn in Hochglanzautos durch die Stadt, während sie Nazirock laut aufdrehten. A. machte einen sichtbaren Selbstbewusstseinssprung. Zeitgleich begann A. rassistische und sexistische Parolen zu dreschen. Die xxx (xxx steht für rassistische Wörter) nehmen uns die Arbeit weg, die xxx dürfen hier überall kostenlos wohnen, gestern haben die xxx wieder deutsche Frauen vergewaltigt, und es gab auch transphobe Sätze mit entsprechendem Vokabular: Die xxx gefährden unser Volk. «Volk» aus seinem Mund in dem Kontext hörte sich bereits nach Gewalt an. Auch wie er Deutsche sagte und dass es den Deutschen schlecht gehe, weil die «Ausländer» ihnen alles wegnähmen, war mir immer ein Stich in mein Herz. Am überraschendsten aber war für mich, dass er sich plötzlich als «Weißen» bezeichnete und von der «weißen Rasse» sprach. Das Brainwashing hatte schnell ganze Arbeit geleistet.

Natürlich ist nicht jede*r Schüler*in einer Schule für kognitiv eingeschränkte Personen anfällig für Nazijargon, und auch akademisch ausgebildete Personen stehen in Nazireihen stramm. Dieses Beispiel aber zeigt, dass die Nazi-Rekrutierer*innen zu instrumentalisieren wissen, dass Leute wie A. unter fehlender Wertschätzung leiden. Auch nicht jede Person, der Wertschätzung fehlt, landet bei Nazis. Bei A. aber funktionierte das. Und ich glaube, es funktionierte auch deswegen, weil seine Eltern nicht intervenierten. Den meisten rassistischen oder sexistischen Parolen stimmten sie zu. Nicht im gleichen drastischen Wortlaut. Aber mit einer ähnlichen Stoßrichtung. Hass gegen Migrant*innen, Abscheu gegenüber Rom*nja, Häme gegenüber transgeschlechtlichen Personen. Das bekam ich mit, solange ich noch zu Familienfeiern ging. Ich war selten länger als zehn Minuten im Raum, bis A.s Mutter solche rassistischen Phrasen drosch, versetzt mit rassistischen Wörtern. Ich glaube, es war eine Mischung: Sie wollten mich provozieren, und sie wollten, dass ich ihnen glaube, dass xxx nur stehlen, dreckig seien, kostenlos in Magdeburg-Olvenstedt leben …. Dass in A.s Elternhaus ideologisch gesehen alles andere als eine klare Grenze gezogen wurde, machte es den Nazis aus Hannover nur noch leichter, ihn zu rekrutieren. Ich machte mehrere Versuche, mit A. zu reden. Wollte dem Nazisprech der Autos und Eltern etwas entgegensetzen. An eine Situation erinnere ich mich dabei besonders. Ich redete mit A. über seine neuen Freunde, und er drosch Nazi-Parolen. Dabei benutzte er aber plötzlich nicht mehr das N-Wort, sondern sagte stattdessen «Schwarze». Als ich ihn darauf ansprach, sagte er: «Ja, ich benutze des N-Wort nicht mehr. Du hast mir doch gesagt, dass ich es nicht benutzen soll, weil es rassistisch ist.» Das fand ich so hoffnungsvoll, dass ich mich regelmäßig mit A. traf. Ich nahm ihn sogar zu einem längeren Forschungsaufenthalt ins Ausland mit. Doch bald merkte ich, dass es nicht um Argumente ging. Populismus ist keine Sachdebatte. Populismus ist sehr emotional. Und A. hatte von diesem Honig geleckt. Er schmeckte ihm gut, weil er ihm das Gefühl gab, stark zu sein. Mein «Meckern» über die Nazis fiel stattdessen in die alte Wunde fehlender Wertschätzung. Je mehr ich seine neuen Freunde als manipulativ beschrieb, umso mehr wandte er sich von mir ab. Denn ich drohte ja, das weiß ich heute, genau das zu zerstören, was ihm Aufwind gab. Hätte er mir geglaubt, hätte ihn das sein neues Selbstbewusstsein gekostet.

Zunächst machte er sich wohl über mich lustig. Mitten in der Stadt wohnten wir, als er gehetzt durch die Tür kam. Seine Klamotten waren zerschnitten, seine Haare zerzaust. Ich fragte besorgt, was passiert sei, und er hatte seine Antwort wohl gut eingeprobt: «Hier waren Nazis, die haben mich überfallen und verprügelt.» Ich bedauerte ihn, strich ihm sein Haar glatt und machte ihm einen Kakao. Als mein Mann nach Hause kam, lachte dieser nur. Nazis? Hier? Da hat dich A. ja mal wieder schön reingelegt. Schließlich beendete A. das «Aussteigerexperiment». Als wir durch einen Park liefen, hob er behutsam einen Schmetterling aus dem Gras. Er hielt ihn meinem 3-jährigen Sohn vor die Augen und sagte: «Schau mal, so ein süßer Schmetterling.» Als mein Sohn nickte, holte A. sein Feuerzeug raus und fackelte den Schmetterling ab. Dabei schaute er mir in die Augen. Ich wusste, dass ich ihn verloren hatte.

