Epilog
Einige Wochen nach meinem Besuch auf dem Berry Hill veranlasst eine Virusinfektion – ein gemeiner Schnupfen – mein Immunsystem zu einer Überreaktion und löst einen erneuten Rheumaschub aus. Als die Schmerzen nachlassen, setzt die Erschöpfung ein. Ich kann nicht einmal mehr zum Meerglasstrand bei unserem Haus laufen. Termine in einer Rheumaklinik sind seit Beginn der Pandemie nicht mehr möglich. Unser Hausarzt bricht zu neuen Ufern auf, und seine stetig wechselnden Nachfolger bieten keinen echten Ersatz für ihn, der mit seiner engagierten empathischen Art immer für seine Patienten da war. Mein Mann merkt, wie meine Stimmung in den Keller rutscht, und bietet an, mich zu einem Strand namens Sand zu fahren, neben dem man direkt parken kann. Wir warten, bis die Kinder in den Schulbus gestiegen sind, und fahren los. Noch ist die Sonne nicht über den Hügelkamm gekommen, doch der Himmel wird zusehends heller. Ein leichter Wind kräuselt das Meer.
In Sand parken wir unterhalb eines Herrenhauses, für dessen Bau auch Steine von Scalloway Castle verwendet wurden. Das hohe Gebäude mit seinen wenigen Fenstern thront über dem Strand. Auf einer Informationstafel kann man lesen, dass hier 1899 um die siebzig Grindwale abgeschlachtet wurden. Heute, so heißt es weiter, sei hier eine der besten Stellen von Shetland, um Schweinswale zu beobachten.
In der Bucht ist jedoch keine Rückenflosse zu sehen, obwohl der Wind nur schwach weht und die Wellen klein sind. Eine Schar Eisenten schwimmt in Landnähe auf dem Wasser, weiter draußen entdecke ich einen einzelnen Eistaucher. Die Sonne ist schon fast über die niedrige Halbinsel Foraness gestiegen. Auf den Zaunpfählen über dem Strand sitzt jeweils ein Rabe. Sie wachen über den Körper eines toten Mutterschafs, das auf dem Seetang liegt. Bei einem Sturm brach vor Kurzem ein Stück der Uferböschung weg, ein Teil des Zauns stürzte in die Tiefe und liegt nun in einem Durcheinander aus Draht und frischer Erde.
Der Neumond ließ die Flut hoch ansteigen. Gerade hat Ebbe eingesetzt. Der Spülsaum ist noch nass und liegt erhöht auf einem Kieshang. Er wirkt üppig und vielversprechend, der Knotentang hängt voll mit Entenmuscheln und Plastikteilen. Schon nach wenigen Minuten habe ich ein rotes Hummerfallen-Etikett aus Maine gefunden.
Ein Bach fließt über die Kieselsteine hinunter zum Meer. Wir folgen seinem Lauf stromaufwärts und stoßen auf niedrige Erdwälle, die mit Plastikfragmenten übersät sind. Mein Mann entdeckt eine winzige blaue Plastikblume, doch dann übertrumpfe ich ihn mit dem Fund einer Spielzeuggurke. Im Sumpfland hinterm Strand schwimmt ein Otter durch eine Wasserrinne, vorbei an einem Floß aus leeren Motorölkanistern.
Zurück am Strand lasse ich den Wirbel eines kleinen Wals zwischen den Kieseln liegen, nehme aber die glänzende Eikapsel eines Fleckenrochens und einige Stücke Meerglas in verschiedenen Kornblumen- und Kobaltblautönen mit. Ich bin mit meinen Funden sehr zufrieden. Die Sonne geht über Foraness auf, und wir bleiben stehen und schauen. Das reicht schon für mich – die Sonne und der Geruch des Meeres, mein Mann neben mir, meine Hand gewärmt von seiner Hand. Meine Melancholie löst sich auf, wie wenn die Sonne auf Nebel trifft und sich der haar langsam lichtet.