Bald darauf wurde A. das zweite Mal angezeigt: Beim ersten Mal hatte er versucht, in einem Autohaus einen Wagen zu stehlen. Beim zweiten Mal ging es um schwere Körperverletzung. Er hatte sich an massiver physischer Gewalt gegenüber Schwarzen beteiligt. Er kam für sechs Monate ins Gefängnis und brüstete sich später damit, dort einen wegen Kindesmissbrauchs verurteilten Mann verprügelt zu haben. Ob das stimmte, weiß ich nicht, auch nicht, ob es stimmte, dass er weiter als Schläger durch die Städte Sachsen-Anhalts zog. Ich hatte ja längst aufgehört, mit ihm zu sprechen.

Aus einiger Ferne bekam ich dennoch mit, dass seine Eltern, die es zu Wohlstand gebracht hatten, ihn wiederholte Male mit einem teuren Anwalt vor Gericht rausboxten. Das ermöglichte es ihm, als Nazi-Schläger weiterzumachen. Bei einer solchen Situation wurde er selbst verletzt und musste in die Notaufnahme. Von dort rief er seine Großmutter an, ihm beizustehen. Nach einer Weile kam der behandelnde Arzt. A. aber verweigerte die Behandlung mit den Worten, dass er sich von so einem (rassistisches Wort) nicht behandeln lassen werde. Seine Großmutter war empört und sagte A., dass jetzt auch mal Schluss sei, denn der Arzt habe definitiv mehr im Kopf als er. Das rührte aber ja nur in der Wunde von A. Vor allem aber machte dieser Satz es für den Arzt of Color nur bedingt besser. Wäre denn der rassistische Übergriff auf ihn gerechtfertigt, wenn er nicht schlauer als A. wäre? Die Großmutter mochte nicht, was A. sagte; aber sie hatte keinerlei Ahnung, wie sie Rassismus so widersprechen konnte, dass sie dem Arzt einen wirklichen Schutz hätte bieten können.

Das war das Klima, das die AfD vorfand und ab 2013 zu nutzen und zu manipulieren wusste. Auch A. wurde Mitglied. Seine neuen Freunde erkannten sein Potenzial als Bodyguard und Türsteher. Ist A. jetzt glücklich, zufrieden, angekommen? Nein. Das Geringste ist noch, dass er auch dort in den Hierarchien ganz unten steht. Er ist kein Politiker, er ist «Security». Reden kann er nicht, er soll schlagen. Schwarze auf der Straße. Seine Frau zu Hause schlägt er auch. Dieses Leben aber hat ihn nicht gerettet. Es hat ihn alkoholkrank gemacht und seine inneren Organe zerfetzt. Dass es ihn deswegen womöglich bald nicht mehr geben wird, macht mich traurig, obwohl er ein Nazi ist. Die AfD aber wird sich einfach nur einen neuen Türsteher holen.

Es gibt auch viele andere Weisen, um Ostdeutsche im Singen völkischer Hasslieder auszubilden. Die entsprechenden Texte besingen den Schritt nach vorn in eine glorreiche völkische Vergangenheit. Dabei können sie noch so paradox sein. Was zählt, ist, dass sie populistisch funktionieren. Die AfD sagt den Ostdeutschen, ihr müsst euch eure Rechte erstreiten, und wir, die AfD, sind bereit, diesen Kampf für euch zu führen. Und wir wissen, wie das geht. Und fertig ist der AfD-Schlachtgesang gegen jede Regierung ohne ihre Beteiligung und über Staatsform, «Ethnopluralismus» und Migration, «Regenbogenterror» und Freiheitlichkeit sowie die alte Mär vom «inneren Feind», der heute in Gestalt von Feminist*innen, Homosexuellen und Migranten durchs Land ziehe.

Besonders wirksam ist dabei das bewährte rassistische Prinzip, «Migranten» und «Moslems», als offene Synonyme für alle BIJPoC, als inneren Feind zu inszenieren. Von diesen gehe eine Bedrohung aus, die sich etwa als Terrorismus oder Sexualstraftat äußere. Ökonomisch wird dies als Nassauertum in Szene gesetzt. Mit dem Populismus häufig eigenen paradoxen Einschlag wird etwa behauptet, dass Migrant*innen von Natur aus faul seien und alles (etwa Sozialleistungen) geschenkt bekämen, während sie gleichzeitig «Deutschen» Arbeitsplätze wegnähmen. Beides auf Kosten der Ostdeutschen. Das bisschen Arbeitsmarktchance, Wohlstand oder Anerkennung, welches sich die Ostdeutschen erarbeitet hätten und welches ihnen zustünde, vergäbe die Bundesregierung lieber an Migrant*innen. Das aber würden die Ostdeutschen nicht verdienen. Und zwar, weil sie weiß seien. Entsprechend wird propagiert, dass Ostdeutsche ihre eigene Position als Deutschlands «Andere» nur dadurch überwinden könnten, dass der bundesdeutsche Wohlstand und die Zugehörigkeit zu diesem Land BIJPoC verweigert werde – als ob jeder von einem «Migranten» geräumte Platz dann, aber auch erst dann, von einem Ostdeutschen besetzt werden könnte.

Mal abgesehen davon, dass die AfD darüber lügt, wie schwer Wege von Asylsuchenden zwischen Asylbeantragung, Visumsverlängerung und Arbeitssuche sind und wie oft Geflüchtete in Berufe gezwungen werden, die unter ihrer Qualifizierungsstufe liegen, und deutlich weniger Lohn als Menschen mit einem deutschen Pass bekommen: Wenn die AfD behauptet, dass sie Ostdeutsche dadurch beschützen würde, dass sie Geflüchtete verdrängt, bewegt sie sich genau im ewigen Fluss der scheinheiligen Teile-und-Herrsche-Agenda der Diskriminierenden, ohne an einer echten Problemlösung auch nur interessiert zu sein.

Zwar bietet die rassistische Propaganda der AfD Ostdeutschen ein Ventil, um eigene Diskriminierungserfahrungen in Richtung jener abzulassen, die fragil und strukturell ungeschützt sind. Doch am Ende fühlt sich die eigene Diskriminierungserfahrung dadurch doch nicht weniger stark an, und wahre Verbesserungen bleiben aus. Wirtschaftliche Sorgen lassen sich so nicht lösen. Jobs nicht finden. Und das Gefühl, Westdeutschen unterlegen zu sein, lässt sich so auch nicht überschreiben. Ganz im Gegenteil ist ja die ostdeutsche AfD-Affinität eine neue Trumpf-Karte, die westdeutsche Überlegenheitserzählungen speist.

Die AfD als ein ostdeutsches Problem abzutun, bietet Westdeutschland die Möglichkeit, sich im Sinne der tradierten westdeutschen Überlegenheitsnarrative über Ostdeutsche zu erheben und sich dazu auch berechtigt zu fühlen: «AfD? Ja. Die Ossis sind einfach verzwergt und dumm.» Die besonders Engagierten bieten bestenfalls einen gepflegten Gesprächsrahmen dafür an, dass der Osten sich mal in den Griff bekommen müsse und dass dies dann das AfD-Problem gleich mit löse. Doch wenn Westdeutsche die AfD allein dem Osten anlasten oder gar sagen, der Osten wähle die AfD, weil er demokratieunfähig sei, wird das alte westdeutsche Überlegenheitsnarrativ gegenüber Ostdeutschland bedient, das immer auch verschränkt ist mit Klassenhierarchien (um Bildung und Einkommen). Wenn der Westen es sich auf diese Weise bequem macht, in seiner alten Arroganz, etwas Besseres als der Osten zu sein, hat er das Problem schon wieder nicht verstanden, sondern verschlimmert. Denn die westdeutsche Ostdeutschland-Schelte kommt bei Ostdeutschen als Diskriminierung an. Das bietet der AfD ein bequemes Einfallstor. Denn dass Westdeutsche sich im Sessel zurücklehnen und so tun, als hätte die AfD nichts mit ihnen zu tun, stellt die tradierte westdeutsche Arroganz zur Schau, welche viele Ostdeutsche in die Fänge des AfD-Populismus treibt.