Es ist kalt, und wir kehren um, Richtung Auto. Aus reiner Gewohnheit werfe ich einen letzten Blick auf den Spülsaum. Und da ist sie, zwischen den Kieseln liegt eine Seebohne, noch nass und golden glänzend im Licht der Morgensonne. Meine Hände zittern ein bisschen, als ich mich hinunterbeuge und sie aufhebe. Ich halte sie hoch über meinen Kopf und drehe mich zum Meer. Ich danke dem Strand und dem Meer. Mein Mann führt einen kleinen Freudentanz auf. Ich muss lachen, als ich ihn so sehe.
Auf der Heimfahrt halte ich die Seebohne in der Hand und spüre, wie sie durch die Wärme meines Blutes langsam wärmer wird. Ich zeige sie den Kindern, als sie von der Schule kommen, und wir schütteln sie nacheinander und lauschen auf das Klappern, das zeigt, dass sie nicht mehr keimfähig ist. Sie würde nicht wachsen, selbst wenn wir sie gut pflegen und an einen warmen Ort stellen würden.
Ich lege meine Seebohne ins Regal, neben das Schulterblatt einer Robbe, einen Papageientaucherschädel, drei Feuerzeuge aus Grönland, eines aus Island und die Eikapsel eines Nagelrochens. Auf dem Brett darunter stehen große Gläser, in denen früher Kaffee war und in denen ich heute meine Strandfunde aufbewahre. Ein Glas für Nólsoy, ein Glas für Sanday, ein Glas für Foula, ein Glas für die Out Skerries und ein Glas für die Vee Skerries. Und dann noch ein ganz besonderer Schatz, ein Glas mit den schönsten Meerglasstücken und Tonscherben, die wir vier zusammen an unserem Heimatstrand gesammelt haben.
In meinem Bücherregel steht ein Gedichtband von Lydia Harris. Die Gedichte darin sind eine Hommage an ihre Heimat, die Orkney-Insel Westray. Das Buch trägt den Titel Objects for Private Devotion. Wenn ich von meinem Schreibtisch auf meine Sammlung mit Strandfunden blicke, einige natürlichen Ursprungs, andere aus Plastik, kommt mir häufig diese Formulierung in den Sinn. Manchmal denke ich, dass auch das Strandgutsammeln eine Art Andacht ist – eine Andacht an das Leben und alles, was es bedeuten kann.
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Meine Seebohne liegt immer noch im Regal. Sie behält ihre Geheimnisse für sich. Ich werde nie erfahren, wo sie wuchs oder wie lange sie auf ihrer Reise zu den Shetland-Inseln unterwegs war. Zuerst bin ich ein bisschen enttäuscht, dass sie sich nicht sofort wie ein Amulett anfühlt. Es ist nicht so, dass sich etwas spürbar verändert hätte. Ich spüre keine magische Kraft, wenn ich meine Seebohne in der Hand halte, es gibt auch keinen kleinen Stromschlag; weder Wärme oder Energie strömen durch meine Haut. Doch von Zeit zu Zeit nehme ich meine Seebohne in die Hand, um meine Ängste zu erden oder um Mut zu bitten, wenn meine Nerven mich im Stich lassen. Ich schaue zu ihr und denke an die Worte des verstorbenen Amos Wood, eines Strandgutsammlers von der US-amerikanischen Pazifikküste: »Beim Beachcombing geht es nicht um das, was man findet, sondern um das, was man zu finden hofft.«
Ich bin stets mit der Hoffnung aufgebrochen, eine Seebohne zu finden. Diese Hoffnung brachte mich dazu, bei jedem Wetter hinauszugehen, auch an Tagen, an denen ich nur mühsam vorankam. Ich musste viele Jahre lang suchen, bevor ich meine eigene Seebohne fand, doch in dieser Zeit fand ich wieder zu mir selbst zurück.
Ich schmiede bereits Pläne, an den Strand von West Sandwick mit seinem Glimmersand zurückzukehren, an einem sonnigen Sommertag. Dort werde ich zusammen mit meiner Familie im Meer schwimmen, und wenn ich aus dem Wasser komme, werden meine nassen Glieder golden glänzen.