Zudem ist der westdeutsche Fingerzeig gen Osten (ich verurteile jetzt mal gründlich die ostdeutsche Schuld für die AfD, und schon stehe ich auf der richtigen Seite) eine oberflächliche und falsche Analyse, welche die eigentlichen Probleme vernebelt und so den Blick darauf verstellt, wessen es eigentlich bedarf, um die AfD zu bekämpfen: Die AfD erhebt sich aus der Tiefe der Geschichte des Rassismus und Sexismus, welche in Ost wie West fest verwurzelt sind. So wie der Nationalsozialismus aus der Breite der Gesellschaft herausgetragen wurde, auch aus ihrer «Mitte», wird die AfD aus der «Mitte der Gesellschaft» heraus unterstützt. Zwar wurde der ostdeutsche Resonanzraum durch den Umgang der SED-Diktatur mit Freiheit und Demokratie, aber eben auch Rassismus und Sexismus, und durch die ostdeutschen Transformationserfahrungen noch mal nuancenhaft anders geprägt als der westdeutsche. Dennoch gibt es keinen zwangsläufigen Pfad, der von DDR-Prägungen und ostdeutschen Verletzungen zum Kreuzchen bei der blauen Partei führt. So wichtig es einerseits auch ist zu verstehen, warum die AfD es schafft, ebendiese ostdeutschen Verletzungen zu instrumentalisieren und aus ihnen Honig zu saugen bzw. ostdeutsche Erfahrungen in der DDR und den Transformationsjahren den blauen Aufwind katalysatorisch beschleunigen, so falsch ist es andererseits, die AfD als rein ostdeutsche Partei misszuverstehen und ihren Aufstieg zu einem «Die-da-im-Osten-sind-schuld»-Sonderweg zu erklären. Denn obgleich die AfD in Ostdeutschland mehr Wahlstimmen als in Westdeutschland einzusammeln vermag, findet sie nicht nur Zuspruch in den alten Bundesländern, sondern die AfD wird mehrheitlich von Personen aus Westdeutschland gesteuert. Je eher der Westen von seinem hohen Ross herunterkommt, auf dem es angeblich keine AfD-Affinitäten gäbe, desto eher kann damit begonnen werden, den Graben zwischen der AfD und dem restlichen Gesamtdeutschland zu ziehen. Das aber schließt ein anzuerkennen, dass sich viele Ostdeutsche, so wie ich, offen gegen die AfD stellen – und zwar dem Kopfschütteln der Westdeutschen und dem Rechtsruck der «Mitte der Gesellschaft» zum Trotz.

Was macht die «Mitte der Gesellschaft» gegen ihren Rechtsruck?

Im Sommer 2022 wurde ein einjähriges Schwarzes Kind auf der Flaniermeile einer westdeutschen mittelgroßen Stadt von einem Passanten mit dem N-Wort beleidigt. Obwohl das inmitten einer Menschenmenge geschah, griff niemand ein. Der neunjährige Bruder musste dies ganz allein leisten. Die Eltern wandten sich an den Oberbürgermeister (CSU). Er lud zum Gespräch ein. Aus Angst, dass ihr Kind retraumatisiert werden könnte, entschieden sich die Eltern dagegen, selbst hinzugehen. So ging dann stattdessen ich zum Gespräch. Der Bürgermeister drückte sein Bedauern aus, aber auch sein Nicht-Wissen: Dass das N-Wort rassistisch sei, habe er so nicht gewusst. Auch «unsere Stadt» wisse das noch nicht, sagte er. Ich widersprach ihm. Denn der Passant hatte ja in einer gewaltvollen Absicht gehandelt. Er wollte beleidigen und hat dafür gezielt das N-Wort gewählt. Jede anwesende Person hätte das gar nicht anders verstehen können. Und ist es wirklich noch möglich, noch nie davon gehört zu haben, dass das N-Wort rassistisch ist? Das ist ja im besten Fall ein Nicht-Hinhören-Wollen. In jedem Fall macht auch das vermeintliche Nicht-Wissen die Stadt zu einem unsicheren Ort für BIPoC. Denn wer nicht weiß, dass das N-Wort rassistisch ist, wird es weiterverwenden. Deswegen schlug ich dem Bürgermeister vor, sich öffentlich von dem Wort zu distanzieren. Er könne sich etwa auf das Urteil des Neuruppiner Landgerichts (Aktenzeichen 24 Ns 6/09) beziehen, dass das N-Wort als rassistische Beschimpfung einordnete. Und wenn er einmal dabei sei, so könnte er auch noch die Präsenz des M-Wortes in seinem Stadtbild ansprechen. Ich verwies auf die M()hrenapotheke am Marktplatz, die zudem rassistische Masken ins Schaufenster legt. Das empörte den Oberbürgermeister. Seine Empörung aber galt nicht dem M-Wort, sondern der Kritik daran. Die Apotheke könne ja gar nicht mehr in Ruhe arbeiten. Diese Solidarisierung gegen antirassistischen Protest ist nichts Neues. Nachdem der Karnevalsverein seiner Stadt in Bedrängnis geriet, weil er sich 2006, in vermeintlich satirischer Anspielung auf einen rassistischen Übergriff auf einen Schwarzen, «Mohrenwäscher» nannte, entschied die Stadt, dem Verein den städtischen Sozialpreis zu verleihen, der ein besonderes Engagement für Integration und Inklusion würdigen soll.

Willkommen in der «Mitte der Gesellschaft»!

Die «Mitte der Gesellschaft» ist keine objektive Setzung. Es gibt kein objektives Maß für «Mitte». In «Mitte der Gesellschaft» steckt ein Verständnis von Mainstream und Dominanzkultur, das sich als Norm/alität ansieht und als solche glaubt, alles neutral einschätzen zu können. Eine dieser Einschätzungen ist es, dass die Mitte klar gegen Diskriminierung sei, es diese so aber gar nicht mehr gäbe und deswegen auch nichts gegen diese getan werden müsse. Zuweilen wird in diesem Zusammenhang auf die Erfolge der Anti-Diskriminierungsarbeit verwiesen: Es wurde viel erreicht, aber jetzt sei alles ok und es müsse nun auch mal Schluss sein. Dabei kann sehr viel ausgeblendet werden. Nicht aber die Attentate von Rostock-Lichtenhagen und Solingen, der NSU-Terrorismus, die Attentate von Hanau und Halle. Deswegen machen viele bei der Behauptung, dass es gar keine Diskriminierung (mehr) gäbe, auch den Disclaimer, dass es am Rande der Gesellschaft wohl schon noch Diskriminierung gäbe. Etwa in der AfD, in Ostdeutschland. Nach dem Motto: «Die dort, die im Osten, die sind rassistisch, und die AfD, die ist rassistisch. Ich aber, ich bin westdeutsch, und ich bin gegen die AfD, also kann ich ja nicht rassistisch oder sexistisch sein. Und weil ich weder rassistisch noch sexistisch bin, bin ich gegen die AfD.» In dieser tautologischen Dauerschleife wird die AfD als ein Problem der anderen (der Ostdeutschen) erklärt. Diese müssten etwas ändern. «Wo die noch hinmüssen, bin ich schon längst.»

Aus der Behauptung, dass es eigentlich keine Diskriminierung jenseits der AfD gäbe und entsprechend auch nichts mehr zu tun sei, ergibt sich zwangsläufig, dass die «Mitte der Gesellschaft» strukturelle Diskriminierung leugnen muss. Dazu werden verschiedene Geschütze aufgefahren. Ein bewährtes Mittel ist es, diskriminierte Personen für ihre negativen Erfahrungen selbst verantwortlich zu machen. Oder Diskriminierungen als Einzelfälle abzutun oder die Frage in den Raum zu stellen, ob die Betroffenen sich ihre Diskriminierung nicht bloß einbilden würden. Das wird auch Gaslighting genannt. Entsprechend wird Diskriminierungskritiker*innen unterstellt, aus einem «hypersensiblen» «moralischen Überschuss» heraus Meinungsmache zu betreiben. Und von da ist es dann gar nicht mehr so weit bis zu Schlagworten von «Woke» bis zum «Regenbogenterror» oder dem Vorwurf, dass Diskriminierungskritik die Gesellschaft spalte. Bayerns alter und neuer Ministerpräsident Markus Söder brachte dieses Argument im Dezember 2023 in seiner Begründung dafür vor, dass seine Regierung (CDU/Freie Wähler) geschlechtergerechte Sprache in Schulen und Behörden verbieten werde.

So wie Söder ernennt sich die selbst erklärte «Mitte der Gesellschaft» zur Norm, wodurch die eigenen Werte zum Maß aller Dinge werden – und die vermeintliche Neutralität zum vermeintlichen Garanten von Stabilität: da die «rechten Populisten», dort die «pc-Gefährder». Das ist es, was die Mitte mit «Kulturkampf» meint. Da sind zwei Lager, die sich bekämpfen, während die Mitte doch nur Frieden wolle. Doch wie friedlich ist das wirklich? Söders Wunsch, geschlechtergerechte Sprache zu verbieten, ist ja nur scheinbar friedlich. Schon allein sich nicht zu Diskriminierung positionieren zu wollen, lässt diese (und eine Partei, die für diese kämpft) in Frieden walten. Doch genau das zwingt andere, Gesicht zu zeigen. Nicht für irgendeine kulturelle Finesse, sondern für die Grundwerte des Grundgesetzes, auf das sich die Mitte zwar beruft, welche sie dann aber doch durch ihre Neutralität verrät, der am Status Quo nicht rütteln will. Denn ob wir das nun wollen oder nicht: so wie die «Mitte der Gesellschaft» gerade Debatten zu «Kulturkampf» führt, fragt sie, ob Diskriminierung überhaupt thematisiert werden soll, um dies zu verneinen.

Damit steht die Neutralität der Mitte für einen Konservatismus, der in den Worten der Islamwissenschaftlerin und Ethnologin Susanne Schröter Folgendes will: «Konservativ heißt für mich, angesichts dieser Zustände einer aus dem Ruder gelaufenen partikularen Einzelinteressenorientierung eine Rückbesinnung auf universelle Werte und individuelle Freiheitsrechte unabhängig von Hautfarbe, Alter, Geschlecht, Religion und anderen sekundären Zuschreibungen.» In ihrem «unabhängig von …» steckt die Aussage, dass Kritik an Rassismus oder anderen Diskriminierungsformen nur eine Minderheit betreffe. Als ich im September 2022 im Rahmen der Weimarer Kontroversen «Geschlechtergerechte Sprache» mit Susanne Schröter darüber diskutierte, nahm sie für sich in Anspruch, Fürsprecherin der überforderten Mehrheit (will sagen: «Mitte der Gesellschaft») und Universalistin zu sein – während sie mich aus dieser «Mitte» hinauswarf. Sie nannte mich eine «neotribalistische Partikularistin», welche die Gesellschaft spalte. Doch ist Spaltung nicht das, worum es Diskriminierung geht und wogegen Diskriminierungskritik sich wendet? Und muss sich nicht der Frieden einer Gesellschaft daran messen lassen, ob es den auch für alle gibt und ob eine Gesellschaft sogenannten Minderheiten sichere Räume zu bieten vermag? Auf das Argument selbst ging Schröter nicht ein. Sie wies es brüsk zurück: «Ich finde das unlauter. Wer Ihre Ideologie nicht frisst, ist Nazi», sagte sie, und bezeichnete mich als «totalitär».

Ich habe den Eindruck, dass solche Angriffe in den letzten Jahren noch schlimmer geworden sind. Es gab eine Zeit, da konnte ich relativ problemlos sagen, dass ich vegan lebe. Heute werde ich daraufhin immer häufiger verbal angegangen, manchmal sogar angeschrien: «Ich lasse mir von dir nicht nehmen, dass ich gern Fleisch esse.» Das allerdings liegt mir fern. Wieso fühlen sich Menschen durch meine Entscheidung angegriffen? Warum fühlen sie sich sogar so stark provoziert, dass sie mir am liebsten vorschreiben möchten, dass ich Fleisch zu essen habe? Dasselbe begegnet mir bei meinem Kampf gegen Rassismus und Sexismus. Warum empört es Menschen, dass ich gegen Diskriminierung eintrete? Auch wenn viele glauben, dass ich mich gegen Rassismus und Sexismus stelle, um mich woke und toll zu fühlen: Diskriminierung zu bekämpfen ist kein Zuckerschlecken. Kämpfe ich gegen eine Diskriminierungsform, die mich selbst verletzt, muss ich den Schmerz zulassen und anschauen. Kämpfe ich gegen eine Diskriminierungsform, in der ich privilegiert bin, muss ich meiner Verantwortung für das Übel der Welt ins Auge sehen. Das schließt of ein, Vertrautes aufzugeben. Das anzuerkennen, macht es erforderlich, die eigene Komfortzone zu verlassen. Auch deswegen fällt es den meisten schwer, über Diskriminierung zu sprechen. Weil sie dann auch über sich sprechen müssten. Das ist ein enorm emotionaler Prozess. Wohl auch deswegen geht es vielen leichter über die Lippen, darüber zu sprechen, selbst durch Diskriminierung geschädigt worden zu sein – statt sich einzugestehen, selbst zu diskriminieren (obwohl doch niemand diskriminiert werden möchte). Wer aber bereit ist, über Diskriminierung (auch die selbst verursachte) zu sprechen, rüttelt immer auch an gegebenen Zuständen und Komfortzonen anderer. Ohne Konflikte, die wertvolle Beziehungsstrukturen zu belasten oder zu zerschneiden vermögen, ist das nicht zu haben. Das erzeugt Unbehagen, für das ich Verständnis habe.

Doch um «des lieben Friedens willen» nichts zu tun, führt bestenfalls nur zu einem Scheinfrieden. Umgekehrt kann Kritik nerven, aber auch Berge versetzen. Deswegen fehlt mir das Verständnis dafür, wenn Personen ihre Komfortzone dadurch verteidigen, dass sie Diskriminierungskritiker*innen persönlich anfeinden. Und genau das erlebe ich immer wieder.

Meine Arbeit wird als ideologisch bewertet und entsprechend sabotiert. Das wird emotional, gereizt und aggressiv getan, wobei mir zugleich fehlende Sachlichkeit vorgeworfen wird. Ich werde auch aufgefordert zu kündigen, weil ich Steuergelder verschwenden würde. Mir wird besorgt angeraten, in die Psychiatrie zu gehen, weil ich nicht mehr «Herr» meiner Sinne sei. Ich werde darauf hingewiesen, dass ich furchtbar dumm sei. Ich werde aufgefordert, mich zu töten oder bedroht, getötet zu werden. Dies ist das Klima, aus dem heraus die Mitte der Gesellschaft nicht nur Diskriminierung als gesamtgesellschaftliches Problem verleugnet und unangetastet lässt, sondern sich zudem mehr über Anti-Diskriminierungsarbeit als über Diskriminierung selbst aufregt.

Das alles nehme ich als Rechtsruck der Gesellschaft wahr, der immer weiter zu eskalieren scheint. Zwar findet dieser seinen stärksten und gefährlichsten Ausdruck in dem steigenden Zuspruch zur AfD. Doch die Mitte der Gesellschaft rückt ebenfalls nach rechts. Das haben Andreas Zick, Beate Küpper und Nico Mokros in ihrem Buch Die distanzierte Mitte (2023) auf der Basis empirischer Erhebungen beschrieben. Ich weiß nicht, ob der Rechtsruck der Gesellschaft die AfD hat groß werden lassen oder ob die Wahlerfolge der AfD rechtsextreme Positionen als neue Normalität in bundesdeutsche Parlamente einziehen lassen und dadurch die bundesdeutsche Demokratie und Gesellschaft sowie deren Debatten und Gesprächskultur nach rechts katapultieren. Ich denke, beides läuft Hand in Hand. Das aber stärkt, so oder so, die AfD. Und Diskriminierung im Allgemeinen. Denn jede vermeintlich neutrale Nicht-Positionierung zu Diskriminierung bremst durch das Festhalten am Status Quo Debatten und Transformationsprozesse aus, die eigentlich geleistet werden müssen. Das soll das folgende Beispiel zeigen.

Eva Inés Obergfell, Rektorin der Universität Leipzig, hatte zur feierlichen Immatrikulation der neuen Studierenden ihrer Universität am 11. Oktober 2023 auch AfD-Politiker*innen eingeladen. Dazu sei sie aufgrund «parteipolitischer Neutralität» verpflichtet. Aber macht es nicht einen Unterschied, ob jemand von der SPD geladen ist oder vom rechtsextremen Höcke-Flügel, der vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistische Bewegung eingestuft ist? Roland Ulbrich ist einer von ihnen. Das versuchte rechtsextreme Massaker an Juden*Jüdinnen in Halle im Jahr 2019 hatte er als «Sachbeschädigung» bezeichnet und gefragt: «Was ist schlimmer, eine beschädigte Synagogentür oder zwei getötete Deutsche?» Obergfell behauptete zwar, die Hochschulleitung habe neutral ausschließlich anhand von einschlägigen Ämtern eingeladen. Doch nicht mal das stimmt. Denn Roland Ulbrich gehört weder zur Fraktionsspitze, noch ist er Ausschussvorsitzender von irgendetwas. Er ist einfach nur eines von vielen (u.a. 6 AfD-Politiker*innen) Mitgliedern des Ausschusses für Inneres und Sport, nicht mal des Ausschusses für Wissenschaft, Hochschule, Medien, Kultur und Tourismus.

Weil die Leipziger Hochschulleitung es versäumte, eine Brandmauer zur AfD zu errichten, mussten andere dies leisten. Die Vertrauensdozent*innen der Hans-Böckler-Stiftung verlegten ihre Tagung vom Campus in ein Leipziger Hotel, nachdem sie durch Proteste von Studierenden auf diese gefallene Brandmauer aufmerksam wurden. Die von diesen organisierte Demonstration aber wurde angefeindet.

Einer der Passanten sagte mir: «Von wegen Demokratie. Die ist längst gescheitert. Sonst würden ja diese Hippies hier nicht die Ruhe stören und unser Gewandhaus entehren.» Der Leipziger im Rentenalter sah sich also als «Mitte der Gesellschaft» – und er schloss alle, die gegen die AfD demonstrierten, davon aus. Als ich ihm das sagte, schaute er kurz bedächtig. Dann sagte er: «Ich will doch mit den Rechten auch nichts zu tun haben. Das hatte ich ja beides schon, die Braunen und die Roten.»

Letztlich aber nahm auch die AfD für sich in Anspruch, nicht Rechts, sondern Mitte zu sein. Auf der Webseite kommentierte die AfD die Demonstration gegen ihre Präsenz bei der Immatrikulationsfeier wie folgt: «Während der Veranstaltung im Gewandhaus geiferten Linksextremisten auf dem Augustusplatz gegen Vertreter einer demokratisch gewählten Partei, was einen Mangel an Bildung zeigt, sofern eine solche überhaupt bei ihnen vorhanden ist… Überflüssigerweise überließ die Rektorin der Universität einigen Störern kurzzeitig die Bühne.» Der Protest hätte sich einem demokratiefeindlichen «Kampf» gegen ein ominöses «Rechts» verschrieben.

Das also wurde aus Obergfells «parteipolitischer Neutralität». Eine Stadtgesellschaft, die sich streitet, und eine AfD, die daraus als lachende Dritte hervorgeht und sich als Mitte inszeniert, aus der eine friedliche Demonstration gegen sie ausgelagert gehöre. Am Ende also war das, was Obergfell als fehlende politische Einmischung ansah, genau das. Eine politische Entscheidung, die zur Stärkung der AfD führte.

Angesichts der Tatsache, dass Rassismus innerhalb der EU in Deutschland am massivsten ausgeprägt ist, wobei dies sogar eine seit fünf Jahre steigende Tendenz ist, kann für mich «Mitte der Gesellschaft» nicht heißen, sich im Sinne von «Neutralität» herauszuhalten. Schon gar nicht verdient die «Mitte der Gesellschaft» diese Position, wenn sie sich nicht gegen Rechts abgrenzt. Warum sollte es «typisch» für die «Mitte der Gesellschaft» sein, rassistische Worte zu beschützen oder sich lauter über den Genderstern als über Sexismus aufzuregen? Der von Söder viel zitierte «gesunde Menschenverstand» gebietet es ihm, den Genderstern zu verbieten, und ein Ingolstädter Wirt dachte sich 1992, dass er als «Mitte» jetzt dem linken Terror mal damit einen Strich durch die Rechnung machen müsse, dass er sein Café kurzerhand in «Cafe M()renkopf» umbenennt. Wer Interventionen gegen Diskriminierung bekämpft und diesen «Cancel Culture», Moralismus oder Partikularismus vorwirft, leistet nicht das, was die Mitte ausmachen muss: klare Abgrenzung zur AfD sowie von deren Inhalten und Parolen.

Das soll auf keinen Fall heißen, dass alle ab morgen den Genderstern benutzen sollen. Denn natürlich müssen Kontroversen zu Fragen von Geschlechtergerechtigkeit oder Rassismuskritik offen und plural geführt werden. Aus meiner Sicht müssen freiheitliche Gesellschaften aber auch kritische Stimmen aushalten, die Alltagsrassismus und Sexismus anprangern, auch wenn sie sich nicht mit der eigenen Überzeugung decken. Denn Diskriminierungsfreiheit darf kein Schreckgespenst der «Freien Welt» sein, sondern muss deren Elixier werden.

Deswegen wäre schon mal viel gewonnen, wenn sich alle weniger aufregen. Ich schließe mich da unbedingt mit ein. Ich will das ja auch gar nicht. Mich aufregen. Mich empören. Denn ich weiß, dass dies meinem Anliegen, Diskriminierung zu schwächen, schadet. Ich möchte vermeiden, dass meine Argumente einfach vom Tisch gefegt werden, weil ich zu emotional bin, was für viele meist gleichbedeutend ist mit unsachlich, unwissend und unbedingt nicht ernst zu nehmen. Ideologisch eben. Deswegen wünsche ich, dass es mehr Raum dafür gibt, Diskriminierung in gebotener Ruhe in den Weg zu treten.

Es ist kurz vor 12 und höchste Zeit, sich den Zielen der AfD so umfassend wie möglich zu widersetzen. Wer mit Nazis nichts zu tun haben möchte, muss das auch deutlich machen. Unmissverständlich. Das schließt ein, nicht auf jene zu schießen, welche Anti-Diskriminierungsarbeit leisten. Denn umgekehrt feuert jede Häme gegen Anti-Diskriminierungsarbeit die AfD-Propaganda an und liefert ihrer rassistischen und sexistischen Hetze Steilvorlagen, weil Populismus gut darin ist, jede Skandalisierung von Kritik an Diskriminierung so zu drehen, dass diese ihm Wind in die Segel pustet. Es gibt nur das Entweder-Oder. Entweder der AfD eine breite Schulter zum Anlehnen bieten oder ihr die kalte Schulter zeigen, was ohne sichtbare Distanz nicht geht. Die Zeit für entspanntes Beiseitestehen ist vorbei. Wir brauchen eine breite Front, um für Demokratie und Freiheit einzustehen.

Ich bin davon überzeugt, dass die anstehenden Wahlen nicht nur von (potenziellen) AfD-Wähler*innen entschieden werden. Entscheidend wird sein, wie sich die «Mitte der Gesellschaft» verhält. Dabei geht es um die Gretchenfrage: Stimmenfang am rechten Rand oder Brandmauern – Brücken oder Gräben, Neutralität oder Einmischung? Deswegen kämpfe ich vor allem darum, dass die «Mitte der Gesellschaft» sich von ihrem Rechtsruck befreit, der Normalisierung der AfD Brandmauern in den Weg stellt und sich aktiv in die Schwächung statt Stärkung von AfD-Positionen und Diskriminierung einbringt.